Poetik-Dozentur Heidelberg - Louis Begley

  • Eröffnung der Poetik-Dozentur 2006 – Between facts and fiction


    An diesem milden Novembertag habe ich mich auf den Weg nach Heidelberg gemacht, um dort Louis Begley erste Vorlesung seiner Poetikdozentur zu hören.
    Es macht Spaß, ehrfürchtig in der Aula der alten Universität Heidelbergs mit all den Wand- und Deckengemälden zu sitzen und einen sicheren literarisch-essayistischen Höhepunkt zu erwarten. :wow
    Es ist voll, aber nicht brechend voll besetzt, wie in Unis manchmal bei mancher „normalen“ Vorlesung


    Nach einer Einleitung von Prof. Dr. Helmuth Kiesel in Louis Begleys literarisches Werk folgt als zweites (wegen leichter Verspätung des Bürgermeisters) die Begrüßung Louis Begleys in Englisch.


    Dann endlich beginnt Begley mit seiner Vorlesung mit dem Thema
    Autobiography or Novel: Fact or Fiction?


    Die Poetikvorlesungen widmen sich dem komplexen Verhältnis von Fakten und Fiktion, von gelebten Leben und Literatur. Es geht um die Frage, inwieweit sich das Leben eines Autors in seinen Romanen niederschlägt, und ob nicht vielleicht umgekehrt der Autor sich Helden erfindet, in denen er sich sein Leben spiegeln kann.
    Aus dem Flyer des Germanistischen Seminar zur Poetikdozentur.

    Begley spricht mit leiser Stimme in Englisch ins Mikro. Er fordert damit den Zuhörer einiges an Konzentration ab.


    Daniel Defoe´s Robinson Crusoe, Cervantes Don Quijote und sogar Harry Potter: Immer fragen sich Leser und Kritiker nach der Wahrheit, dem wirklichen geschehen des Geschilderten (The look for Truth)
    Am Beispiel seiner Romane in der Reihenfolge der Entstehung klopft Begley die Figuren ab. Wer ist Real, wer ist Fakt? Und sind Figuren, die auf autobiographischen Erinnerungen basieren noch Real oder schon Fiktiv?


    Begley ist der große, schnörkellose Realist unter den amerikanischen Schriftstellergrößen.
    Seine Bücher sind natürlich stark autobiographisch, besonders Lügen in Zeiten des Krieges. Begley ist selbst erstaunt, dass seine Bücher trotzdem als Romane akzeptiert werden.
    Am Ende gibt Begley noch Beispiele von Kafka, Proust und Stendal.


    Als Hausaufgabe werden noch Kopien mit Textauszug der nächsten Vorlesung von Begley verteil. Da heißt es jetzt PAUKEN! :learn


    Einige Zeit nach der Vorlesung war der Autor noch so freundlich Bücher zu signieren. :-]
    Jetzt habe ich Mistlers Abschied signiert und ihr wisst, was ich zurzeit lese.


    Zusatzinfo: Wie der Autor verriet, wird sein neuer Roman „Ehrensache“ im Januar in den USA und im März 2007 in Deutschland erscheinen





    Weitere Termine:



    Mittwoch 29.11.2006 20:00 Uhr
    im Deutsch-Amerikanischen Institut DAI in Heidelberg.
    Doppellesung mit Patrick Roth


    Sonntag, 19. November 2006, 11.00 Uhr
    Theater der Stadt Heidelberg


    Louis Begley liest aus den Romanen
    Wartime Lies, As Max Saw It, About Schmidt
    Lesung mit Louis Begley


    Donnerstag, 23. November 2006, 19.00 Uhr
    Neue Universität, Hörsaal 14


    A Story is Born: Epithalamion 2004: A Fable
    Poetikvorlesung mit Louis Begley


    Donnerstag, 30. November 2006, 19.00 Uhr
    Neue Universität, Hörsaal 14


    Leaving Well Enough Alone
    Poetikvorlesung mit Louis Begley

  • An diesem immer noch milden Novemberabend setzte Louis Begley seine Poetik-Dozentur in Heidelberg fort. Diesmal fand sie in Hörsaal 14 der neuen Universität statt.


    Zur Grundlage für die Erläuterung zwischen Fact und Fiction las Begley Ausschnitte aus einer Short Story und erläuterte biographische Hintergründe und Stilmittel einzelner Passagen.
    Begley kennt die Emotionen seiner Leser genau und weiß, wo und wann er Metaphern wirkungsvoll einsetzen kann.
    A Story is Born war das Thema und das erfüllte Begley sehr eindrucksvoll.


    Die Short Story hieß Epithalamion 2004: A fable und erschien in Commited Men tell stories of Love, Commitent, and ;arriage, Edited by Chris Knutson and David Kuhn.
    Ein Glück, dass ich die Story kurz vor der Vorlesung schon gelesen hatte, da Begley in seinem Vortrag wieder hohe Ansprüche an seine Zuhörer stellte und ich ohne Kenntnisse der Geschichte wohl kaum hätte folgen können.


    Lokationen wie New York, Boston, Palo Alto und San Franzisko bringen viel Atmosphäre in die Geschichte.


    In dieser Story wählt Begley einen unemotionellen Narrator, der am Beispiel der Liebe (über viele Jahre hinweg) zwischen den beiden Protagonisten Alex und Mary, die möglichen Stationen einer Beziehung aufzeigt: Erstens Kennen lernen und verlieben, sich trennen, wieder treffen, Affären, Heirat, Eifersucht, Kind, Trennung, Scheidung und neue Partner.


    Erstaunlich der unemotionale Stil in Verbindung von Märchenmotiven.
    Da gibt es raven-haired Rapunzel swinging a green book bag, verzauberte Frösche und ein live happily ever after.


    Begley spricht über reale Vorbilder zu den Protagonisten und Ereignissen und wo die Realität der Imagination weichen muss und zeigt so sehr interessant einen Schreibprozess auf.




    Bei der nächsten Vorlesung beschäftigt Louis Begley sich mit dem Leben eines Schriftstellers und seine Fiktion. Titel der Vorlesung: Leaving Well Enough Alone


    Donnerstag, 30. November 2006, 19.00 Uhr
    Neue Universität, Hörsaal 14


    Und am Mittwoch liest er aus seinem neuen Roman im Deutsch Amerikanischen Institut DAI in Heidelberg.

  • Heh, ein sehr interessanter Bericht.
    Auch wenn ich den Schriftsteller noch nicht kenne, was du so schreibst macht doch neugierig.
    Ist das eine freie Vorlesung oder ist das an den Studentenstatus bzw. an bestimmte Studienrichtungen gebunden?

  • Der Eintritt zu den Vorlesungen ist für jeden frei und kostenlos.
    Schließlich wird die Poetik-Dozentur aus öffentlichen Geldern finanziert.
    Am Donnerstag ist die letzte Vorlesung.


    Aber wenn Begley am Mittwoch im DAI aus seinem neuesten Roman liest, wird das vermutlich Eintritt kosten.

  • Habe ich das jetzt richtig verstanden: Bei Begley spiegelt sich sein eigenes Leben sehr stark in dem seiner Protagonisten, man kann sich also beim Lesen seiner Romane durchaus auch ein Stück weit in ihn persönlich hineindenken.
    Sieht er das auch bei anderen Autoren oder gibt es seiner Meinung nach auch welche, die völlig unabhängig von sich selbst Charaktere erfinden, die zugleich noch nicht einmal die Leben leben, die die Autoren sich unter Umständen selbst wünschen? Ich glaube, das ist ein auch unter anderen Autoren häufig dikutiertes Thema.

  • Louis Begley geht in seinen Vorlesungen sehr komplex an diese Fragestellung heran, so dass ich es nicht wage, diese Frage mit ja oder nein zu beantworten.


    In Begleys ersten Roman "Lügen in den Zeiten des Krieges" ist es auf jeden Fall sehr autobiographisch. Das erzählte Schicksal ist sein eigenes.
    Deshalb hat er so lange gebraucht, bevor er es niederschreiben konnte.


    Vieles, was er schreibt, basiert auf realen Personen und Ereignissen.
    Aber irgendwann beginnt die Imagination die Realität abzulösen.
    Somit ist da ein Zwischenraum, in der sich die Frage stellt, was ist fact und was fiktion. Diese Thematik erläutert Begley an konkreten Beispielen, die ich leider nicht adäquat wiedergeben kann.


    Begley nutzt in erster Linie seine eigene Prosa zur Beantwortung der Fragestellung seiner Vorlesungen, er gibt aber auch Beispiele von Autoren der Weltliteratur: Kafka, Cervantes, Celine.
    Aktuelle Autoren hat er weniger erwähnt, aber bei der nächsten Vorlesung wird Milan Kundera´s Roman "Die unerklärliche Leichtigkeit des seins" eine Rolle, wenn ich es richtig verstanden habe.


    Hier noch ein Link, der sich mit Begley Poetik-Dozentur und der Thematik Fact und Fiction auseinander setzt und es vielleicht etwas besser erklärt:
    http://www.uni-heidelberg.de/presse/news06/2611font.html


    Ich vermute außerdem, dass die Texte der Vorlesungen noch auf der Homepage der Heidelberger Poetik-Dozentur eingestellt werden.

  • Ines,


    es ist nicht gesagt, dass nächstes Jahr die Poetik-Dozentur stattfindet, manchmal ist nur ein zweijähriger Rythmus möglich, da es wohl mit einigem Aufwand verbunden ist.
    Ich habe dieses Jahr auch erst spät von der Poetik-Dozentur erfahren, da ich nicht in Heidelberg wohne.
    Aber sobald ich von der nächsten Poetik-Dozentur erfahre, werde ich es wissen lassen.


    Die letzte Poetik-Dozentur in Heidelberg war 2004 mit Patrick Roth.
    Sehr hohes Niveau, starke Umsetzung.
    Diese Vorlesungen sind als "Zur Stadt am Meer" veröffentlicht.


    2003 gab es eine Poetik-Dozentur mit verschiedenen Autoren der Pop-Literatur: Alexa Hennig von Lange, Thomas Meinecke, Kathrin Röggla, Feridun Zaimoglu, Eckhard Nickel, Elke Naters, Andreas Neumeister
    Das hat mir nicht so zugesagt.


    2001 war es Ulla Berkéwicz (auch eine sehr starke Dozentur)


    1993 wurde die Poetik-Dozentur gegründet.
    Ebenfalls eingeladene Autoren vor 2001: Martin Walser, Ulla Hahn, Dieter Kühn, Volker Braun, Brigitte Kronauer, Hanns-Josef Ortheil, Michael Rutschky, Eckhard Henscheid.

  • Zitat

    Original von Liesbett
    Was hat dir denn an den Pop-Literaten nicht so zugesagt? Eher die Literatur oder die Art, wie diese Damen und Herren ihre Vorlesungen gestaltet haben?


    Ich habe ja nicht alles gesehen, aber die Lesungen fand ich jetzt nicht so prickelnd und die eine Podiumsdiskussion ging ziemlich an mir vorbei, da ich kein ausgesprochener Fan der Pop-Literatur bin.


    Der Haupgrund, dass es mir nicht so gefiel, war aber, dass einfach zu viele Autoren vertreten waren. Bei der typischen Poetik-Dozentur lernt man sonst den Dozenten beim Besuch mehrerer Veranstaltungen ganz gut kennen.

  • Gestern, am 29.11.06 fand als Begleitveranstaltung zur Poetik-Dozentur eine Doppellesung Louis Begley und Patrick Roth im Deutsch-Amerikanischen-Institut in Heidelberg statt.


    Von Jakob Köllhofer erfolgte eine Einleitung, er zählte Gemeinsamkeiten der Autoren auf. Da diese Veranstaltung im Lyrik-Festival PoeZone4 angesiedelt wurde, erwähnte er, dass Louis Begley reine Prosa schreibt. Das ist sicherlich richtig. Bei Begleys Stil ist der bekannte Vergleich als amerikanischer "Fontane" gar nicht mal so schlecht.
    Die Veranstaltung war gut besucht, für die letzten Zuschauer mussten noch Stühle in den großen Saal des DAI hineingetragen werden.


    Louis Begley las aus seinem noch unveröffentlichten, autobiographisch angehauchten Roman "Matters of honor" (auf deutsch Ehrensache), der 2007 in den USA und in Deutschland erscheinen wird.
    Begley entführt den Zuhörer in eine Zeit, als 3 Freshman 1956 am Havard-College ihr Studium begannen. Sam, Henry und Archie sind die Figuren, die Begley in einem humorvollen, nüchternen Ton mit leiser Ironie schildert. Der Ich-Erzähler ist Begleys Alter Ego aus seiner Zeit in Havard.
    Wie Jakob Köllhofer in seiner Einleitung erwähnte, hat Louis Begley in Havard z.B. zusammen mit John Updike studiert.
    Sowohl Dialoge als auch Erzählstil sind altmodisch, aber liebevoll und auf einem hohen Niveau gestaltet.
    In den lakonischen Dialogen gibt es originelle Zitate, z.B. auf Capra-Filme.


    Ich freue mich schon auf das Erscheinen desa Romans voraussichtlich im März.


    Patrick Roth las aus seiner neuen Novelle Lichternacht. Eine mystische Weihnachtsgeschichte im typische Roth-Stil, wie man ihn aus Starlite terrace kennt. Die Handlung spielt größtenteils auf der Whitestonebridge zwischen Bronx und Queens im Schneesturm.
    Durch Patrick Roths stimmlicher Performance trat eine geheimnisvolle, atmosphärische Stimmung ein, die restlos überzeugte. Leider war seine Novelle am Büchertisch im DAI schon vor Lesungsbeginn restlos ausverkauft.


    Einziger Minuspunkt der Veranstaltung war, dass es nicht mehr, wie erhofft, zu einer Möglichkeit kamm, Fragen zu stellen. Dies wurde nur halbherzig in Aussicht gestellt, doch da sich die Autoren nicht mehr auf der Bühne befanden und das Publikum nicht sofort reagierte, sofort abgewürgt und die Doppellesung nach nur einer guten Stunde beendet.


    Anschließend bildeten sich Schlangen von Leuten mit Signierwünschen, die die Autoren freundlich und souverän erfüllten.

  • 30.11.06: Der Weg führt wieder mal über den Heidelberger Weihnachtsmarkt fast direkt zum Hörsaal der Universität.


    Der Titel der letzten Vorlesung der diesjährigen Poetik-Dozentur von Louis Begley lautet "Leaving Well Enough Alone".
    Und Louis Begley wird mit dieser Vorlesung einen großartigen Höhepunkt seiner Dozentur setzen.


    Immer intensiver wird das Thema Fact und Fiction behandelt. Louis Begley bringt 2 Beispiele, die er schon in seiner ersten Vorlesung erwähnt hat: Marcel Proust und Franz Kafka.
    Bei diesen beiden Autoren fand sich sowohl bei Lesern als auch bei Kritikern ein großes Interesse an dem Leben der Autoren als Vorlage für ihre Prosa.


    Begley führt das Beispiel in einer großen Tiefe aus, nur kurz erwähnt er auch seinen eigenen Roman Lüge in den Zeiten des Krieges (Wartimes lies), bei dem nur die Romanform erlaubte, über seine Erinnerungen als Kind in Polen während des Krieges zu schreiben.
    Die Erinnerungen des Jungen verschwimmen im Laufe des Jahre. Was bleibt sind beeinflusste Erinnerungen, die eine neue Realität erzeugen, die nicht mit den wirklichen Geschehnissen übereinstimmen. Deshalb wurde es keine Autobiographie


    Doch zurück zu Proust. Es ist bei dieser Vorlesung von Nutzen Marcel Prousts Werk und ihre Figuren (Swann, Odette, Gilberte, Albertine, Bergotte) wenigstens etwas zu kennen, um Begleys Ausführungen folgen zu können.


    Proust Homosexualität war Gegenstand des allgemeinen Leserinteresses an seinem berühmten Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Geliebte des Titelhelden Marcel hieß Albertine, reale Vorlage war ein Mann. Wird der Roman dadurch bereichert oder entwertet, wenn der Leser dies weiß und nach versteckten Schlüsseln sucht?
    Mit der berühmten Sterbeszene Bergottes zeigt Begley nochmals, wie Proust reale Personen und Ereignisse für seine Literatur benutzte.


    Als zweites Beispiel führt Begley Kafka an.
    Tagebücher, Briefe an Felice und Briefe an Milena wurden nach seinen Tod veröffentlicht. Sein Freund Max Brod vernichtete sein unveröffentlichtes Werk nicht, wie Kafka verlangt hatte.
    Begley zitiert einige Briefe und Tagebucheintragungen, bringt auch Bezüge zu Der Verwandlung und Der Prozess. (Wieder sollte der Zuhörer das Werk und seine Personen annäherungsweise kennen, um folgen zu können)
    Leser, die versuchen aus Szenen des Lebens Kafkas auf sein Werk zu schließen werden keinen Vorteil haben.
    Ein Kennen von Leben des Autors ist für das Lesen der Texte nicht notwendig.


    Louis Begley ist der Auffassung, dass ein Entschlüsseln und suchen nach realen Vorlagen für Personen und Ereignisse dem Roman nicht gerecht werden und dem Leser keinen größeren Wert bringt, als wenn einfach der Text als das genommen wird, wie er geschrieben ist. Die Literatur wird durch bloßes Entschlüsseln entwertet und zu stark vereinfacht.
    Der Jurist Louis Begley bringt damit zum Abschluss ein großartiges Plädoyer für die Literatur.


    Reader shall trust the author!


    Let the story let speaks to you as its written. Trust the story.




    Auf der Homepage der Poetik-Dozentur werden vermutlich bald die Texte der 3 Vorlesungen zum download eingestellt. http://www.gs.uni-heidelberg.de/poetik/
    Das erlaubt ein Nachvollziehen der Vorlesungen. Das wird sehr nützlich sein, da Tempo des Vorlesens und die englische Sprache nur ein teilweises, erstes Verstehen ermöglichten.

  • Ich bin mir nach dem ersten Durchlesen noch nicht sicher, ob ich mich Begley anschließen kann oder nicht. Rational gesehen sollte man das Werk sicher immer vom Leben und Erleben des Verfassers trennen. Andererseits scheint es mir nur menschlich zu sein, eben doch, bewusst oder unbewusst, biographische Fakten mit einfließen zu lassen, wenn nicht beim Schreiben so doch beim Lesen. Kann man etwas dagegen tun?


    Danke für die Beiträge, Palomar.
    Die sind für sich stehend ebenfalls gut geschrieben und ich habe ein klein wenig das Gefühl , dabei gewesen zu sein. :-)