'Der Mann ohne Eigenschaften' - Seiten 0258 - 0346

  • Der letzte Abschnitt meines ersten Bandes hat keinen thematischen Schwerpunkt mehr. Uns werden vielmehr ganz verschiedene Handlungsstränge nebeneinander präsentiert: Bonadea nähert sich Ulrich wieder an, Diotima und Arnheim kommen sich näher, die Parallelaktion nimmt Konturen an, als Diotima das große Konzil einberuft, Clarisse berichtet über ein sehr verstörendes Erlebnis aus ihrer Kindheit, Ulrich spricht mit Gerda Fischel über ihre Annäherung an jugenmythische und gleichzeitig antisemitische Kreise, Ulrichs Vater meldet sich mit Ideen für die große vaterländische Aktion, Soliman versucht sein Glück bei Rachel und wir lernen schließlich auch noch die Hintergründe General Stumms kennen.


    Im Gespräch mit Diotima scheint Ulrich den Verlust des Wahren zu beklagen, jedenfalls auf eine gewisse Weise. Wenn er davon spricht, wie bestimmte Lebewesen über die Zeit hinweg etwas Wunderschönes und dann etwas Furchtbares sind (sein Beispiel ist die Ameisenjungfer, die einmal ein Ameisenlöwe war), wenn er davon spricht, dass die Wirklichkeit "sich selbst abschafft", weil sie an nichts festhält, weder Natur noch Kultur einer bestimmten Bewegung zum Besseren oder auch nur irgendwo hin folgen, dann versteht man vielleicht wieder ein bisschen besser, was seine Eigenschaftslosigkeit ausmacht.


    Ebenso ist es bei den Vorschlägen für die Parallelaktion, in denen alles vorgeschlagen wird, genauso wie das Gegenteil davon; die Welt, die per Brief auf die Schreibtische von Diotima, Ulrich und Graf Leinsdorf dringt, ist ein babylonisches Stimmenwirrwarr, aus dem keine klare Linie herauspräpariert werden kann.


    Vielleicht ist diese Vielfalt der eigentlich Schwerpunkt des Abschnittes: Wenn uns Clarisse von ihrer Freundin Lucy berichtet, die ein Verhältnis mit ihrem Vater hatte, wenn sie dann Andeutungen macht, dass ihr Vater in synekdochischer Verwirrung fast ihr selbst gegenüber übergriffig wird, als Lucy sich von ihm zurückzieht, wenn wir von general Stumm lernen, wie er völlig unbegabt für die Armee in ihr trotzdem gerade als ihr Antipode Karriere macht, wenn wir Gerda Fischel dem Antisemitismus im Haus ihres Vaters, eines Juden, Raum geben sehen, dann scheint die Welt keiner inneren Logik mehr zu folgen.


    Position wird zwar bezogen, auch dezidiert, aber niemals endgültig und niemals logisch stringent.

  • Hallo bartlebooth,


    Du hast vieles angesprochen, was mir auch aufgefallen oder merkwürdig vorgekommen ist. Wenn man die auftretenden Paare, von denen hier die Rede ist, betrachtet, so haben wir es eigentlich mit einer Serie von Tabubrüchen, zumindest mit der mehr oder weniger ausgeprägten Sehnsucht danach, zu tun. Bonadea und Ulrich, Diotima und Arnheim stehen für das Verhältnis einer verheirateten Frau zu ihrem Liebhaber. Ulrich und Diotima (zwischen denen es ja auch gelegentlich „knistert“) sind bislang nicht über den Graben gesprungen, den Verwandtschaft und gesellschaftliche Stellung zwischen ihnen angelegt haben; Clarissens Vater hat sowohl die beste Freundin seiner Tochter als auch die Tochter selbst begehrt - und was ist eigentlich der Grund, aus dem Clarisse dem ihre Hand haltenden Ulrich aus heiterem Himmel diese Geschichte erzählt? Rachel und Soliman, die ausländische Dienerschaft, vollführt ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem es um Treue und Verrat, Ordnung und Leidenschaft, Gehorsam und raubtierhafte Lust geht... Vordergründig bleiben zwar alle auf den ihnen zugewiesenen Positionen (mit Ausnahme Bonadeas). Es scheint mir aber nur eine Frage der Zeit zu sein, wann der nächste „Übertritt“, der auch immer eine Zerstörung der äußeren Ordnung bedeutet, erfolgt. Musil greift dieses Motiv so häufig auf, dass ich mich frage, ob das alles beherrschende sexuelle Begehren auch in seinen Bildern zum Ausdruck kommt – beispielsweise in der merkwürdigen Landschaft, die Diotima und Ulrich im 69. Kapitel, zweiter Absatz, durchschreiten – ich kann mich täuschen...)


    Die Kapitel, die mich am stärksten berührt haben, sind dasjenige über die wachsende Entfremdung Tuzzis und Diotimas, die allmähliche Emanzipation der Ehefrau von ihrem Mann und die genaue Schilderung der Wirkung dieses Prozesses auf den Sektionschef. Das Kapitel über Gerda – Musil hat ihm, denke ich, ganz bewusst seine Ausführungen über „das Böse“ vorangestellt. Und er stellt mit wenigen Absätzen die Hohlheit und Inhaltsleere des anitsemitischen „Gedankengutes“ ebenso bloß wie die Leichtgläubigkeit, um nicht zu sagen Dummheit, seiner Anhänger. Ebenso auf den Punkt gebracht wird aber auch, wie dieser Antisemitismus „funktioniert“, wie er in der Gesellschaft und in den Familien schleichend und unaufhaltsam Einzug hält, wenn man ihm einmal, wie Klementine Fischl das tut, Zutritt gewährt hat (nebenbei gesagt: „Dummheit“ kommt für Musil regelmäßig in den Namen der Akteure zum Ausdruck - das wird deutlich bei dem germanischen Verehrer Gerdas „Hans Sepp“, aber auch bei allen Soldaten, die bislang ihren Auftritt haben durften: der „Generalmajor Stumm von Bordwehr“ oder der Feldmarschalleutnant „Frost von Aufbruch“, der frühere Minister „v. Holtzkopf“ stellen ja wenig mehr als eine Verballhornung ihres eigenen Berufsstandes dar.)


    Am Schluss noch ein paar Worte zur Juristerei – es ist im Grunde ein spannendes Thema, das im 74. Kapitel aufgerissen wird, da es hier zumindest auch um die Frage der Willensfreiheit geht. Im deutschen Strafrecht sind die hier angesprochenen Regelungen heute (teilweise nahezu wortgleich) in den §§ 20 und 21 StGB enthalten:


    „§ 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


    Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.


    § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


    Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.“


    Der Schuldgrundsatz wird in Deutschland als oberster Leitgedanke des Strafrechts angesehen – d.h. Strafe darf nur auf die Feststellung gegründet werden, dass dem Täter aus der zum Tatentschluss führenden Willensbildung ein Vorwurf gemacht werden kann. Der Schuldgrundsatz hat damit die Entscheidungsfreiheit des Menschen zur logischen Voraussetzung (Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 4. Auflage 1988).


    Soweit ich sehe, kreist die Auseinandersetzung zwischen Ulrichs Vater und seinem Universitätskollegen einerseits um die Frage, ob es neben der (strafausschließenden) Unzurechnungsfähigkeit (Schuldunfähigkeit) auch so etwas wie eine verminderte Zurechnungsfähigkeit geben kann – an § 21 StGB sieht man, dass sich der deutsche Gesetzgeber gegen das „Entweder-Oder“, das Ulrichs Vater zum Prinzip erhebt, entschieden hat. Die Einführung der verminderten Schuldfähigkeit im Jahr 1933 entsprach einer Forderung bedeutender Psychiater. Zum anderen vertritt Ulrichs Vater die Auffassung, dass sich der biologische Defekt (krankhafte Störung der Geistestätigkeit) auf die Einsichtsfähigkeit des Täters ausgewirkt haben muss (Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen – intellektuelles Moment). Das ist heute genau so geregelt. Professor Schwung will demgegenüber einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Willensbildung gelten lassen. Es geht also darum, ob der Wille im Denken (Ulrichs Vater) oder das Denken im Wollen (Professor Schwung) begründet ist. Wahrscheinlich ein Streit um Henne und Ei...

  • Hallo John,


    ich bin verblüfft, dass du noch mit einer Annäherung zwischen Diotima und Ulrich rechnest. Ich habe nun auch schon den nächsten Abschnitt hinter mir und rede deshalb auch nicht ganz ins Blaue, aber eine richtige erotusche Spannung zwischen diesen beiden könnte ich mir inzwischen nur noch als Übersprungshandlung vorstellen - Diotima ist ganz klar auf Arnheim fixiert, der auch als "Mann mit allen Eigenschaften" viel besser zu ihr passt als der nihilistische Ulrich.


    Danke auch, dass du noch auf die sprechenden namen à la "Hans Sepp" hingewiesen hast. Das sind wirklich Abziehbilder von großem Unterhaltungswert.


    Der Brief von Ulrichs Vater über seinen Streit mit Professor Schwung hat mich auch beschäftigt. Ob es ein Streit um Henne und Ei ist, weiß ich noch nicht. Ich bin mir vor allem nicht sicher, was Professor Schwung eigentlich sagt. Das Beharren auf dem "oder" anstelle eines "und" (".... so dass er nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Handlung einzusehen oder seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war", S.318), scheint mir die bemerkung zu konterkarieren, die Ulrichs Vater am Ende paraphrasiert, nämlich dass "unser Wille frei sei" (S.319). Alles in allem begreife ich deshalb nicht recht, worum sich die beiden streiten...

  • Hallo bartlebooth,


    nein, ich rechne nicht ernsthaft mit einer Annäherung zwischen Diotima und Ulrich – ich meine nur, dass die Beziehung beider auch eine erotische Dimension hat. Beispiel: die Schilderung zu Beginn des 68. Kapitels („ ... schaukelte die Bewegung des Wagens auf Ihren langen Fahrten die beiden Verwandten, so dass sich die Kleider berührten ... aber die Körper empfanden dieses von Kleidern gedämpfte Berühren so zart verschwommen, wie man die Dinge in einer Mondnacht sieht. Ulrich war für dieses Kunstspiel der Liebe nicht unempfänglich, ohne es sonderlich ernst zu nehmen.“) Es gibt auch Textpassagen, die in die entgegengesetzte Richtung weisen. Die beiden haben es keineswegs aufeinander abgesehen. Aber die „Möglichkeit“ dazu (um mal eins von Ulrichs Lieblingswörtern zu gebrauchen) besteht, wenn auch sehr entfernt.


    Die Sache mit der Henne und dem Ei: auch ich habe das noch nicht zu Ende gedacht. Möglicherweise ein entscheidender Gegensatz (wobei dann Musil der Auffassung Schwungs nahestehen dürfte, da es sich ja bei Ulrichs Vater um einen Mann „mit Eigenschaften“ handelt.) Möglicherweise auch nicht. Ich zitiere einen Ausspruch General Stumms aus dem 85. Kapitel (der dort im Übrigen einen wunderbaren Auftritt hat): „... vielleicht reicht mein Kommißverstand einfach nicht dafür aus...“