Die Sonntagspuppe - Morrell Gipson (ab 3 J.)

  • OT: The Surprise Doll 1949



    Das Leben ist bekanntlich voller Überraschungen, eine davon war die Wiederentdeckung dieses ganz schlichten, aber höchst wirkungsvoll erzählten und illustrierten Bilderbuchs.


    Die kleine Heldin Bärbel (Mary im Original) ist die Tochter eines Kapitäns. Sie hat nicht viel von ihm, er ist häufig auf See und seine Reisen führen ihn sehr, sehr weit fort. Jedesmal aber, wenn er zurückkommt, bringt er Bärbel eine Puppe mit, immer aus einer anderen Ecke der Welt. Sechs Puppen hat Bärbel inzwischen, eine Holländerin z.B., eine Russin und sogar eine kleine Chinesin. Sie liebt alle sechs innig, aber sie sind ihr nicht genug. Sie möchte eine siebte. Diesesmal aber schüttelt Papa den Kopf. Nein, nein, sechs Puppen sind genug für so ein kleines Ding wie Bärbel.
    Nun gut, wenn er nicht will, denkt unsere Heldin, packt ihre sechs Lieben kurzentschlossen in ein Wägelchen und marschiert zum Puppenmacher. Von ihm verlangt sie eine besondere Puppe, ihre Sonntagspuppe. Der Puppenmacher geht tatsächlich darauf ein, allerdings muß sich Bärbel eine ganze Woche lang von ihren sechs anderen Puppen trennen. Am siebten Tag aber erwartet sie eine echte Überraschung. Puppen machen glücklich, so wie dieses Bilderbuch.


    Daß dieses Buch zum ersten Mal vor sechzig Jahren erschien, merkt man ihm nicht an. Es ist im besten Sinn zeitlos. Das puppenbegeisterte kleine Mädchen ist zugleich energisch und durchsetzungsfähig (wenn auch ein bißchen verwöhnt). Sie trägt auf den meisten Bildern übrigens knallrote Latzhosen. Das ist für die Entstehungszeit des Buchs Ende der 1940er Jahre nicht selbstverständlich. Die Puppen aus den verschiedenen Ländern und Kontinenten wecken den Sinn für die Welt jenseits des Kinderzimmers.
    Die Autorin (Jg. 1920) stammt aus South Carolina und war Lektorin in Kinderbuchverlagen. Ab Mitte der vierziger Jahre schrieb sie auch Texte für Bilderbücher. Sie hat ihr Publikum offenbar gut gekannt. Die Geschichte ist geradlinig, enthält jedoch zwei Wendungen, die sie sehr spannend machen, die Sprache ist schlicht, aber nicht vereinfacht, im Gegenteil, die Sätze sind so gebaut, daß sich auch Erwachsene beim Vorlesen nicht langweilen, das Vokabular ist beträchtlich für die angezielte Altersgruppe.
    Die Illustrationen von Steffie Lerch sind knallbunt, freundlich, detailverliebt und harmonisch gerundet, aber nicht süßlich, ein Leistung bei diesem Thema.


    Das Buch erschien 1956 auf deutsch beim Carlsen Verlag, in einer Reihe, die sich Wunder Buch nannte. Sie waren heftartig gebunden, ihr Einband flexibler, laminierter Karton, ein wenig kleiner als ein A5-Schulheft, das Papier fest genug, um das Blättern auch für Kinderhände einfach zu machen, ihr Inhalt frisch und bunt. Vor allem aber waren sie stabil. Meine Ausgabe, die aus der dritten Auflage von ca. Mitte der 1960er stammt, ist noch ausgezeichnet erhalten. Dabei habe ich das Buch mindestens ebenso sehr geliebt, wie Bärbel ihre Puppen, und ganz sicher mehr als siebenmal gelesen. Auf deutsch ist es inzwischen vergriffen, was eigentlich schade ist. In den USA erschien erst 2005 eine neue Auflage.
    So werden aus Lieblingsbilderbüchern Klassiker. Schon erstaunlich. Das Leben ist eben voller Überraschungen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus