'Werte' - Toleranz und Prinzipientreue

  • Ein wirklich tolles Kapitel mit vielen interessanten Texten!! :-]


    Das Wertepaar Toleranz - Prinzipientreue ist nach wie vor hochexplosiv, wie auch die Einleitung zeigt. Insbesondere der Abschnitt über Intoleranz zur Intoleranz - eine verzwickte Frage, die sich selbst ad absurdum führt, aber durch bestimmte Werte durchaus relevant wird...


    Da fällt mir ein Spruch ein, den ich irgendwie interessant fand, und der in diesen Kontext passt:
    "Entweder man ist konsequent, oder man lebt."


    Plato
    Sokrates' Verteidigungsrede.... Absolut spannend! Die Strategie der Ankläger, die er anführt, erinnert mich an die Hexenprozesse in späterer Zeit. Ihnen wurde jede Möglichkeit zur Verteidigung genommen, da sie in einer solchen sich per definitionem selbst anklagen würden. Seine spätere Darlegung seines Verhaltens zeigt zwar, dass er in gutem Wissen ehrlich und offen gehandelt und gesprochen hat, doch ist jemand wie Sokrates da nicht auch sehr naiv? Zu glauben, dass man ohne Anfeindungen nicht besonders löbliche Urteile über sämtliche Staatsmänner fällen kann? Ehrlich und offen ist zwar gut und schön, doch Sokrates müsste es doch so verpackt haben können, dass es nicht gleich seine Anklage bedeuten müsste? Oder war es ihm gar egal?


    Das Mailänder Edikt
    Sehr beeindruckend, doch scheint mir weniger die Überzeugung der Religionsfreiheit Mutter des Gedanken zu sein, sondern vielmehr die Hoffnung, sich es so mit keinem der Götter zu verscherzen (S. 572 oben) :grin Nichtsdestotrotz natürlich eine überaus bedeutsame Entscheidung!


    von Kues
    Ein überaus kluger Text! Im christlichen Glauben aufgewachsen und erzogen macht man sich überhaupt keine Gedanken darüber, wie merkwürdig das Ritual des Abendmahls in der Messe auf Andersgläubige wirken kann, ein guter Denkanstoß! Der Ansatz, dass eigentlich alle erwähnten Religionen auf den gleichen Prinzipien beruhen und sich nur in ihrer rituellen Umsetzung unterscheiden, hat mir sehr gut gefallen! Die Forderung, diese Riten einander anzugleichen, um Einigkeit zwischen den Religionen zu erzielen, sieht Kues dann selbst als schwierig an, deshalb rät er, dies zu unterlassen und sich nur auf die Prinzipien zu konzentrieren. Weise Worte! :anbet


    Morus
    Eine interessante Vorstellung einer idealen Gesellschaft, der auf dem Verteilungsprinzip beruht. Alles muss gleichmäßig verteilt werden: Güter, Platz und Menschen. Letztere beiden muten allerdings befremdlich an, Familien sollen immer aus der gleichen Anzahl bestehen, anderenfalls werden die Kinder „umverteilt“. Gleiches gilt für Wohnraum und Städte, in denen jedoch verschiedene Religionen vorherrschen. Menschen werden wegen der Gleichverteilung „entwurzelt“ und dorthin verpflanzt wo es genügend Ressourcen gibt. Wo ist hier die Freiheit des Menschen? Um welchen Preis soll eine solche ideale Welt realisiert werden? Ist er nicht viel zu hoch? Oder müssen hier nur verschiedene Werte gegeneinander abgewogen werden? :gruebel


    Spinoza
    Meinungsfreiheit und Redefreiheit sind die absolute Grundlage eines freien Staates, jawohl! :write Und wie die Geschichte tatsächlich gezeigt hat, war „diejenige Regierung die gewalttätigste […], unter dem einem jedem die Freiheit, zu sagen und zu lehren, was er denkt, verweigert wird“ (S. 581). Die Aufhebung dieser Freiheit war schon immer Beginn eines totalitären Systems mit katastrophalen Folgen.
    Die Beschreibung des Staates als Schutz und System, das den darin lebenden Menschen ermöglicht, sich zu entfalten, mit dem Ziel der Freiheit ist ein wunderbarer Gedanke :anbet, der leider auch heute noch lange nicht überall verwirklicht wird.


    Locke
    Ein christliches Leben zeichnet sich durch christliche Werte und Taten aus, nicht durch Gehorsam gegenüber offensichtlichen Verfehlungen der Kirche und im Sinne des christlichen Glaubens MUSS allen Religionskriegen eine deutliche Absage erteilt werden :write


    Lessing
    Nathan der Weise wurde in meinem Deutschkurs leider nur in einer Kurzzusammenfassung abgehandelt, das wird sich jetzt ändern :-] Die Ringparabel enthält so viel Weisheit, angefangen von der Argumentation Nathans, warum jemand an seinem Glauben zweifeln solle, wenn er einen Andersgläubigen trifft und diesem es ebenso geht, bis hin zum fast salomonischen Urteil des Richters, vor den die drei zerstrittenen Söhne treten. Toll!


    Tucholsky
    Nach dem Mohammed-Streit aktueller denn je! „Satire muss übertreiben“, denn sie soll aufrütteln und Umstände oder Begebenheiten deutlich machen. Verletzt fühlt sich, wer in Ständen und Gruppenzugehörigkeiten anstatt in Individuen zu denken, also sich dann vielleicht gar nicht mehr PERSÖNLICH angegriffen fühlen kann. Doch ist dies wirklich, wie Tucholsky meint, eine typisch deutsche Eigenschaft, oder nicht vielleicht eine typisch menschliche?


    Saramago
    Eine eindrückliche Fabel, die mich dazu inspiriert hat, mich mit dem Leben Rushdies mal genauer auseinander zu setzen.


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    Für mich bislang eines der spannendsten Kapitel, toll! :anbet


    EDIT: Inspiriert wurde ich in diesem Kapitel zu:
    - Nathan der Weise endlich mal ganz zu lesen
    - Kurt Tucholsky näher kennen zu lernen
    - Salman Rushdie näher kennen zu lernen

  • Zitat

    Original von milla
    Saramago
    Eine eindrückliche Fabel ...


    Sehr beeindruckend, aber auch sehr beklemmend.


    Ich frage mich auch, ob die Analogie von Saramagos Geschichte mit der Fatwa gegen Rushdie wirklich stimmig ist. :gruebel


    Die geschlagene Frau in Saramagos Geschichte nimmt die Schläge hin und versucht es dem Mann recht zu machen. Der Mann ist ein Sadist, der für die Schläge sogar Vorwände sucht und arrangiert. X(


    Von Rushdies Buch "Die satanischen Verse" fühlten sich die eben nicht toleranten, fanatischen Islamisten ja beleidigt. Sie glaubten also wirklich einen Grund für die Todesdrohungen zu haben und fühlen sich als Prinzipientreu. Raum für Toleranz bleibt nicht.
    Rushdie steht für Meinungsfreiheit.
    Das kann ich bei Saramagos Geschichte nicht so sehen.
    Der Schläger steht nicht für Prinzipientreue und schon gar nicht für Toleranz.
    Oder übersehe ich da etwas? ?(

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Von Rushdies Buch "Die satanischen Verse" fühlten sich die eben nicht toleranten, fanatischen Islamisten ja beleidigt. Sie glaubten also wirklich einen Grund für die Todesdrohungen zu haben und fühlen sich als Prinzipientreu. Raum für Toleranz bleibt nicht.
    Rushdie steht für Meinungsfreiheit.
    Das kann ich bei Saramagos Geschichte nicht so sehen.
    Der Schläger steht nicht für Prinzipientreue und schon gar nicht für Toleranz.
    Oder übersehe ich da etwas? ?(


    Hm er wird sich selbst wahrscheinlich schon als prinzipientreu bezeichnen - in seinen Augen verhält er sich ja nicht unrecht, vermutlich.

  • Zitat

    Original von milla
    Tucholsky
    Nach dem Mohammed-Streit aktueller denn je! „Satire muss übertreiben“, denn sie soll aufrütteln und Umstände oder Begebenheiten deutlich machen. Verletzt fühlt sich, wer in Ständen und Gruppenzugehörigkeiten anstatt in Individuen zu denken, also sich dann vielleicht gar nicht mehr PERSÖNLICH angegriffen fühlen kann. Doch ist dies wirklich, wie Tucholsky meint, eine typisch deutsche Eigenschaft, oder nicht vielleicht eine typisch menschliche?


    Ich glaube, dass besonders totalitäre Systeme oder auch im kleinen, diejenigen die die Macht haben und ausüben, sehr empfindlich auf Satire reagieren.


    Im Falle von Tucholsky handelt es sich halt um die deutsche Gesellschaft samt Kaiser bzw. Anfang der Weimarer Repuplik.
    Der Artikel "Was darf die Satire" erschien im Berliner Tageblatt, 27.01.1919.


    Im übrigen finde ich Tucholskys Artikel zwar gut und treffend, aber fast erstaunlich unsatirisch.

  • Das Wertepaar Toleranz und Prinzipientreue hat für mich erst einmal scheinbar nicht allzuviel miteinander zu tun. Dennoch eine sehr interessante Paarung.


    Im Zusammentreffen verschiedener Kulturen zeigt sich doch immer wieder auch Toleranz – doch so weit – verschiedene Kulturen aufeinandertreffen zu lassen - muß man gar nicht gehen. Diese zeigt sich schon beim schlichten Zusammentreffen zweier x-beliebigen Menschen. Mann und Frau zum Beispiel. :lache


    Auch Prinzipientreue ist ein spannender Punkt. Meist hat man seine Prinzipien. Aber wie oft wirft man diese über Bord, weil es anders einfacher ist? Oder man seine Prioritäten anders ordnet? Wie weit würde man gehen, um für seine Prinzipien einzustehen? Dabei mußte ich an Dietrich Bonhoeffer denken, an die Geschwister Scholl, Stauffenberg und noch viele mehr, die alle für ihre Überzeugung gestorben sind. :-(


    Das Kapitel als solches werde ich wohl später noch einmal durchgehen, denn ich fand hier zu einigen Texten keinen wirklichen Zugang. Aber das macht ja nix. Post it an den Rand und gut ist. Das läuft mir ja nicht davon.


    Tucholsky
    Den Text fand ich interessant und aufschlußreich. Was darf die Satire? Sie darf Mißstände aufdecken, indem sie mit dem Finger darauf zeigt. Sie darf und muß dabei übertreiben, damit man die Wahrheit deutlicher erkennt.


    Doch für mich stellt sich dabei stets die Frage: Wie weit darf man gehen? Hört nicht da der „Spaß“ auf, wo man andere Menschen bzw. deren Gefühle verletzt? Sollte man nicht auch akzeptieren und, um beim Titel des Kapitels zu bleiben, tolerieren, daß die Schmerzgrenzen jeweils unterschiedlich angesiedelt sind?


    Tucholsky schreibt: Was darf die Satire? Alles.
    Ich kann ihm da nicht zustimmen.


    Herr Palomar schrieb:
    Im übrigen finde ich Tucholskys Artikel zwar gut und treffend, aber fast erstaunlich unsatirisch.


    Als Satire habe ich den Text ebenfalls nicht empfunden, eher als Rechtfertigung derselben in seinen Texten. Oder wie erging es Euch so bei der Lektüre?


    Saramago
    Ein interessanter Brief, eine sehr interessante Fabel... und auch für mich der Anstoß, mehr über Salman Rushdie wissen zu wollen, der in den letzten Jahren scheinbar (vermutlich auch zu seinem eigenen Glück) wieder ein wenig aus den Medien verschwunden ist.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Zitat

    Original von Batcat
    Doch für mich stellt sich dabei stets die Frage: Wie weit darf man gehen? Hört nicht da der „Spaß“ auf, wo man andere Menschen bzw. deren Gefühle verletzt? Sollte man nicht auch akzeptieren und, um beim Titel des Kapitels zu bleiben, tolerieren, daß die Schmerzgrenzen jeweils unterschiedlich angesiedelt sind?


    Prinzipiell gebe ich dir irgendwie recht, dass das Verletzen der Gefühle anderer sicher kein "Spaß" mehr ist. Auf die Praxis bezogen ist diese Gratwanderung aber mehr als schwer, denn woher weiß ich, ab welchem Punkt die Gefühle anderer verletzt werden? Sich in andere hinversetzen bringt sicherlich etwas, aber ganz sicher keine endgültige Gewissheit, denn jeder ist doch zu sehr von seiner eigenen Umgebung geprägt. Beispiel: Wäre ich der Zeichner der Mohammed-Karikaturen würde ich mich fragen, ob mich als gläubigen Christ Karikaturen über Jesus/Gott stören würden. Nein, würden sie prinzipiell nicht - aber es gäbe bestimmt geschmacklose Ausnahmen. Sehe ich meine Karikaturen als geschmacklos oder nur sehr treffend an? Als sehr treffend. Also werden sie veröffentlicht. Was daraus wurde, ist ja allgemein bekannt... Die "Schmerzgrenze" ist doch im Zweifel auch individuell anzusiedeln und nicht ausschließlich auf Gruppen, Religionen, Staatsangehörigkeiten zurückzuführen. Wo also soll man die Grenze ziehen? Im konsequentesten Fall dürfte es dann keinerlei Satire geben, weil man bestimmt IRGENDJEMANDES Gefühle verletzen könnte. Ist das dann in Ordnung? Hm, fraglich.

  • @ milla


    Das ist es ja... diese Gratwanderung. Man weiß es nie, wie sensibel das Gegenüber ist.


    Was ich allerdings an der Mohammed-Sache letztes Jahr verstörend fand: Nachdem diese Geschichte publik war und es feststand, daß sich anscheinend beinahe die gesamte muslimische Welt auf die Füße getreten fühlt, druckten etliche Zeitungen die Zeichnungen ab und fragten nach, ob sie denn wirklich so "schlimm" seien.


    Das fand ich nicht gut. OK, wir haben glücklicherweise Pressefreiheit - aber wenn so etwas so einen Sturm der Entrüstung hervorruft.... MUSS ich dann, um diese Freiheit zu demonstrieren extra noch mal den Stein des Anstoßes publizieren?


    Vielleicht war das damals nicht die Intention - aber auf mich wirkte es eben so.


    Wobei wir das Problem mit der Toleranz und dem Verletzen von Gefühlen ja im ganz kleinen Maß schon hier beobachten dürfen. Wenn ich z.B. zu Alexx sage, "Mann, bist Du doof", dann nimmt sie mir das nicht weiter krumm. Würde ich dasselbe zu einer dünnhäutigeren Eule sagen, würde mich diese zukünftig evtl. ignorieren.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Zitat

    Original von Batcat
    Was ich allerdings an der Mohammed-Sache letztes Jahr verstörend fand: Nachdem diese Geschichte publik war und es feststand, daß sich anscheinend beinahe die gesamte muslimische Welt auf die Füße getreten fühlt, druckten etliche Zeitungen die Zeichnungen ab und fragten nach, ob sie denn wirklich so "schlimm" seien.


    Oh ich glaube zu dem Zeitpunkt war ich von der Sache schon so genervt, dass ich das nicht so richtig mitbekommen habe - aber ok finde ich das auch nicht, da stimme ich dir absolut zu!