Jean-Remy von Matt: Am Ende. Erlebnisse und Erkenntnisse aus meinem kreativen Leben, Berlin 2025, Econ / Ullstein Buchverlage GmbH, ISBN 978-3-430-21209-0, Hardcover, 240 Seiten mit s/w-Fotos, Format: 14,7 x 2,4 x 21,7 cm, Buch: EUR 25,00, Kindle: EUR 19,99.
„Ich entdeckte eine Materie, die nur Amplituden kennt: ganz schlecht oder sehr gut. Sie kennt keine Gewissheiten, keine Endgültigkeit, keinen Feierabend. […] Eine Materie aus dem Niemandsland zwischen Gefühl und Kalkül. Aber eigentlich war es umgekehrt: Die Materie hatte mich entdeckt. Die Materie Kreativität – an meinem allerersten Tag als Werbetexter. Endlich fand mein Leben einen Sinn.“ (Seite 9)
Was macht einen genialen Texter aus?
Die legendäre Sixt-Werbekampagne, Slogans wie „Bild Dir Deine Meinung“, „Wer hat’s erfunden?“ oder „Drei, zwei, eins, meins“ kennt jeder. Damit hat der Werbetexter und Agenturinhaber Jean-Remy von Matt Werbegeschichte geschrieben.
Ich habe mich mehr als 30 Jahre lang als Werbetexterin durchgewurstelt und wollte nun wissen, was einer der ganz Großen unserer Zunft rückblickend über sein Leben, seine Arbeit und über Kreativität im Allgemeinen zu sagen hat. Was macht ein genialer Texter anders als einer, der damit nur irgendwie seine Brötchen verdient?
Eine Biographie – anders als alle anderen
Schon der Aufbau des Buchs ist ungewöhnlich: Statt einer chronologischen Biographie hat JRvM 96 kurze Kapitel verfasst – Erinnerungen, Anekdoten, Betrachtungen –, die er von einer Jury auf Inspirationsgewinn und Unterhaltungswert prüfen und bewerten ließ. 77 dieser Kapitel haben es ins Buch geschafft und sind hier in absteigender Reihenfolge sortiert. Was den Claim auf dem Titel erklärt: „Das erste Buch, das von Anfang bis Ende immer schlechter wird.“ Er gibt uns auch gleich den Rat:
„Lies es nur, solange es Dir was bringt. Dann leg es beruhigt weg und nutze Deine Zeit für was Sinnvolleres.“ (Seite 13)
Das hat auch noch kein Autor zu mir gesagt! Da ich aber ungern fremde Leute wie die Jury darüber entscheiden lasse, was mich zu interessieren hat, habe ich trotz dieser Aufforderung alles gelesen.
Woran brillante Ideen oft scheitern
Ist Kreativität eigentlich angeboren oder lernt man das durch Vorbilder? JRvM beschreibt seine Mutter als überaus einfallsreich und unerschrocken. Das scheint auf jeden Fall auf ihn abgefärbt zu haben, auf welche Weise auch immer.
In der Schule ist er eher Durchschnitt, da ist ein kreativer Geist ja auch unerwünscht. Mit 22 findet er seine Bestimmung als Werbetexter und stellt fest, dass er darin richtig gut ist. Das bewahrt ihn natürlich nicht vor den Erfahrungen, die auch weniger geniale Werber machen: Der Wert vieler Ideen wird nicht erkannt, sie werden von Bedenkenträgern zerredet und abgewürgt, ehe sie ihre Wirksamkeit unter Beweis stellen können. Manchmal findet ein Kunde die Konzepte der Agentur zwar toll, traut sich aber nicht, neue Wege zu beschreiten und bevorzugt am Schluss doch eine Lösung, mit der er kein Risiko eingeht.
Es braucht schon mutige Auftraggeber wie beispielsweise den Unternehmer Erich Sixt, damit man unkonventionelle Kampagnen realisieren kann. Und für den hat sich dieser Mut mit Sicherheit ausgezahlt!
Solche wagemutigen Entscheider sind jedoch selten. Von risikoscheuen Hasenfüßen gibt’s mehr. Ja, gut: Wer etwas wagt, kann natürlich auch scheitern. Nicht jede Werbekampagne ist ein Volltreffer. In der Laufbahn des Autors hat’s auch Flops gegeben, zu denen er sich hier freimütig bekennt. Mal war die Botschaft zu subtil verpackt, mal wurde die Ironie nicht verstanden. Für uns Normalsterbliche ist die Erkenntnis tröstlich, dass auch Überflieger manchmal auf die Nase fallen.
Von Freiheit, KI und „betreuter Ideenfindung“
Sympathisch war mir diese Einstellung:
„Wer dem Publikum den Atem rauben will, darf den Kreativen nicht die Luft nehmen.“ (Seite 67)
Zusammen mit seinem Geschäftspartner Holger Jung sorgt JRvM in seiner Agentur für eine Kultur, die den Teams die Freiheit lässt, die sie brauchen, um ihr Bestes zu geben. Gar nicht so leicht bei so einem Haufen Individualisten, wie das eine oder andere Beispiel zeigt. (Ich denke da an den Kerl, der in seinem Büro Holz hackt!)
Von Kreativitätstechniken, der „betreuten Ideenfindung“, wie der Autor das nennt, hält er nichts:
Brainstorming & Co reiche allenfalls für den Hausgebrauch, etwas wirklich Sensationelles könne dabei nicht herauskommen. Auch die KI kommt bei ihm nicht gut weg. Es ist richtig, dass sie schneller, günstiger und fleißiger arbeitet als ein Mensch.
„Aber wer sich nur aus den Daten der Vergangenheit ernährt, dem fehlt, was innovative Ideen wirklich ausmacht: der Blick nach vorne. Vorstellungskraft. Fantasie.“ (Seite 100)
Das sehe ich auch so. Aber womöglich ist das die Ansicht von alten Werbern, die nicht mehr im Job aktiv sind – und morgen ist das schon überholt.
(Be)merkenswert!
Ich habe tatsächlich vom Vorwort bis zum Nachwort alles gelesen und mir etliche Textstellen angestrichen. Die erschienen mir entweder (be-)merkenswert, weil der Autor genau das auf den Punkt bringt, was meine Kolleginnen und Kollegen und ich nur zu oft erlebt haben, oder weil ich stutzte und dachte: ‚So habe ich das noch nie gesehen!‘
Und warum ist JRvM nun genial und ich zum Beispiel nicht? 😉
Ja nun: Er hatte eben von allem mehr: Talent, Mut, Ehrgeiz, Detailverliebtheit, Besessenheit … Und ein bisschen Eitelkeit kann in diesem Metier, glaube ich, auch nicht schaden …
Der Autor
Jean-Remy von Matt, geboren 1952, ist Mitbegründer der Hamburger Werbeagentur Jung von Matt, die zu den bekanntesten in Deutschland und Europa gehört. Mit Kampagnen wie die für Sixt, Edeka oder Mercedes-Benz und Slogans wie »Wer hat’s erfunden?« oder »BILD Dir Deine Meinung« prägte sie über Jahrzehnte die deutsche Werbung. Das führende Branchenblatt W&V nennt seine Agenturgruppe die kreativste aller Zeiten. 2018 wechselte er in den Aufsichtsrat von Jung von Matt und widmet sich seitdem der Konzeptkunst.
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ASIN/ISBN: 343021209X |
