Existieren

  • Du versuchst, es dir trotz der Plastiksitze irgendwie in der Ecke bequem zu machen. Das helle Licht lässt die Umgebung neutral wirken, gefühllos. Menschen sitzen dir gegenüber, neben dir, weiter entfernt. Doch du nimmst nicht mehr von ihnen wahr, als ein ungenaues Bild ihrer Äußerlichkeiten. Deine Stirn berührt die kühle Scheibe und du blickst in die dunkler werdende Welt, bereits erleuchtet von Straßenlaternen. Sie zieht an dir vorbei, ohne dass du sie einer genaueren Betrachtung würdigst. Grau in grau reiht sich eine Straße an die andere. Dein Atem lässt die Scheibe leicht beschlagen. Du atmest, du siehst, du hörst. Dein Herz schlägt, doch du kannst es nicht hören, weil es vom Motorengeräusch übertönt wird. Du bewegst dich nicht, passt dich deiner Umgebung an, unbewusst. Dann schließt du die Augen und sinkst tiefer in deinen Sitz. Nächster Halt. Du musst aussteigen.

  • Du beobachtest sehr intensiv und schreibst dann sehr ausführlich über deine Beobachtungen. Mir ist dein Text ein klein wenig zu überladen. Weniger wäre in diesem Falle sicher mehr. Aufgrund deiner Beschreibungen kann man sich aber als Leser ein sehr genaues Bild über die Situation machen.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Danke für die Kommentare!


    @ Voltaire: Ich denke, wenn ich die Beschreibungen weggelassen hätte, wäre nicht mehr viel übrig vom Text ;)
    Mir ging es auch eigentlich darum, die Situation so zu schildern, wie ich sie erlebt habe, da mir ihre Absurdität in dem Moment so aufgefallen ist. Und ihre Übertragbarkeit auf einen größeren Kontext...


    Gruß, Emi

  • Ich fand den Text nicht überladen. Sehr ansprechend.
    Dieses schlaffe sich-dahin-treiben-lassen, dieses Ausgehöhlte, Willenlose tritt sehr gut hervor. Und dann: "Du musst aussteigen.": Raff dich auf, lauf selbst, übernimm die Kontrolle.


    Ich finde den Text gerade in seiner Kürze sehr schön und seine Dichte ist, denke ich, auch ein Stück funktional: Man wird quasi erdrückt von den Details ;)

    Unser Unglück erreicht erst dann seinen Tiefpunkt, wenn die in greifbare Nähe gerückte praktische Möglichkeit des Glücks erblickt worden ist. (Michel Houellebecq, Elementarteilchen)

  • Hallo Emi,


    gefällt mir unheimlich gut. Das "Du musst aussteigen" ist vielseitig interpretierbar. Ich habe es auf das Stadtleben bezogen. Jemand anders bezieht es vielleicht Aufgrund der Überschrift auf das Leben an sich.


    Es nur auf den Bus zu beziehen, würde jedenfalls bedeuten, Deinen Text nicht verstanden zu haben.


    Wenn Du jetzt noch 40 Worte streichen würdest, hättest Du übrigens ein lupenreines Drabble geschrieben!


    Das ist ein Drabble


    Grüße,
    crycorner


    ... der findet, dass Du in der Anfängerecke eigentlich nix verloren hast.

    Enttäuscht vom Affen, schuf Gott den Menschen.
    Danach verzichtete er auf weitere Experimente.

    - Mark Twain -

  • Zitat

    Original von Emi
    ... die Situation so zu schildern, wie ich sie erlebt habe, da mir ihre Absurdität in dem Moment so aufgefallen ist. Und ihre Übertragbarkeit auf einen größeren Kontext...


    Gruß, Emi


    Es ist wirklich sehr gut beobachtet und geschildert. Eine nächtliche Bahnfahrt in der Tram. Da sitzt man und schaut raus und döst vor sich hin. Das Absurde der Situation kommt für mich überhaupt nicht heraus. Wo ist das widersprüchliche, das, was wirklich aus dem Rahmen fällt und die Situation zu einer besonderen macht? Täglich fahren Millionen von Menschen nachts Tram und steigen, wenn es soweit ist, auch aus.
    Alles, was für Dich da auf einen größeren Kontext übertragbar ist, scheint bislang noch in Deiner Phantasie zu ruhen. Mag sein, dass es da etwas gibt, es wird aber mit keiner Silbe im Text namhaft gemacht. Die kleine Doppeldeutigkeit am Ende reicht (mir) dafür jedenfalls nicht aus, dafür ist mir - verzeih - eine Bahnfahrt zu banal.
    Es ist, und darin muss ich andern Kritikern widersprechen, für mich eher zu wenig geschrieben als zu viel. Mir fehlt an dem Text das Besondere, Bemerkenswerte - oder eben widersprüchliche. Allein die wirklich ausführlichen Beobachtungen machen noch keinen guten Text.

  • Hallo Licht,


    siehst Du in diesem Text wirklich nichts weiter, als eine nächtliche Bahnfahrt, so wie sie täglich Millionen Menschen erleben?


    Ich lese in jedem Satz Hinweise auf die Gefühlswelt des Prot. Darauf, wie er seine Umgebung wahrnimmt: neutral, gefühllos, ungenaue Bilder, Äusserlichkeiten, die dunkler werdende Welt, die an Dir vorbeizieht, ohne genauer betrachtet zu werden, grau in grau, sinkst tiefer in Deinen Sitz.


    Für mich genügend Hinweise darauf, dass der Prot empfindet, dass er "existiert", statt zu leben. Und den Wunsch verspürt, auszusteigen.


    Für mich ist der Text eigentlich ein schönes Beispiel zum Thema: "Show, don´t tell".


    Grüße,
    crycorner

    Enttäuscht vom Affen, schuf Gott den Menschen.
    Danach verzichtete er auf weitere Experimente.

    - Mark Twain -

  • Oha, ich hätte ja gar nicht gedacht, dass mein Text hier nochmal ausgegraben wird - aber es freut mich natürlich sehr :)


    crycorner, ich könnte dir gerade (virtuell) in die Arme fallen dafür, dass du verstehst, was ich mit dem Text auszusagen versucht habe... wirklich, ich bin gerade zufällig auf die Seite gekommen, da ich hier eigentlich nicht wirklich aktiv bin, und habe gesehen, dass etwas zu meinem Text geschrieben wurde... und ich hab mich wirklich gefreut. Das mag jetzt echt übertrieben klingen, weil es einfach nur ein dummer Text ist, aber das Gefühl, verstanden zu werden, ist... genial. :)
    Naja, dass du sagst, ich hätte bei den Anfängern nichts zu suchen... ich glaub, da muss ich dir widersprechen... ich bin eigentlich Anfänger in jeglicher Hinsicht - ich hab hier kaum Forenbeiträge geschrieben, d.h. bin quasi immernoch Neuling hier, und was das Schreiben betrifft... hm... das ist, glaub ich, nach "Frühlingserwachen" der 2. Text dieser Art, den ich überhaupt jemals geschrieben habe... aber ich fühl mich durch deine Einschätzung natürlich sehr geehrt, also... danke! ;)


    licht, ich kann in gewissem Maß durchaus nachvollziehen, was du meinst. Mein Text ist mit Sicherheit nicht außergewöhnlich und bestimmt hätte man die Aussage auch besser verpacken können. Aber daran, dass crycorner alles vollkommen verstanden hat, sehe ich, dass ich anscheinend doch nicht ganz daneben gelegen haben kann...
    Trotzdem natürlich vielen Dank für deine Kritik und ich werd mir sicherlich einiges zu Herzen nehmen für weitere Versuche!




    Und übrigens... ich hab diesen Text jetzt zum ersten Mal wieder seit... ich glaube, seit meinem letzten Beitrag (oben) gelesen... das ist also fast ein Jahr her. Und ich kann mich an die Bahnfahrt noch genau so erinnern, als wär es gestern gewesen. (Ich find das fast ein bisschen unheimlich...) Ich weiß sogar noch, welches Lied ich gehört habe, als ich da saß... und ich glaube, dass das einiges zu meiner Stimmung in dem Moment beigetragen hat.
    Falls es jemanden interessiert...: http://www.youtube.com/watch?v=BLmTJpnqxj4
    Es geht nicht um den Text oder so, einfach nur um die Atmosphäre des Lieds.


    Naja... nun denn, schön, dass jemand meinen Text mag, ich freu mich immernoch x)


    Grüße,
    Emi

  • Hallo Emi,


    Zitat

    Original von Emi
    crycorner, ich könnte dir gerade (virtuell) in die Arme fallen dafür, dass du verstehst, was ich mit dem Text auszusagen versucht habe... wirklich, ich bin gerade zufällig auf die Seite gekommen, da ich hier eigentlich nicht wirklich aktiv bin, und habe gesehen, dass etwas zu meinem Text geschrieben wurde... und ich hab mich wirklich gefreut. Das mag jetzt echt übertrieben klingen, weil es einfach nur ein dummer Text ist, aber das Gefühl, verstanden zu werden, ist... genial. :)


    :knuddel1


    Freut mich, dass Du Dich freust. Und freut mich auch, dass ich mit meiner Interpretation richtig lag. Oft genug interpretiere ich eine gewisse Tiefe in einen Text, die der Autor weder gewollt hat, noch für gut befindet. War in diesem Fall für mich aber nicht schwierig...


    Zitat

    Original von Emi
    Naja, dass du sagst, ich hätte bei den Anfängern nichts zu suchen... ich glaub, da muss ich dir widersprechen... ich bin eigentlich Anfänger in jeglicher Hinsicht - ich hab hier kaum Forenbeiträge geschrieben, d.h. bin quasi immernoch Neuling hier, und was das Schreiben betrifft... hm... das ist, glaub ich, nach "Frühlingserwachen" der 2. Text dieser Art, den ich überhaupt jemals geschrieben habe... aber ich fühl mich durch deine Einschätzung natürlich sehr geehrt, also... danke! ;)


    Na, schau, ich will Dich nicht über den grünen Klee loben, aber Dein Sprachgefühl ist sehr gut und Du hast in dem kurzen Text eine Atmosphäre geschaffen, die ich in vielen anderen Texten, die hier nicht in der Anfängerecke stehen, nicht finden konnte. Daher - egal wie lange Du schon schreibst - gehören Deine Texte hier bei den Büchereulen definitiv nicht in die Anfängerecke.
    Ich hoffe, Du bleibst bei der Schreiberei. Du hast definitv Talent.


    Als sonstige Foren zum üben kann ich Dir übrigens folgende empfehlen:
    Kurzgeschichten-Planet
    Drabbles


    Letztere war leider nicht mehr so gut besucht, aber ein paar Aktive gibt es da immer und Drabbles können tatsächlich süchtig machen :grin


    Ansonsten gerne hier, z.B. auch bei den Wettbewerben (aber die Regel bzgl. der Mindestbeitragszahl beachten, bevor Du Texte hier einstellst).


    LG,
    crycorner

    Enttäuscht vom Affen, schuf Gott den Menschen.
    Danach verzichtete er auf weitere Experimente.

    - Mark Twain -

  • Wow. Genau so geht es mir, wenn ich nach sechs Stunden Zugfahrt schon ganz müde und dösig bin und es draußen langsam dunkel wird.
    Ich finde es klasse, wie du das in Worte gefasst hast und danke dir dafür :-)


    Liebe Grüße,
    Antje