Jaul
Eigentlich wollte ich nach dem völlig verunglückten und politisch mindestens eigenwilligen „Geronimo“ (2016) keinen Roman von Leon de Winter mehr anfassen – eine Entscheidung, die mir der Autor dadurch erleichterte, dass er einfach keinen mehr vorlegte, bis jetzt. Leute, auf deren Meinung ich etwas gebe, lobten das neue Buch, und auch das Feuilleton fand viel Positives. Vielleicht, dachte ich, war meine Entscheidung falsch, mindestens voreilig, außerdem ist das Leben mit Flexibilität leichter zu ertragen.
Es fängt schnittig an und bleibt vorläufig auch so. De Winter erzählt in einem angenehm knappen, präzisen Stil von Jaap Hollander, einem niederländischen Neurochirurgen in den späten Sechzigern, der seine Ehe vergurkt und viele Affären gehabt hat, bei denen, rückblickend betrachtet, möglicherweise seine Machtposition im Krankenhaus eine größere Rolle spielte als seine körperliche Attraktivität, obwohl er immer mit Al Pacino verglichen wurde, bis dann die Haare ausfielen und der Körper an Straffheit verlor. Was nicht nur mit dem Alter, sondern auch und vor allem mit dem Verschwinden von Lea zu tun hatte, der Tochter, die zehn Jahre vor Beginn der Romanhandlung in der Negev-Wüste verschollen ist, wo sie auf der Suche nach ihren jüdischen Wurzeln war, die für Hollander selbst nie eine Bedeutung hatten. Seit ihrem Verschwinden fährt er jedes Jahr für ein paar Wochen dorthin, um Spuren zu suchen, um eine Antwort zu erhalten, aber statt dieser bekommt er ein krasses Angebot: Der saudische Herrscher benötigt Jaaps Fähigkeiten als brillanter Chirurg, denn die Prinzessin, die irgendwann auf den Thron steigen und das archaische Reich endlich reformieren soll, hat tief im Gehirn eine Wucherung, die sich kein Chirurg der Welt zu operieren traut. Jaap zögert erst und sagt dann zu, denn das märchenhafte Salär könnte genutzt werden, um noch intensiver nach der Tochter zu suchen.
Ungefähr bis zu diesem Punkt und damit bis zur Operation der Prinzessin bleibt „Stadt der Hunde“ (gemeint ist Tel Aviv, aber der Titel ist natürlich auch eine Metapher) gleichsam fluffig und sehr gut lesbar. Die letzten beiden Fünftel des Romans erweckten bei mir allerdings den Eindruck, dass de Winter einfach keine Idee mehr hatte, wie er die vielen Motive – vom Altern über die Esoterik bis zum Patriarchat – zu einer schlüssigen Handlung verbinden konnte. Stattdessen begann er zu tricksen, und das leider nicht gut. Die Geschichte verliert sich, die Fäden flattern, das Ende ist offen, Antworten werden bestenfalls angedeutet. Das liest sich, als hätte de Winter nach Jahren noch einmal ein älteres, eigentlich recht gutes Manuskriptfragment in die Finger bekommen und irgendwie beendet. Möglicherweise aber liegt das auch an mir und ich verstehe das Offensichtliche nicht; so etwas passiert nicht selten.
Über weite Strecken zeigt der Schriftsteller, der mit „Hoffmanns Hunger“, „Leo Kaplan“, „Place de la Bastille“, aber auch „Malibu“ (einer der besten Romananfänge, die ich je gelesen habe) unter Beweis gestellt hat, zu den besten zeitgenössischen Autoren zu gehören, noch seine frühere Brillanz, aber unterm Strich fühlt sich „Stadt der Hunde“ etwas leer und irgendwie nüchtern an, fehlt es der Geschichte vor allem im letzten Drittel an Dramaturgie und Substanz, und auch die investierte Erzählkunst lässt nach. Doch ich bereue es trotzdem nicht, meinem Schwur zuwidergehandelt zu haben, denn was dieser Roman mindestens geschafft hat, war, mich daran zu erinnern, warum ich de Winter früher so verehrt habe.
(Es sind dreieinhalb Sterne, auf vier aufgerundet)
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ASIN/ISBN: B0CW1JHPY6 |