Ian McEwan: Was wir wissen können

  • Egal, wie viele Informationen uns vorliegen, wir kennen niemanden wirklich


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    Die etwas zwiespältigen Reaktionen auf diesen neuen Roman des enorm klugen Briten, der im Verlauf seiner Karriere quasi alle Literaturpreise bekommen hat, die man u.a. in Großbritannien abräumen kann, haben mich anfangs mit einer gewissen Distanz an die Lektüre gehen lassen. Dazu kam der durchaus Sperriges ankündigende Klappentext. Es geht in gewisser Weise um Lyrik, gar um einen Sonettenkranz, das ist quasi der Deka-Triathlon der Dichtkunst, also etwas, das nur komplett Durchgeknallte hinkriegen und sich freiwillig antun. Der britische Dichter Francis Blundy, zu Lebzeiten bereits eine Legende, hat so ein Ding verfasst, im Jahr 2014 und zu Ehren seiner Gattin Vivien, anlässlich ihres 54. Geburtstags. Blundy trug das Werk seiner Frau und einem knappen Dutzend weiterer Gäste vor und überreichte es anschließend Vivien. Danach ist der Gedichtzyklus, von dem es nur ein handgeschriebenes Exemplar auf schwerem Pergament gab, weitgehend spurlos verschüttgegangen, doch der Literaturdozent Thomas Metcalfe macht sich ein knappes Jahrhundert später auf die obsessive Suche, denn „Sonettenkranz für Vivien“ hat, ohne nach dem Geburtstag der Widmungsempfängerin von irgendwem je gelesen oder gehört worden zu sein, seither Kultstatus erreicht. Inzwischen sieht die Welt allerdings vollständig anders aus, denn es hat, wie nicht anders zu erwarten war (und IST, Leute!), mehrere Katastrophen gegeben, infolge derer die Menschheit halbiert und die bewohnbare Fläche des Planeten ebenfalls deutlich reduziert wurde. Aber: Die zukünftigen Wissenschaftler kommen an alle Informationen, die wir Menschen des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts so von uns geben (bzw. gegeben haben werden), denn alle Daten sind noch da, sämtliche Verschlüsselungen sind längst geknackt, und für die kommenden Generationen ist auch unser klandestines Dasein so transparent wie ein Lufthauch. Nur was wir uns denken oder möglicherweise handschriftlich festhalten, an das kommen auch die Menschen in der Zukunft genauso wenig ran, wie die Menschen, die uns jetzt, in genau diesem Moment umgeben.


    Das ist die Kernfrage dieses faszinierenden, überaus lesbaren, mit subtilem Humor ausgestatteten, fantastisch geschriebenen und ungeheuer klugen Romans: Wissen wir überhaupt etwas über andere Menschen, wenn wir das, was wir über uns selbst wissen, als Maßstab anlegen? Und ist das verlässlich, was wir erfahren können, oder sind nicht möglicherweise sogar solche Informationen, die Leute nur für sich selbst verschriftlicht haben (etwa in Tagebüchern), von der Absicht beseelt, ein Bild zu zeichnen, ein Ideal zu formulieren, das man zwar gerne erreichen möchte, von dem man sich jedoch noch weit entfernt befindet? Folgerichtig besteht das letzte Drittel dieses sensationell guten Romans aus etwas, das alles davor in einer Weise erodiert, die lesend zu erleben mit großer Verblüffung und viel Nachdenklichkeit einhergeht. Tatsächlich macht es einfach großen Spaß, diesen Roman zu lesen, obwohl er dystopische Züge hat, obwohl es (unter anderem) um einen Lyriker geht, um geisteswissenschaftliche Fragen, um Kultur allgemein und hohe Literatur im Besonderen, um kluge Leute, aber auch um die krasse Leugnung der Tatsache, dass unser vollbesetzter Zug gerade mit Höchstgeschwindigkeit und ungebremst auf einen Kopfbahnhof zurast. Ian McEwan ist niemand, der mit seiner Klugheit hausiert, ganz im Gegenteil stellt er sie infrage, und es gibt eine herrliche Szene, in der die Hochnäsigkeit des höheren Bildungsbürgertums auf wunderbare Weise geerdet und als Inszenierung entlarvt wird.

    Unterm Strich sind wir natürlich alle schuld daran, was passiert ist und passieren wird, aber die Dystopie und die Katastrophe stehen nicht im Vordergrund. „Was wir wissen können“ ist eine Geschichte darüber, was von uns bleibt, was wir hinterlassen, was die Menschheit in Summe ausmacht, und wie wichtig es ist, dass wir unsere Geheimnisse bewahren und nicht so tun, als gäbe es nichts zu verbergen. Der Roman erzählt allerdings von sehr vielen, von fast allen menschlichen Aspekten, von der Liebe, vom Betrug, von der so genannten Selbstverwirklichung, von Träumen und Obsessionen, von Pflicht und Verantwortung, vom Menschsein.


    Ein ganz und gar großartiges Buch, dessen vermutete Schwergängigkeit sich nie gezeigt hat, ganz im Gegenteil – ich war viel zu schnell durch und hätte mich gerne mal gebremst, aber das war völlig unmöglich.


    ASIN/ISBN: 3257073577