Beiträge von Arno Abendschoen

    Bei der Lektüre von Kafkas Erzählungen – oder wenn wir uns später an sie erinnern – konzentrieren wir uns leicht auf die surrealen Elemente. Da sind die Tiere – ein Riesenkäfer, ein Hund, Mäuse oder ein Affe -, die, obgleich keineswegs vermenschlicht, doch mit scharfem menschlichem Verstand ausgestattet sind. Sie analysieren sich selbst in ihrer Tierhaftigkeit und lassen zugleich die verwandten animalischen Züge des Menschen zutage treten. Oder die phantastischen, stets fruchtlosen Zeitabläufe, etwa „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ oder „Vor dem Gesetz“; die unglaubliche Kunst des „Hungerkünstlers“; die anscheinend mit Willen und Bewusstsein ausgestatteten Spielbälle in „Blumfeld, ein älterer Junggeselle“. Es ist zu Recht oft bemerkt worden, dass solche Sequenzen Traumcharakter haben. Sie sind wie Alpträume, die in ihrer konkreten Ausgestaltung hyperrealistisch wirken, so sehr, dass wir lesend erschrecken, als hielten wir träumend den Schrecken für real.


    Daneben gibt es den Kafka, der die, häufig banale, Realität des menschlichen Lebens auf ihrer alltäglichen ökonomischen, psychologischen oder sonst wie gelagerten Ebene so akkurat, ja übergewissenhaft und dabei mit größtmöglicher stilistischer Brillanz darstellt, bis wir glauben, das quälend Realistische wäre ein Alptraum und wir eben aus ihm aufgewacht. Für dieses Verfahren stellt die kurze, erst posthum veröffentlichte Erzählung „Das Ehepaar“ ein gutes Beispiel dar. Der Text verzichtet auf Surreales vollständig. Der Ablauf ist mehr oder weniger alltäglich, bis auf den Plot, der einer heutigen Kurzgeschichte noch gut anstünde, gäbe es die von Kafka nicht bereits.


    Der Ich-Erzähler ist ein Geschäftsmann und berichtet vom Aufsuchen eines Geschäftsfreundes in dessen Privatwohnung. Mit wenigen Worten wird die allgemeine Wirtschaftslage angedeutet: Depression und Labilität bestimmen sie. Der Geschäftsfreund ist ein leidender alter Mann. Der Erzähler trifft ihn an, wie er gerade mit seiner Gattin von einem Spaziergang heimgekehrt ist. Man begibt sich in das Zimmer des Sohnes, der gleichfalls krank ist. An dessen Bett sitzt bereits, zum Missvergnügen des Erzählers, ein geschäftlicher Konkurrent, der im Erzähler wie im Sohn sublime ambivalente Regungen hervorzurufen scheint. Es folgen die scheinbar sinnentleerten Reden oder Handlungen der männlichen Akteure, bis der alte Mann plötzlich alle Anzeichen einer Agonie aufweist und dann tatsächlich tot zu sein scheint. Die hilflose Verlegenheit der drei übrigen Männer endet, als die vermeintlich Witwe Gewordene aus einem Nebenraum zurückkehrt und den vermeintlich Toten als nur schlafend bezeichnet. In der Tat verhält es sich so, und aufgewacht entfaltet der Alte sogleich eine unangenehme Rührigkeit. Der Erzähler sieht ein, dass hier kein Geschäft mehr zu machen sei, und tritt den Rückzug an.


    Der Text wäre nicht von Kafka, wenn er nicht voller Anspielungen und Deutungsmöglichkeiten steckte. So fällt auf, dass der Sohn („ein Mann in meinem Alter“) Symptome von Tuberkulose haben könnte – Kafka war selbst zum Zeitpunkt der Niederschrift unheilbar an ihr erkrankt. Der alte Geschäftsfreund verweist mit seiner Mischung aus Hinfälligkeit und Dominanz auf Kafkas eigenen Vater. Wenn der Sohn dem Erzähler mit der Faust droht, um ihn gegenüber dem Vater zum Schweigen zu bringen, verrät sich damit möglicherweise ein innerer Konflikt des Schreibenden. In diesem Fall wären Sohn und Erzähler identische Figuren, verschieden nur wie Freudsche Instanzen. Der Erzähler vermerkt dazu passend zur alten Gemahlin, „dass sie mich ein wenig an meine Mutter erinnere“. Überdies ist die Aufspaltung einer Person dem Autor Kafka nicht fremd. Schon in „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ bleibt Raban im Bett liegen und sagt sich: „Ich schicke meinen angekleideten Körper.“


    Andere Details können als sexuelle Anspielungen verstanden werden: das Gefuchtel des Konkurrenten mit seinem Hut – „in seinem schönen, offenen, aufgebauschten Mantel saß er großmächtig da“ - als exhibitionistische Geste, fraglich nur wem gegenüber; die intensiven Bemühungen der alten Frau um den Pelz des Gatten – „unter dem sie fast verschwand“ – als Liebesspiel unter Senioren; und wenn der Alte sich nach seinem Erwachen aus dem todesähnlichen Schlaf zur weiteren Erholung einfach zum schwerkranken Sohn ins Bett legt, in die Zeitung schaut und gleichzeitig die zwei Besucher barsch abfertigt, so haben wir damit den restituierten Patriarchen vor uns, der den ödipalen Zweikampf wie den geschäftlichen für sich entschieden hat. Die Fülle der Interpretationsmöglichkeiten ist hiermit bloß angedeutet.


    Ums Geschäftsleben geht es in diesem Kafka-Text am wenigsten. Womöglich ist „Geschäft“ nur eine Chiffre für Produktion und Vertrieb eigener literarischer Werke, Kafkas Hauptberuf nach seinem Verständnis, das Kafka senior durchaus nicht teilte. Stärker schimmert die häusliche familiäre Konstellation durch, wenn auch bearbeitet und gegenüber dem Original variiert, auf jeden Fall ein Alt-Prager Neurosen-Gärtlein. Darauf und auf den fließenden Übergang zwischen Traum und Realität bezieht sich schon jene berühmte Briefstelle in der Korrespondenz mit Max Brod: „Ich jause im Garten.“ Das hörte der aus einem Nachmittagsschlaf eben erwachte junge Kafka eine Nachbarin seiner Mutter draußen zurufen, und er resümiert gegenüber Brod später: „Da staunte ich über die Festigkeit, mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen.“ Dieses Erstaunen über die Leidensfähigkeit beim Erdulden des für ihn kaum Erträglichen ist eine der Triebfedern der Kafkaschen Produktivität: Leben scheint ihm wie Alpträumen und Alpträume wie gelebtes Leben, beides nur schreibend zu ertragen.


    Bei der Kafka-Lektüre lohnt es sich, das Hauptaugenmerk von den phantastischen Elementen ab- und den realistischen zuzuwenden. Es kann die Entschlüsselung erleichtern, die gleichwohl zu bewältigen ist. „Das Ehepaar“ – der Titel ist nicht von Kafka, sondern von Max Brod – stellt sich dann als kurzes familiäres Drama heraus, in dem auf ein paar Seiten in verhüllter Form die großen Schrecken der modernen Kleinfamilie behandelt werden: erzwungene Nähe, Konkurrenz, Versagen und Versagung, Frustration …

    Der Roman mit dem vollständigen Titel „Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern – Herausgegeben von E.T.A. Hoffmann“ ist eines der Hauptwerke der deutschen Romantik, erschienen in zwei Teilen 1819 und 1821. Ein geplanter dritter Teil kam infolge von Hoffmanns Tod 1822 nicht mehr heraus. Das Fragment von mehreren Hundert Seiten wurde und wird viel gelesen, studiert und immer wieder besprochen sowohl in Aufsatz- wie in Buchform. Wozu noch einen weiteren Sekundärtext hinzufügen? Er soll sich nur an hier zufällig Reinlesende richten, die das Werk noch nicht kennen, oder an solche, die sich gern an ihre Lektüre erinnern lassen. Man erwarte unter diesen Umständen keine regelrechte Rezension.


    Das Buch ist vieles gleichermaßen, unter anderem Satire und Parodie, Schauerroman und Tierfabel. Es hat autobiographische Bezüge und eine zeitkritische Tendenz. Die Katerhandlung umfasst etwa ein Drittel des Gesamttextes, der größere Rest entfällt auf die Handlung um Kreisler und seine Bezugspersonen am Pseudo-Hof von Sieghartsweiler. Der Kater erzählt seine Lebensgeschichte fortlaufend chronologisch, unterbrochen von Fragmenten aus einer Kreisler-Biographie von unbekannter Hand. Es wird fingiert, der Kater hätte sich dieser Blätter nur als Manuskriptpapier bedient und der Text auf ihnen wäre versehentlich mit abgedruckt worden. Der Leser mag herausfinden, in welcher Beziehung beide Teile zueinander stehen.


    Hoffmanns Stil erweist sich jeweils als virtuos. Im Detail zeigt sich bereits die Freude an genauer Beobachtung der Wirklichkeit. (Modell für den schriftstellernden Kater war Hoffmanns eigene Katze.) Murr hat sich selbst das Lesen und Schreiben beigebracht und verfasst Lyrik wie Prosa, besonders gern gelehrte Abhandlungen, gerichtet an die Katerjugend. Er parodiert unfreiwillig den deutschen Bildungsroman und hält sich als Dichter für ein Genie. Dieser Wahn entspricht demjenigen des Fürsten Irenäus, der nach Verlust seines kleinen Territoriums an der Fiktion festhält, noch regierend-gekröntes Haupt zu sein, und wie ehedem einen Hof mit Hofstaat unterhält. Eine solche Satire erinnert an Vergleichbares von Jean Paul, ist gerichtet gegen Kleinstaaterei und opportunistischen Untertanengeist. Auf Murrs Seiten wiederum werden neben dem Geniekult und -wahn die Burschenschaften und inflationärer romantischer Überschwang aufs Korn genommen. Das muss man selbst gelesen haben: wie Murr und seine geliebte Miesmies voneinander scheiden, tränenselig in übereinstimmendem Kalkül, oder wie Murr sein erstes Duell „auf den Biss“ übersteht …


    Die Tiergesellschaft, zu der auch Hunde gehören, ist nicht nur Parodie des „Hofes“, der gar keiner ist, sie ist charakterisiert auch durch Spießbürgerlichkeit. Murr gilt in der Sekundärliteratur vor allem als der Philister im Gegensatz zum genial-zerrissenen wahren Künstler Kreisler. Das trifft es aber nicht ganz. Murrs Entwicklung kann man bei all dem Prätentiösen doch als einen echten Reifeprozess verstehen. Er hat so viel überstanden: Erotomanie und Exzesse der Burschenschaftler. Sein Lebenslauf weist wie derjenige Kreislers zuweilen große Gefahr für Leib und Leben auf. Am Ende kommt er in seiner Einstellung gegenüber der Gesellschaft zu resignativen Schlüssen, bei denen der Herausgeber kritisch anmerkt, das seien ja eben auch Kreislers Gedanken dazu. Der Kater war zeitweise in Kreislers Obhut, als sein Halter Meister Abraham auf Reisen. Von diesem Orgelbauer und Magier war hier noch nicht die Rede …


    … und auch nicht von der Rätin Benzon, vom Prinzen Hektor und dessen Bruder oder von den jungen Damen Julia und Hedwiga. Und es wird hier auch nicht ausgeplaudert, wie sie alle zueinander stehen und wie erst am Ende des Romans der verwickelt geschürzte Knoten aufgelöst wird, mehr oder weniger. Es gab schon Kritik der Art, dass die Kreisler-Geschichte allzu fragmentiert sei. Indessen sind die Makulaturblätter so „zufällig“ dann doch nicht. Zwar brechen die Kreisler-Abschnitte regelmäßig mitten im Satz ab und setzen nach einem Murr-Zwischenspiel mitten in einem ganz anderen und in anderem Zusammenhang wieder ein, dennoch folgen sie inhaltlich einigermaßen chronologisch aufeinander. Was Kreisler ab seinem ersten Eintreffen in Sieghartsweiler fortlaufend erlebt, wie die Intrigen am Hof ablaufen, das kann der aufmerksame Leser sich schon erschließen. Wahr ist allerdings, dass Kreislers Vorgeschichte nur in andeutenden Rückblenden erzählt wird.


    Abschließend ein Beispiel für die anhaltende Beschäftigung der Literaturwissenschaft mit dem Roman: Sarah Kofman aus dem Kreis um den Philosophen Derrida hat dazu 1984 das Buch „Schreiben wie eine Katze“ veröffentlicht.

    Dies ist eine Sammlung von Texten aus Mark Twains Nachlass, die erst 1963, gut fünfzig Jahre nach dem Tod des Autors, erscheinen konnte. Sein literarischer Nachlassverwalter Bernard DeVoto hatte die Herausgabe schon Jahrzehnte davor geplant, doch von Clara Clemens, Tochter des Autors und Inhaberin der Rechte, keine Genehmigung erhalten. Dies gelang erst seinem Nachfolger. Clara Clemens mag gute und weniger gute Gründe für ihr Zögern gehabt haben. Insgesamt handelt es sich um eine sowohl inhaltlich wie qualitativ sehr heterogene Sammlung, die zwar die Neugier der Kenner anregen, doch das literarische Prestige ihres Vaters nicht unbedingt stärken konnte. Außerdem dürfte die Tochter des Dichters mit vielen religionskritischen Passagen keineswegs einverstanden gewesen sein. Ironie der Literaturgeschichte: Ausgerechnet ein Kind Mark Twains schloss sich der Christian Science an. Schließlich soll der Kalte Krieg um 1960 den Ausschlag für die Publikation gegeben haben. Durch sie wurde sowjetischer Propaganda, die im Zurückhalten systembedingte Zensur sah, der Boden entzogen.


    Die Gesammelten Werke bei Hanser in deutscher Übersetzung änderten die Reihung der Einzeltexte. Ihr folgen wir und lesen zuerst „Die Briefe Satans“, eine etwas unbefriedigende Ouvertüre. Mark Twain übt hier Religionskritik mit den Mitteln einer einfachen Kurzgeschichte, deren Konstruktion jedoch nicht trägt. So wird Satan nach vielversprechendem Anfang des Textes zur Strafe auf die Erde gesandt und soll dem Himmel in Briefen berichten, wie sich die Menschheit denn anlässt – nur dass diese Epistel allzu deutlich Tiraden des alten, verbitterten Menschen Mark Twain sind. Da ist weder satanischer Witz noch satanischer Standpunkt. Man will den Band schon fortlegen und beginnt dann doch mit dem nächsten Text: „Aus den Papieren der Sippe Adam“. Das erweist sich schnell als genialer Mix aus biblischer Geschichte und aktueller Zeitkritik, leider im Verlauf etwas überladen, bis einen der gelungene Schlussteil wieder versöhnt. Kostprobe von den toll-satirischen Einfällen: Eva schildert sich und Adam in ihrer Autobiographie als die ersten Naturforscher überhaupt. Während Adam die umwälzende Entdeckung macht, dass Wasser bergab fließt, findet Eva heraus, wie die Milch in die Kuh kommt – sie nimmt sie aus der Luft mit dem Fell auf. Flaubert, der Vater von „Bouvard und Pécuchet“, lacht darüber im literarischen Himmel.


    Als ein zupackender und –beißender Literaturkritiker erweist sich Mark Twain in zwei Abrechungen mit Cooper, lehrreich noch heute. Ich kann hier nicht alle fünfzehn Texte vorstellen, nur eine Auswahl. Die „Beiträge zu Fragen der Etikette“ sind boshaft amüsant und verspielt, wie von einem Urahn Tucholskys geschrieben. Unangenehm fiel mir wegen seiner extremen Einseitigkeit und primitiven Frankophobie „Die Franzosen und die Komantschen“ auf. „Die verdammte Menschenrasse“ hat mich beim Lesen viele sachliche Einwände notieren lassen, die ich, um ihn nicht zu ermüden, dem Leser hier erspare. Rundum gelungen scheint mir dagegen die lange Geschichte „Die große Finsternis“, eine surrealistische Reise, die mit einem Wassertropfen unter einem Mikroskop beginnt, dann auf ein unbekanntes und unendliches Meer hinausführt, auf dem keine Naturgesetze mehr gelten und es keine Orientierung gibt. Der Schluss erinnert an Dürrenmatts „Der Tunnel“, nur dass es hier gemüthafter ausgeht. Das Schiff rast zwar wie jener Zug nach unerklärlicher, grauenhafter Fahrt auch auf Gott oder die Ewigkeit zu, doch ein Seebär von altem Kapitän hebt in letzter Minute die Moral der meuternden Mannschaft – ernst gemeint oder Parodie oder sonst etwas?


    Als Rausschmeißer kommt dann noch ein „Brief an die Erde“, etwas Leichtfüßig-Satirisches. Ein in der Himmelsbürokratie angestellter Engel geht Punkt für Punkt auf die sehr irdischen Gebete eines Kohlenhändlers ein. Das klingt wiederum Zeile für Zeile nach Tucholsky, so dass man sich erinnern muss, wer vor wem gelebt hat und dass der Jüngere diesen Text des Älteren nicht gekannt haben kann. Freilich – wenn Autoren erst mal tot sind, gibt es kein Älter oder Jünger mehr. Nur an ihren Texten erweist sich, ob diese sich frisch erhalten haben. Für vieles von Mark Twain und für manches aus dieser Sammlung gilt das bis heute.

    Meine Lektüre, Soeren Proescher, liegt schon einige Jahre zurück. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Tom Sawyer in der Handlung vorgekommen wäre. Sie spielt in Österreich 1590, Tom ist eine Figur des 19. Jahrhunderts. Zwar kann Satan in die Zukunft sehen und rasch von einem Land bzw. Kontinent zum anderen wechseln, so dass er dabei auch Tom Sawyer in die Handlung einführen könnte. Ich habe aber beim nochmaligen Durchblättern insoweit jetzt auch nichts gefunden (Ausgabe Gesammelte Werke, Bd. 5, Hanser Verlag 1967).

    Das ist eine Erzählung aus Mark Twains letzten Lebensjahren. Er starb 1910 und hinterließ mehrere unveröffentlichte Fassungen des Stoffs. Sein Biograph Albert Bigelow Paine stellte daraus jene her, die 1916 erstmals in Buchform erschien. Auf diese, die übersetzt auch in Hansers Ausgabe der Gesammelten Werke von 1965 enthalten ist, bezieht sich das Folgende – nicht auf spätere Buchausgaben.


    Der Stoff: Der Engel Satan, Neffe des gleichnamigen Höllenfürsten und dem Onkel durchaus geistesverwandt, erscheint 1590 drei Schuljungen in einem abgelegenen österreichischen Dorf. Er führt Zauberkunststücke in großem Stil vor und diskutiert mit ihnen die großen Fragen von Philosophie, Religion und Geschichte. Daneben greift er in die laufenden Ereignisse im Dorf ein, mit zum Teil tödlichen Folgen. Der Gehalt ist also zugleich philosophisch wie theologisch und auch historisch-politisch. Mark Twain hat daraus eine Geschichte in volkstümlichem Ton gemacht, die formal an seine früheren großen Romane anknüpft. Wie schafft er das bei derart schwergewichtiger Problematik? Er schildert den Ablauf aus spätkindlicher Perspektive – wie die Schuljungen alles erleben – und siedelt den Stoff in einem kleinen hinterwäldlerischen Dorf dreihundert Jahre vor seiner Zeit an. Damit schafft er zugleich Distanz wie Nähe. Der zeitliche Abstand lässt uns die großen Zusammenhänge besser erkennen, das Vertraute schafft dagegen erst die Möglichkeit der Identifikation. Wir dürfen annehmen, dass Kinder um 1600 nicht viel anders auf eine für sie neue Welt reagiert haben als die um 1900. Und das Dorf als kleinste geschlossene Siedlungseinheit ist ebenso in seinen Grundzügen über die Jahrhunderte unverändert geblieben, bis zu Mark Twain jedenfalls. Die dritte Eigenschaft, die den schwierigen Stoff dem Leser näherbringt, ist der gelegentlich humoristisch-sarkastische Ton.


    Wie ist der Autor Mark Twain in der erzählten Geschichte selbst enthalten? Er ist es auf dreifache Weise. Einmal spiegelt sich in der Satan-Figur deutlich die Lebensauffassung des alten Mark Twain. Der Dorfjunge Theodor Fischer, also der Ich-Erzähler, vertritt dagegen den jungen, noch unreifen, doch schon kritischen Samuel Langhorne Clemens, wie Mark Twain bürgerlich hieß. Nun werden zwar die Geschehnisse aus der Perspektive des Knaben Theodor berichtet, niedergeschrieben sind sie allerdings von diesem „ein Menschenalter“ später. Der gereifte Ich-Erzähler bildet also die vermittelnde Instanz zwischen dem alterspessimistischen Mark Twain um 1910 und dem vitalen jungen Burschen, der er einst selbst war. Ob die gelegentlichen Anachronismen beabsichtigt oder Flüchtigkeitsfehler sind, bleibt offen.


    Fazit: Mark Twains lange Erzählung kommt formal als Kindergeschichte mit Schauereffekten daher, stellt dahinter aber ein Selbstgespräch des Autors über „letzte Dinge“ dar, wie z.B. den freien Willen oder die Unterscheidung von Gut und Böse. Ob das Ergebnis als literarisch geglückt anzusehen ist, ist nicht leicht zu entscheiden. Auf jeden Fall ist es ein aufschlussreiches Zeugnis für das Denken des großen, sehr erfolgreichen Autors gegen sein Lebensende hin. Damals war er radikal pessimistisch und nihilistisch, so sehr, dass er den Großteil seiner späten Produktion für sich behielt. Diese Radikalität äußert sich sprachlich wie begrifflich formvollendet in Satans letzten Worten so:


    „Es stimmt, was ich dir enthülle; es gibt keinen Gott, kein Weltall, kein Menschengeschlecht, kein irdisches Leben, keinen Himmel, keine Hölle. Es ist alles ein Traum – ein grotesker und törichter Traum. Nichts existiert, nur du. Und du bist bloß ein Gedanke – ein schweifender Gedanke, ein nutzloser Gedanke, ein heimatloser Gedanke, der inmitten leerer Ewigkeiten umherirrt.“ (Zitiert nach der Übersetzung von Otto Wilck.)

    Kürzlich wäre er hundertfünfzig geworden – gedenkt man seiner noch? Er war ein knappes halbes Jahrhundert lang ein sehr erfolgreicher Vielschreiber und Vortragskünstler seiner selbst gewesen, talentiert, sehr wach, umtriebig, weithin bekannt und anerkannt und manchmal auch geschmäht. Für Karl Kraus, der ihn bekämpfte, war er vor allem ein „Schnurrenfabrikant“. Roda Roda liebte als Anekdotenerzähler wie Satiriker die Knalleffekte und war zugleich gegenüber seinen Figuren milde gestimmt, nachsichtig. Die Handlungen sind krass und die Menschen in ihnen mit eher weichem Stift gezeichnet. Darin äußert sich ein sympathischer melancholischer Fatalismus. Wie viele unterschiedliche Milieus und Typen hat der Mann kennengelernt, studiert, porträtiert ... Das war seine Welt, seine Zeit: ganz Mittel- und Südosteuropa im letzten Viertel des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Er war polyglott als Sprecher und hatte als Zuhörer das empfindsamste Ohr für Dialekte, Slangs, Nuancen. Tucholsky, der ihn sehr schätzte, schrieb ihm immer wieder Elogen, so z.B.: „Er kann alle Leute und alle Dialekte und alle Tiere nachmachen, auch Kommandierende Generale.“


    Zur Hand nehme ich wieder „Das Große Roda Roda Buch“, als rororo-Taschenbuch 1990 herausgekommen, und blättere. Da sind die „Geschichten vom Balkan“ und die vom Habsburger Militär, die Schnurren über altösterreichische Zivilpersonen, dann Reiseimpressionen (auch aus den USA), Amüsantes und Bissiges über Kunst und Literatur, über den Adel und das Familienleben; als Zugabe eine bunte Mischung Skurriles aus allen Lebenslagen. Es sind Hunderte von überwiegend kurzen und kürzesten Texten, die meisten auf erhellende Weise erheiternd. Im Durchschnitt etwas länger sind die achtzehn kleinen Erzählungen in „Die Kummerziege und andere Dienstbotengeschichten“, als Fischer Taschenbuch 1980 erschienen. Sie gelten als Gemeinschaftswerk des Autors und seiner Schwester Marie. Deren Anteil am Entstehen und vielleicht auch am Ausarbeiten mag der größere gewesen sein. Dafür spricht die genaue Kenntnis von Bürgerhaushalten und weiblichem Seelenleben.


    „Roda Rodas Roman“ von 1925 (div. Ausgaben und Auflagen) ist die leicht romanhafte Nachzeichnung des eigenen Lebens bis in dessen frühe dreißiger Jahre. Man darf nicht jedes Detail für verbürgt halten. So verlegt der Autor bereits seine Geburt im Jahr 1872 von Mähren nach Slawonien, wohin er tatsächlich erst als Kleinkind gebracht wurde. Dort war sein Vater Gutspächter und Alexander Roda Roda lernte von klein auf sowohl das traditionelle Landleben wie die ethnisch sehr gemischte Bevölkerung jenes damals ungarischen Landesteils kennen, unweit von Bosnien wie auch der serbischen Grenze. Nur gestreift werden die Oberschuljahre in Mähren, das abgebrochene Jurastudium, dann folgt in aller Breite das Jahrzehnt beim Militär. Roda Roda wurde Reiteroffizier, Reitlehrer dort und schrieb in der freien Zeit Texte für Zeitschriften. Über seine Beziehung zu Adele Sandrock (im Buch eine Tänzerin unter anderem Namen), die Differenzen mit Vorgesetzten und sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem aktiven Dienst mündet die Darstellung in die Begegnung mit seiner späteren Frau. Die Ehe scheint glücklich gewesen zu sein, hielt bis zum Tod des Autors (New York 1945).


    Mich überrascht jetzt, aus sekundären Quellen zu erfahren, dass Roda Roda jüdischer Herkunft war und erst als junger Mann konvertierte, vielleicht wegen der angestrebten Militärkarriere. Juden kommen in seinem Werk gelegentlich vor und er behandelt sie wie andere gesellschaftliche Gruppen, mit liebevoll nachsichtigem Scharfblick. Seine persönliche Beziehung zum Judentum bleibt dabei im Dunkeln. Gab es gar kein Problem, war er einfach nur liberal aufgeklärt, emanzipiert? Oder thematisierte er ihn persönlich betreffenden Antisemitismus grundsätzlich nicht? In diesem autobiographischen Roman spielt der Autor paradoxerweise auch insgesamt nur eine Hauptnebenrolle. Er behandelt seine innere Entwicklung kaum, er selbst ist eher der Fluchtpunkt sehr vieler Einzelschicksale, die in momentanen Begegnungen kurz aufscheinen. Tatsächlich ist das Werk so ein Panorama-Panoptikum von Menschen in Alteuropa um 1900. Dass es die Erinnerung an sie auf diese Weise über die Zeit gerettet hat, das ist die große Leistung des Autors.


    Exemplarisch für Roda Rodas Arbeitsweise ist sein Porträt dessen, den er Nevery nennt, auch ein Reiteroffizier, ein steirischer Hüne mit etwas kindlichem Gemüt. Sie tun lange zusammen Dienst, Roda Roda bekundet im Buch seine durchgehende Sympathie für ihn. Bei der Schilderung einer absurd-komischen Fechtszene lässt er eine Wendung einfließen, dass der Leser sich fragen kann: Ist Nevery homosexuell? Das Thema spielt im ganzen Buch sonst keine Rolle. Dann ist Roda Roda entlassen und bereist als Journalist den Balkan. An der damals heißen montenegrinischen Grenze stößt er wieder auf Nevery, der jetzt unter elenden Bedingungen Kommandant eines Forts auf einer Felsenspitze ist. Roda Roda lässt Nevery über sein Verhältnis zur Mannschaft reden und lässt ihn mitten in einem Bekenntnis abbrechen. Es wird dennoch klar, dass Nevery ein Verhältnis mit einem Untergebenen hat. Roda Roda wirft einen letzten Blick voller Mitgefühl auf ihn. Das ist eine der Stellen in Roda Rodas Werk, in denen sein menschenfreundlicher Grundzug sich äußert. Nur nebenbei: Nevery bei Roda Roda hat als Typ wie bezüglich seiner Stellung im Buch Ähnlichkeit mit Flauberts Figur Dussardier in der “Éducation sentimentale“, beide Fragmente eines so literarisch unsterblich gewordenen 19. Jahrhunderts.


    Wer Roda Rodas Texte von ihm selbst vorgetragen anhören möchte: Im Netz sind leicht aufzufinden zwei youtube-Videos mit Tonaufnahmen aus der Zeit um 1930: „Generalmajor Johann Kiefer“ und „Die Gans von Podwolotschyska“ (hier hat sich im Titel das dritte „o“ versehentlich in ein „c“ verwandelt).