Émile Zola: Nana (Roman)

  • „Nana“, erschienen 1880, war der neunte Roman in dem aus insgesamt zwanzig Werken bestehenden Zyklus „Les Rougon-Macquart“. Zola wollte darin „die Natur- und Sozialgeschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich“ (so der übersetzte Untertitel) liefern und zeigen, wie Milieu und Vererbung die Biografien entscheidend prägen. „Nana“ gehört zu den erfolgreichsten Teilen des Gesamtwerks. Es ist die Geschichte vom Aufstieg und Ende einer Kurtisane im Zeitraum von 1867 – 1870. Nana kommt aus der untersten Gesellschaftsschicht, ihre Vorgeschichte ist im siebten Teil des Zyklus erzählt („Der Totschläger“). Im neunten ist sie zu Beginn erst achtzehn Jahre alt und verkörpert schon voll ausgebildet den in Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts so beliebten Typ der Femme fatale. Dieses Klischee wird mit großer Konsequenz bedient. Nana ist eine hochattraktive Erotomanin, der die Männerwelt fast ausnahmslos verfällt und sich im Umgang mit ihr materiell und physisch ruiniert. Schließlich dreht sich ganz Paris nur noch um sie, so scheint es. Ihre Rolle ist, wie der Erzähler selbst ausführt, die einer goldenen Fliege, die aus dem Kot aufsteigt und die degenerierten Vertreter der oberen Schichten mit Todbringendem infiziert. Sie soll so die Rache der generationenlang Geknechteten exekutieren.


    Die Figur der Nana ist zwar mit vielen Details ausgestattet und Zola lässt sie mit ihrer Entwicklung und ihren Launen gut sichtbar werden, doch ist sie nicht vollkommen überzeugend. Sie wirkt oft reifer und erfahrener, als sie bei ihrem Alter und ihrer niedrigen Herkunft sein kann, und äußert sich gelegentlich zu differenziert für eine so junge Frau aus der Gosse. Auf der anderen Seite wird sie vom Erzähler im äußeren Ablauf wie ein mechanisches Spielzeug behandelt, dessen Funktionieren allein die Theorie vom goldenen, todbringenden Insekt zu untermauern hat. Dabei schreitet die Handlung unbarmherzig voran, konsequent von Steigerung zu Steigerung, bündelt die Zufälle, türmt Katastrophen übereinander. Inwiefern Nana dabei die Vollstreckerin einer historischen Entwicklung sein soll, wird aus dem Romantext dennoch nicht ersichtlich. Vielleicht liegt es am Hauptwiderspruch im Werk: Nana verkörpert dämonisiert einen zeitlosen Frauentyp (oder dessen Mythos) und soll zugleich aus ihrer individuellen sozialen Entwicklungsgeschichte heraus ein kollektives Verdammungsurteil begründen.


    Wer zählt die allzu vielen Figuren des Romans, all die Kokotten und Lebemänner, Schauspieler und Dienstleute? Zola hat selbst einmal die Zahl hundert genannt. Nana hat die einzige wirkliche Hauptrolle und ihr zugeordnet sind allein an Hauptnebenfiguren zwei bis drei Dutzend Gestalten, zu viele für ein Werk von ca. 500 Seiten. Aus dieser Masse werden in immer neuer Zusammenstellung an unterschiedlichen Orten Gruppen gebildet, sie wirbeln durcheinander, verschwinden bis zu einem späteren kurzen Auftritt. Jedem sind nur wenige charakteristische Züge verliehen, die leitmotivisch eingesetzt werden. So entstehen, einmal abgesehen vom Grafen Muffat, kaum individuelle und nachvollziehbare Biografien und es stellt sich auch kein eindrucksvolles Bild der Gesellschaft am Ende des Zweiten Kaiserreichs ein.


    Worauf mag dann die ohne Zweifel erwiesene suggestive Wirkung des Romans auf die Leserschaft beruhen? Es ist nicht das Sichtbarmachen von Vererbung, sie wird nur behauptet, als Grundtatsache und allseits anerkannte Vorbedingung gesehen. Zolas Kunst besteht darin, die andere große Kausalität – das Milieu und seine Auswirkungen – sehr effektvoll zu inszenieren. Die einzelnen Kapitel bieten zu diesem Zweck Handlung auf exponierten Schauplätzen, als da sind: ein Operettentheater, Luxuswohnungen, eine Pferderennbahn, eine Passage im Pariser Zentrum, eine ländliche Gegend in der Mitte Frankreichs, ein großes Pariser Hotel ...


    Wir wissen, dass Zola nicht in der Halbwelt verkehrte. Für die Romanniederschrift befragte er wie ein guter Journalist, der er auch war, Männer, die mit dem Milieu vertraut waren, ihm Details und Anekdoten liefern konnten. Dagegen kannte Zola seine Romanschauplätze entweder schon gut oder er besuchte sie nun, um sich ein genaues Bild von ihnen zu verschaffen. Sie werden im Roman bis in alle Winkel ausgeleuchtet, exakt und atmosphärisch dicht beschrieben. Dieses spezielle, stark ortsgebundene Erzählen hat Folgen. Die Schauplätze wollen signalisieren: Was sich an derart authentisch wirkenden Orten ereignet haben soll, muss selbst als wahrhaftig gelten. Zolas Figurengruppen haben etwas von Lebenden Bildern, die auf Knopfdruck des Autors kurz in Bewegung geraten und dann wieder verharren. Dieses Verfahren kann die Illusion von real stattgefundenem Leben erzeugen und es ist nicht frei von Ironie, dass es Naturalismus heißen will.


    Verglichen mit den anderen literarischen Größen seines Landes in seinem Jahrhundert – Stendhal, Balzac, Flaubert und Maupassant - war Zola zweitrangig, doch dabei sehr erfolgreich. Seine Werke entsprachen dem Massengeschmack mit grellem Überzeichnen und der Wahl „schlüpfriger“ Sujets. Nana entdeckt im Verlauf ihre lesbischen Tendenzen, die Lesbierinnenszene damals in Paris wird mit dargestellt. Auch Sadomasochismus ist ein Thema, sowohl unter Frauen wie zwischengeschlechtlich. Aber bei Labordette, dem diensteifrigen Freund der leichten Damen, der kein erotisches Interesse an ihnen hat, beachtet der literarische Revolutionär Zola die Grenzen des zu seiner Zeit Sagbaren: Eine andere kleine Nebenfigur darf Labordettes Anderssein gerade einmal andeuten.


    ASIN/ISBN: 3423143991