'Herz der Finsternis' - 3 Kapitel

  • Buch beendet, und es lässt mich zwiegespalten zurück...
    Endlich lerne ich Herrn Kurtz kennen, er ist vom Erscheinungsbild her so ganz anders als ich ihn mir vorgestellt habe, aber sein Charisma wurde gut beschrieben, ich fühlte mich auf sonderbare Art von ihm eingenommen...
    Sein Tod hat mich komischerweise nicht negativ berührt, ich hatte das Gefühl er war immer anwesend.
    Der Abschnitt als Marlowe das Päckchen an die Frau übergab hat mir, glaube ich, dann doch die Augen geöffnet und ich glaube ich begann zu verstehen...
    Es war nicht das Buch, welches ich sofort ein zweites Mal lesen würde, aber ich bin froh es gelesen zu haben.

  • Ich habe das Buch am Sonntag beendet, wußte dann aber nicht so recht, was ich darüber schreiben sollte.


    In den ersten beiden Kapiteln, die mir noch sehr gut gefallen haben, wurde die Spannung um den mysteriösen Herrn Kurtz so dermaßen aufgebaut, daß mich dann die Begegnung mit ihm etwas enttäuscht hat.
    Kaum war er da ist er auch gleich verstorben. Irgendwie ging mir das alles zu schnell.
    Wahrscheinlich habe ich die Botschaft nicht verstanden und müßte das dritte Kapitel noch einmal lesen, aber dazu verspüre ich zur Zeit wenig Lust.
    Vielleicht können mich noch ein paar interessante Beiträge von euch dazu verleiten meine Meinung diesbezüglich zu ändern.

  • Der dritte Teil – das muss ich schon zugeben – wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Was ist hier geschehen? Ein arbeitsloser Kapitän tritt in den Dienst einer europäischen Handelsfirma. Er erhält den Auftrag, ein Dampfschiff den Kongo hinauf bis zum äußersten Vorposten seines Arbeitgebers zu führen. Über den Leiter des Postens sind merkwürdige Gerüchte im Umlauf. Man entdeckt, dass der todkranke Mr. Kurtz ein geheimnisvolles Regime über die ansässigen Stammesbewohner ausübt. Trotz einigen Widerstandes gelingt den Europäern die Rückreise. Kurtz stirbt noch während der Fahrt. Marlow, der Kapitän, fühlt sich Kurtz´ Andenken verpflichtet; er sucht die Verlobte des Verstorbenen auf und berichtet ihr von dessen Tod.


    Heart of Darkness handelt m. E. von einer Grenzerfahrung. Marlow kehrt von seinem Kommando als anderer Mensch zurück. Aber die Gründe für diese Veränderung sind schwer zu beschreiben. Obwohl das zweite und auch das dritte Kapitel nahezu ausschließlich von Kurtz handeln, bleibt der Stationsleiter ein rätselhafter, unergründlicher Mensch. Seine konkreten Absichten oder Pläne bleiben im Dunkeln, Joseph Conrad belässt sie im Dunkeln. Wir erfahren nicht, was dieser Kurtz denkt. Marlows Bericht handelt, soweit ich sehe, ausschließlich von der Wirkung des Gesagten: auf den russischen Abenteurer („Kurtz weitete meinen Horizont“), auf die einheimischen Stammesbewohner („sie beteten ihn an“), auf Marlow („Ziel meines Lebens“). Als Kurtz aus seiner Behausung getragen wird und zu den Eingeborenen spricht, sagt Marlow nur: „Aus der Ferne drang eine tiefe Stimme zu mir herüber; er muss geschrien haben“ (Reclam, Seite 129). Von Kurtz´ Briefen, seinen Monologen werden nur Fragmente, Stichworte mitgeteilt: da geht es um hochtrabende Pläne, um Projekte, um die Liebe... Entscheidend ist nicht, was gesagt wird. Es geht um das Wie.


    Marlow ist in Afrika der „Finsternis“ begegnet und möglicherweise steht dieser Begriff für eine Welt, die von geheimnisvollen Naturmächten regiert wird, der die Menschen ausgeliefert sind und aus der sie ebenso spurlos verschwinden, wie sie erschienen sind. („Nach ein paar Tagen brach die Eldorado Expedition in die geduldig wartende Wildnis auf, die sich hinter ihnen verschloss, so wie sich das Meer über einem Taucher schließt.“) So hält auch der Tod nur noch Schrecknisse bereit und das ist m. E. der Alptraum, den Marlow von seiner Reise mit nach Hause nimmt.

  • Tja, auch am Anfang des dritten Kapitels erfahren wir nur indirekt von Mr. Kurtz.


    Der bunte Russe beschreibt ihn als Besessenen:"Er haßte alles hier und konnte doch irgendwie nicht davon loskommen."


    Die Hütte erinnert mit dem Zaun aus aufgespießten Köpfen, deren Gesichter zum Haus gewandt sind, an eine merkwürdige Art von 'Innenschau'. "Sie zeigten nur, dass es Mr. Kurtz bei der Befriedigung seiner verschiedenen Gelüste an Zurückhaltung mangelte."


    Und dann der lang herbeigesehnte Augenblick...der erste Anblick von IHM. Mir ging es ähnlich wie Charlotte, ich fand den Moment etwas enttäuschend. Aber auch Marlow ist ja von den Äußerlichkeiten nicht besonders begeistert (grausames Gespenst, erbarmungswürdiger & schauderhafter Körper), nur das "Feuer in den Augen" und die "stille Gelassenheit" beeindrucken ihn.


    Auch die Gesellschaft ist empört über Kurtz' Verhalten, wobei die Hintergründe alles andere als ehrenhaft sind:" Er hat nicht begriffen, dass der Zeitpunkt für energisches Vorgehen verfrüht war."..."Weil die Methode unsolide ist."


    Sehr bezeichnend fand ich seine letzten Worte "Das Grauen" und schließe mich damit John Dowland an

    Zitat

    So hält auch der Tod nur noch Schrecknisse bereit und das ist m. E. der Alptraum, den Marlow von seiner Reise mit nach Hause nimmt.

  • Die letzte Bemerkung von siwa hat mich ins Grübeln gebracht. Deshalb komme ich noch einmal auf Mr. Kurtz zurück. Mir ist klar, dass Heart of Darkness eine sehr außergewöhnliche Erfahrung beschreibt. Der weiße Fleck auf der Landkarte, zu dem Marlow sich aufgemacht hat, könnte sich nicht stärker seiner Herkunft unterscheiden: statt Kirchenglocken hören die Besatzungsmitglieder nächtliches Trommelgedröhn; Antilopenpriester führen Zaubertänze auf; das Klima, Nilpferde, Alligatoren, Stammeskrieger, die im Unterholz lagern, stellen eine jederzeit mögliche todbringende Gefahr dar. Eine kleine Unaufmerksamkeit des Kapitäns hätte genügt und die Mannschaft wäre entweder in den Mägen der vorzeitlichen Tierwelt oder auf den Holzspießen eines ausgehungerten Kannibalenstamms gelandet... Es ist klar, dass dieser Blick in die Finsternis „gewöhnlichen“ Menschen verwehrt bleibt. Marlow erklärt das seinen Schiffskameraden mit deutlichen Worten: „Ihr könnt es nicht verstehen. Wie solltet ihr auch, – mit festem Boden unter euren Füßen, von freundlichen Nachbarn umgeben, die bereit sind, euch schön zu tun oder in den Rücken zu fallen, fröhlich dahintänzelnd zwischen dem Fleischer und dem Polizisten, im heiligen Abscheu vor Skandal, Galgen und Irrenhaus – wie könnt ihr euch vorstellen, in welche urweltlichen Abgründe die ungehinderten Füße einen Mann tragen mögen, einfach infolge der Einsamkeit – der völligen Einsamkeit, ohne einen Polizisten – und des Schweigens, des völligen Schweigens, wo keine warnende Stimme eines Nachbarn zu hören ist, die von öffentlicher Meinung flüstert? Diese Kleinigkeiten machen den großen Unterschied aus. Sind sie einmal nicht mehr vorhanden, dann müßt ihr zu eurer eigenen Kraft Zuflucht nehmen, zu eurer eigenen Glaubensstärke.“ (Reclam Seite 106). Was Marlow hier sagt heißt ja: die Menschen leben in einer Scheinwelt, und von den Schrecknissen der Wirklichkeit machen sie sich keine Vorstellung.


    Dieser unverstellte Blick auf die Wirklichkeit ist aber nur ein Aspekt von Heart of Darkness. Um ihn zu schildern hätte es Mr. Kurtz nicht bedurft. Letzterer ist aber – anders als die Schiffsbesatzung oder die Angestellten der Handelsfirma – so etwas wie die Zentralfigur der Erzählung. Deshalb versteht man m.E. das Buch nicht, wenn nicht klar ist, worin das Besondere und Beeindruckende dieses charismatischen Anführers besteht.


    Inzwischen denke ich – aber da kann ich auch falsch liegen – dass Conrad einen Menschen schildern wollte, der den Blick auf die Schrecknisse der Wirklichkeit gewagt hat und diesen nicht ausgewichen ist. Das tut übrigens auch Marlow. Und das haben – wie in der Einleitung beschrieben – die Römer bei der Eroberung Britanniens getan („They were men enough to face the darkness“, Reclam Seite 10). Im Unterschied zu den übrigen Charakteren des Buches hat Kurtz aber damit begonnen, sich mit der Finsternis, die ihn umgibt (und die zugleich eine Finsternis im Innern ist) zu arrangieren. Er hat ihr sozusagen den Kampf angesagt. Die sich bietende Gelegenheit zum Rückzug oder zur Flucht schlägt er aus. Als Marlow das nächtliche Gespräch zwischen dem Anführer der Eldorado Expedition und dessen Neffen belauscht, stellt er fest: „Mir aber schien es, als sähe ich Kurtz zum ersten Male. Es war ein deutliches Bild: der Einbaum, vier paddelnde Wilde – der einsame weiße Mann, der plötzlich dem Hauptquartier den Rücken kehrte und damit auch der Ablösung und allen Gedanken an die Heimat – vielleicht; das Gesicht den Tiefen der Wildnis zugewandt, seiner leeren und trostlosen Station. Ich kannte den Beweggrund nicht.“ (Reclam Seite 68). Möglicherweise ist es Conrad um die Schilderung einer besonderen Unerschrockenheit, eines Kampf- und Abenteuergeistes gegangen, der den meisten Menschen abgeht und der ein tieferes (aber unbequemeres) Verständnis der Wirklichkeit enthält, als es eine Tageszeitung oder ein Schulbuch vermitteln könnten.

  • Ich denke auch, dass sich Kurtz der (und auch seiner) Finsternis gestellt hat. Die Frage für mich ist, wie hat es ihn verändert, bzw. was für ein 'wahrer' Charakter ist dabei herausgekommen?
    Es ist ihm gelungen, seine Überlegenheit zu bewahren, was wahrscheinlich auch daran lag, dass er schon vorher ein sehr charismatischer Mann war (wie ja auch von seiner Braut bestätigt wurde).
    Herausgekommen ist aber bei der Konfrontation mit den Urgewalten, zumindest in meinen Augen, nur ein ungezügeltes Ausleben von Macht und eigenen Gelüsten.

  • Zitat

    Original von siwa


    Herausgekommen ist aber bei der Konfrontation mit den Urgewalten, zumindest in meinen Augen, nur ein ungezügeltes Ausleben von Macht und eigenen Gelüsten.


    Da hast Du natürlich recht! Was soll man davon halten, wenn einer die Köpfe seiner Gegner auf Holzpfähle spießt? Und die Eingeborenen zu seinen Ehren „mitternächtliche Tänze“ und „unaussprechliche Riten“ aufführen lässt?
    Aber das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen wird Kurtz als „Abgesandter des Mitleids, der Wissenschaft und des Fortschritts“ gepriesen (Reclam Seite 54), als geistiger Führer („er weitete meinen Horizont“, S. 136), als einer, der Gedichte verfasst und über die Liebe spricht... Am meisten irritiert mich, dass sich Marlow, der ja seine fünf Sinne beisammen zu haben scheint, nicht entsetzt abwendet, sondern im Gegenteil über Kurtz´ Tod hinaus loyal an seiner Seite steht... (Seite 152).


    Ich habe jetzt eine neue "Theorie", die vielleicht ein bisschen sehr weit hergeholt erscheint, zur Diskussion möchte ich sie trotzdem stellen. Am merkwürdigsten ist mir nämlich die Beschreibung erschienen, die Marlow vom nächtlichen Zusammentreffen mit Kurtz abgibt : „Ich kam an ihn, und wenn er mich nicht kommen gehört hätte, so wäre ich wohl auch über ihn gestürzt; aber er stand noch zur rechten Zeit auf. Er erhob sich, unsicher, lang, blaß, undeutlich, wie ein von der Erde ausgeatmeter Dunst, und schwankte leicht nebelig, stumm, vor meinen Augen...“ (Seite 140). Und dann die eigenartige Formulierung, dass „ganz Europa“ zur Entstehung von Mr. Kurtz beigetragen hätte (Seite 108). Schließlich – die verschiedenen Berufe, die Kurtz im Lauf der Erzählung zu haben scheint: Maler, Dichter, Journalist, Musiker, Stationsleiter, Politiker...


    Was wäre, wenn es sich bei Kurtz gar nicht so sehr um einen Menschen (aus Fleisch und Blut sozusagen) handelt, sondern um eine Idee (beim Vergleich mit dem Nebel hatte ich zunächst an ein Gespenst gedacht...)? Kurtz könnte vielleicht für eine Art europäischen "Kolonialgeist" stehen – das würde Marlows Loyalität erklären, die Kette der Berufe und natürlich auch die „Auswüchse“, von denen Du gesprochen hast.

  • So, endlich habe ich das Buch ebenfalls zu Ende gelesen ... es war viel zu tun, und gleichzeitig lief ja auch noch die "Weiße-Blüten"-Leserunde, bei der ich natürlich mitmischen musste.


    So, ich bin also durch. Und bei diesem zweiten Lesen (das erste liegt einige Jahre zurück) wieder ebenso verwirrt wie zuvor. Ich habe versucht, zwischen den Zeilen zu lesen, den Hinweisen nachzugehen, aber so richtig befriedigend ist keiner meiner Schlüsse. Wer ist Kurtz? Was wollte Kurtz? Was ist das Große, das er erreichen, vielleicht sogar schaffen wollte?
    John, ich finde deinen letzte Interpretationsidee übrigens sehr interessant. Eine Idee. Ja, Kurtz steht für eine Idee, für etwas Größeres (wenn auch nicht unbedingt besseres, besser als was auch immer).
    Die Halbsätze und Andeutungen, in denen Marlowe sich ergeht, lassen für mich den Schluss zu, dass Conrad uns bewusst im Dunkel (in der Finsternis!) stehen lässt. Sollen wir unsere individuellen Wahrheiten doch gefälligst selbst finden! Das Buch ist, abgesehen von dem tollen Stil und den sehr beklemmenden Beschreibungen, die bei mir ihre Wirkung durchaus erzielt haben, enorm sperrig. Bedeutungsschwanger, aber auf dem Silbertablett bekommt man hier gar nichts serviert. Kurtz hat in den Abgrund geblickt und das Grauen, das Grauen! gesehen. Es steht uns frei, ebenfalls hinunterzusehen ...


    Was mich zusätzlich verwirrt hat, war die Beschreibung Kurtz'. Mal sieht Marlowe in ihm einen Heiligen, einen Weltverbesser, dann wieder als jemandem, der hohl bis ins Mark ist und in dem die Finsternis der Wildnis ein Echo erschallen lässt – und der diese immense Leere mit den Falten der Beredsamkeit bedeckt. Ja, was denn nun?


    Trotzdem, irgendwie ein tolles Buch. Ein Buch, dass nur Fragen aufwirft, aber keine Antworten gibt.