Paradies der Ungeheuer, Daniel Pennac, aus dem Französischen von Eveline Passet, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2001, 285 Seiten, ISBN 3-462-03019-1, 9,90 €
Klappentext:
Von Beruf ist Benjamin Malaussène Sündenbock, aber auch großer Bruder und Ernährer zahlreicher Halbgeschwister. Die ganze Sippschaft wohnt in einem alten Laden im bunten Pariser Stadtteil Belleville. Väter gibt es nicht, und Maman ist ständig in Liebesabenteuern unterwegs. Benjamin arbeitet in einem großen Pariser Kaufhaus in der Reklamationsabteilung, hält für alle Pannen seinen Kopf hin. Aber man will ihm noch mehr anhängen: eine Serie geheimnisvoller Bombenexplosionen im Kaufhaus, deren Opfer sich ausgerechnet immer in seiner Nähe aufhielten. Doch die Ermittlungen des Kriminalkommissars Coudrier führen in eine andere Richtung. Benjamin könnte aufatmen, wenn nicht zu Hause bei den Geschwistern dauernd etwas schief ginge: Jérémy bastelt in der Schule erfolgreich eine Bombe, Louna kriegt Zwillinge, Julius der Hund erleidet seinen ersten epileptischen Anfall. Und in all dem Trubel verliebt Benjamin sich unsterblich in die überwältigende Journalistin "Tante Julia".
Autor:
Daniel Pennac, eigentlich Daniel Pennachioni , wurde 1944 in Casablanca geboren und wuchs in den französischen Kolonien in Afrika und Südost-Asien auf. Er studierte in Nizza Französich und hat lange als Lehrer gearbeitet. Seine Malaussène-Romane sind in Frankreich Bestsellererfolge und gewannen auch in Deutschland eine Fangemeinde. Pennac, der auch Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht hat, lebt und schreibt in Belleville / Paris.
Interessante Links:
-Interview
Meine Meinung:
Auf der Suche nach flotter, schwimmbadtauglicher Lektüre habe ich mir „Paradies der Ungeheuer“ von Daniel Pennac eingepackt – und hatte einen paradiesischen Tag mit den ungeheuerlichen Malaussènes!
Gleich beim bekannten Friedhof Père Lachaise im Stadtviertel Belleville wohnt Familie Malaussène in einem ehemaligen Haushaltswarenladen. Da Maman, stets schwanger, wie immer mit ihrem aktuellsten Liebhaber auf Weltreise ist, und die diversen Vätern quasi nicht existent sind, hat der Ich-Erzähler, Benjamin Malaussène, ihr ältester Sohn, die Sorge für die ständig wachsende Schar seiner Geschwister übernommen. Louna, die älteste Schwester, lebt nicht im Laden, sondern in einer etwas schwierigen Beziehung mit ihrem Freund, einem Arzt, von dem sie ein Kind erwartet. Clara, die zweitälteste Schwester, visuell veranlagt, photographiert alles, was ihr vor die Linse kommt. Thérèse, leicht anämisch, hat einen Hang zur Esoterik und sagt gelegentlich die Zukunft voraus. Jérémy ist ein kleiner Rabauke und der Jüngste, Le petit, ist einfach ein liebenswerter kleiner Junge. Hinzu kommen noch Julius, der epileptische, meist nach Müllhalde riechende Hund der Familie, und der homosexuelle Théo, bester Freund von Benjamin und seinen Geschwistern. Benjamin hat in dieser Familie nicht nur die Rolle des Erziehungsberechtigten übernommen, sondern auch die Rolle des Ernährers, die er mit seinem Job als Sündenbock in einem Kaufhaus erfüllt. Offiziell ist Benjamin für die „Technische Kontrolle“ im Kaufhaus verantwortlich, tatsächlich besteht seine Aufgabe jedoch darin, sich für alle Reklamationen von seinem Vorgesetzten vor den Augen der Kunden zur Schnecke machen zu lassen, mit dem Ziel, dass seine Tränen die Kunden so zur Rührung bringen, dass diese ihre Beschwerden zurückziehen. Kein Wunder also, dass er auch bei einer Serie von Bombenattentaten im Kaufhaus schnell in die Rolle des Sündenbocks gerät, und damit gezwungen ist, selbst nach dem Täter zu suchen…
„Paradies der Ungeheuer“ enthält zwar eine durchaus finstere, brutale und realistisch beschriebene Krimihandlung, im Vordergrund stehen jedoch Leben, Umfeld und Freunde der Familie Maulaussène im Pariser Stadtviertel Belleville. Insofern ist dieser Roman eher der Belletristik zuzuordnen als dem Genre Krimi, und ist eher als brillante Satire auf dieses Genre zu verstehen.
Die chaotische, liebenswerte Familie Malaussène scheint sinnbildlich für das Stadtviertel Belleville mit seiner multikulturellen Gesellschaft verschiedener ethnischer, religiöser und sexueller Hintergründe zu stehen. Neben den einzelnen Charakteren der Familie Malaussène und ihrer Freunde, die alle mit Skurrilitäten und Witzigem aufwarten, aber dennoch glaubwürdig sind, überrascht den Leser die turbulente und temporeiche Handlung, die er mit den Augen und Gedanken des Anti-Helden Benjamin erlebt. Die Dialoge sind voller Wortwitz, intelligent und manchmal fast weise. Der sprachlich versierte Autor setzt häufig starke Kontraste ein, die zur überbordenden Lebendigkeit seiner Personen und Geschichte und ihrer Menschlichkeit beitragen. Wer literaturinteressiert ist, wird sich über die häufig eingestreuten literarischen Anspielungen freuen.
Lobend hervorzuheben ist aber auch die Leistung der Übersetzerin, Eveline Passet, die mit Daniel Pennacs Werk sicher keine leichte Aufgabe hatte, der es aber sehr gut gelungen ist, Charme, Esprit und Wortwitz dieses Romans vom Französischen ins Deutsche zu übertragen.
„Paradies der Ungeheuer“ ist ein vor Leben sprühender, amüsanter und hinreißender Roman mit interessanten Charakteren und einfallsreichen sprachlichen und erzählerischen Wendungen, bei dem Freunde eines leicht schrägen Humors voll auf ihre Kosten kommen. Der einzige Nachteil des Romans ist die Gefahr nach weiteren Geschichten über die Malaussènes süchtig zu werden, was sich aber leicht verschmerzen läßt!
Ich freue mich bereits jetzt auf die weiteren Bände, von denen folgende in deutscher Übersetzung erschienen sind:
1. Paradies der Ungeheuer / Au bonheur des ogres (Zum Glück der Menschenfresser) 1985
2. Wenn alte Damen schießen / La Fée Carabine (Die Fee Carabine) 1987
3. Sündenbock im Bücherdschungel / La petite Marchande de prose (Die kleine Prosa-Händlerin) 1989
4. Monsieur Malaussène / Monsieur Malaussène 1995
5. Vorübergehend unsterblich (Eine Malaussène-Geschichte) / Des Chrétiens et des Maures (Christen und Mauren) 1997
6. Adel vernichtet / Aux fruits de la passion (Früchte der Leidenschaft) 1999
P.S.: Als Schwimmbadlektüre würde ich das Buch nicht empfehlen. Warum? Ich bin vor lauter Faszination nicht mehr ins Wasser gekommen und habe lieber geschwitzt...