'Die unsichtbaren Stimmen' - Seiten 391 - Ende


  • Danke schön. Sehr interessant.

    Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne Seele.
    - Cicero


    :lesend Harlan Coben - Ich vermisse dich

  • Ich scheine zu den etwas weniger kritischen Eulen zu gehören, denn ich habe mich sehr viel weniger an irgendwelchen "Realitäts- und Logiklücken" gestossen, als so manche hier in der Leserunde.


    Der letzte Abschnitt hat mich sehr gepackt: Herzklopfen hatte ich bei der Flucht der anderen Frauen aus dem Gefängnis, dem Zurückbleiben der schwangeren Salomé und vor allem bei der Gewissheit über das Zusammenleben von Tinto und Anna.


    Gott, wie muss sich das anfühlen zu erfahren, dass enge Freunde ein freies Leben führen konnten, während man selber unter übelsten Bedingungen eingesessen hat? In den Briefentwürfen an Victoria bringt sie es selbst auf den Punkt: " ... ich bin dreizehn Jahre länger im Gefängnis geblieben, um Dich auf die Welt bringen zu können."


    Bis zuletzt hat sie die tiefe Hoffnung auf ein freies Uruguay nicht verloren- ich empfinde das als mutig und bewundernswert. Diese Gruppierung hat sich gegen schreiende Ungerechtigkeiten in ihrem Land erhoben, Verluste gab es auf beiden Seiten, aber ist das nicht immer besser, als zaghaft-stumm- regierungstreu einfach nur abzuwarten? Meiner Meinung nach hat sie für die richtige Sache eingestanden, auch wenn der Auslöser als Fünfzehnjährige sicherlich das reine Mitläufertum war. Ich konnte heraus lesen, dass sich auch für Salomé persönlich daraus sehr viel mehr entwickelt hat. Wo wären manche Länder heute, wenn sich gar niemand gegen Diktaturen aufgelehnt hätte?


    Ganz zum Schluss hätte ich mir allerdings einen Touch mehr Happy End gewünscht. Ja, es wäre kitschig gewesen, aber ich hatte erwartet, dass Salomé und Tinto sich irgendwie wieder kriegen.


    Umso schöner fänd ich die letzten Seiten zu lesen: Ein greiser Ignazio, der im wahrsten Sinne des Wortes bis in den Tod an seiner grossen Liebe hängt. Diese Ehe ist doch wahrlich durch Höhen und Tiefen gegangen! Das Bild des flüchtenden Gondoliere und seiner aufgeregten Familie hinter ihm hat mich in jedem Fall schmunzeln lassen.


    Was ich dem Buch nicht bescheinigen würde, wäre eine konstante Erzählweise. Leitend sind allein die drei grossen Kapitel-Einordnungen um Pajarita, Eva und Salomé - ohne diese hätte ich den Faden zwischenzeitlich möglicherweise direkt mehrfach verloren. Vom ersten bis zum letzten Drittel gibt es eine ganz deutliche Ausrichtung weg von den traditionellen Sagen der Gauchos hin zu den knallharten Politiken der jüngeren Geschichte. Gefallen haben mir im Endeffekt alle Teile, auch wenn ich denke, dass die Autorin vor allem die Inhalte der letzten Kapiteln vermitten wollte.


    Ich habe die Lektüre auf alle Fälle genossen und bin deswegen mit meiner wöchentlichen ToDo-Liste etwas ins Hintertreffen geraten. Mich mit dem Buch auf den Südbalkon zurück zu ziehen, war einfach eine zu große Verlockung! ;-)


    GRÜSSE
    savanna

  • Zitat

    Original von Lese-rina



    Was mir auch unklar blieb: Es hieß: Die Tupas hätten das Baby der Großmutter weggenommen. Dann war es plötzlich doch wieder bei ihrer Familie (ihrem Bruder)???


    Ich habe es so verstanden, dass nach aussen hin doch keinerlei Verdacht über mögliche Verbindungen zwischen der Familie und den Tupas entstehen dürfe. Die Grossmutter wusste also, wer das Kind wohin entführt - bzw. hat sicher selber den Vorschlag gemacht, sobald Leona mit ihr Kontakt aufnehmen konnte - und dass es ein Wunsch Salomés war es weit, weit weg zu bringen. Nach aussen hin hat sie aber gemeldet, die Tupas hätten es ihr gestohlen...

  • Zitat

    Original von Lese-rina


    Ich konnte mir auch nicht erklären, wieso ihr Bruder (der laut Buch übrigends des Jobs wegen in die USA ging) und seine Frau Victoria über ihre Herkunft nicht spätestens dann aufklärten, als Salomé aus dem Gefängnis freikommt. Spätestens dann hätte ihnen doch klar sein müssen, dass die Wahrheit irgendwann rauskommen wird. Außerdem fand ich es sehr seltsam, dass Roberts Familie nicht mal nach dem Ende der Diktatur und zum Tod der Großmutter nach Uruguay zurückkehren (zu Besuch). Auch Salomé verschwendet ja überhaupt keinen Gedanken daran, ihre Tochter zu besuchen und sie von Angesicht zu Angesicht aufzuklären. Kann ja sein, dass schriftstellerisch ein Brief besser passt, aber ich fand das nicht nachvollziehbar. Dieser Abschnitt spielt ja fast in der "Jetzt-Zeit", also ein Flug wäre wahrscheinlich kein Problem mehr gewesen (und das Geld hätte sie sicher irgenwie aufgetrieben). Dieses "Unklarheit" hat mich sehr gestört - das verdirbt mir irgendwie den ganzen Schluss, so schön er sonst auch ist.


    Geht es hier nicht vor allem um den Schutz von Victoria?


    Ich denke, die Erklärung, dass Deine Eltern nicht Deine leiblichen Eltern sind und dass Deine Mutter eine "Terroristin" war und Du selbst ein Produkt einer Vergewaltigung unter monatelanger Folter - das ist schon hartes Brot zu schlucken und gerade für einen Teenager möglicherweise krass verstörend!!! Ein klug formulierter Brief mit Erklärungen der "Eltern" dabei sind sicherlich zumindest etwas sanfter. Mit der Zeit wird sich das für Victoria sicher nach und nach ergeben, mehr zu erfahren und sich damit als junge Frau auseinander setzen zu können...


    Ich kann diese Reaktionen daher extrem gut nachvollziehen!

  • Zitat

    Original von Nordstern


    Ich frage mich, warum Salomé bei dem Ausbruch nicht mit geflohen ist. War der Schacht in die Kanalisation zu eng, dass sie mit ihrem Schwangerschaftsbauch nicht durchgekommen wäre? Oder hatte sie Angst, dass sie und das Kind bei dem Ausbruch umkommen könnten? Oder dass Tinto sie mit dem Kind aus einer Vergewaltigung ablehnen könnte? Diese Stelle ist für mich sehr unklar...


    Genau so habe ich es verstanden. Da der Ausbruch für irgendwann geplant war - aber eben wann ergibt sich die Situation wirklich? - konnte sie nicht abschätzen, wie dick und störend dann der Bauch schon sein wird, um durch die Kanalistation robben zu können. Da sie das Kind eben nicht schädigen will (Stricknadel!!!), hat sie sicher auch Angst, es bei der Flucht zu verlieren (Quetschungen, Infekte durch Abwässer...).


    Über die Rolle Tintos in dieser Phase habe ich so gar keinen Gedanken verschwendet - er selbst war bereits mindestens einmal Folteropfer, daher würde er das - bestürzt zwar - einordnen können...


    [Edit: Fehlerchen]

  • Zitat

    Original von Bouquineur
    Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Bezug des deutschen Titels auf das Buch gibt. Im Original heißt das Buch "The invisible Mountain". Damit ist ganz klar der Monte Video gemeint, der praktisch nicht vorhandene Berg. Der eigentlich eher ein Hügel ist und dessen "Entdeckungsgeschichte" sich wie ein Band durch Buch zieht.


    Danke für die Info - das macht absolut Sinn (immer wieder: Monte. Vide. Eu.). Und den Hintergrund zum nicht genauso in deutsch gesetzten Titel haben wir ja auch schon hier erhalten...


    GRÜSSE
    savanna

  • Ich habe mir nochmal ein paar Gedanken zu Victoria gemacht:


    Sie ist ja quasi die vierte Generation dieser Frauenlinie und wie das bei Familienromanen so ist, könnte die Autorin wahrscheinlich ewig so weiter schreiben, solange weiterhin Kinder geboren werden...


    Mich hat es im Übrigen kein bisschen gestört, dass der Leser über Victorias Leben so wenig erfährt. Für mich stand sie dermaßen ausserhalb der Entwicklungen um Salomé - räumlich (Kalifornien) wie zeitlich (enorme Lücken im Kontakt zu ihr) wie auch familienbezogen (Vater Vergewaltiger).


    In jedem Fall ist es sehr traurig heraus zu lesen, dass ein Kind offensichtlich ausserhalb Uruguays besserer Lebensbedingungen findet als innerhalb der Grenzen - und das geschrieben von einer aus Uruguay stämmigen, aber in den USA und Europa aufgewachsenen Autorin. Hier lese ich ganz deutlich die bestehende Kluft zwischen nord- und südamerikanischen Verhältnissen heraus - materialistisch wie gesellschaftlich wie politisch.


    GRÜSSE
    savanna


  • Jetzt hast du aber wahnsinnig schnell "nachgelesen" :-). Kein Wunder, dass da einiges liegengeblieben ist, (aber darf ja auch mal sein).


    Zur Sache mit der "Aufklärung" von Victoria: Ich persönlich sehe das anders. Die Wahrheit ist so und so erstmal ein Schock für sie, aber ich denke ein einfühlendes Gespräch mit den "Eltern" wäre doch besser als ein Brief einer ihr bislang mehr oder weniger unbekannten Frau. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass die Tatsache, das ihre Eltern ihr jahrelang etwas vorgelogen haben, noch mehr schmerzt, als die eigentliche Abstammung. Allerdings ist das nur meine Theorie, ich bin kein Adoptivkind und kenne auch niemanden.


    Fraglich ist auch, ob man einen Kind alles erzählen muss, oder ob bestimmte Dinge (wie die Folter und das sie aus irgendeiner Vergewaltigung entstanden ist) nicht einfach weggelassen werden können. Obwohl ich sonst sehr für die Wahrheit bin, das würde ich dann doch verschweigen. Und die Sache mit der "Terroristin" kann man ja auch ganz anders sehen. In deinem anderen Beitrag hast du das ja wunderschön beschrieben.


    Nachvollziehbar ist die Reaktion von Robert und seiner Frau für mich schon, sie lieben ihr Kind und möchten es vor der (harten) Wahrheit beschützen. Wahrschienlich am besten für immer.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Zitat

    Original von Lese-rina


    Jetzt hast du aber wahnsinnig schnell "nachgelesen" :-). Kein Wunder, dass da einiges liegengeblieben ist, (aber darf ja auch mal sein).


    Oh ja, das stimmt! Mich hat das Buch aber auch echt gepackt und - wie ich schon mal schrieb - war ich echt enttäuscht, dass ich es nicht mit auf Dienstreise nehmen konnte, daher war ich ganz "heiß" drauf! ! ;-)


    GRÜSSE
    savanna

  • Mir hat das Buch sehr gut gefallen, es gab mir unheimlch viele Informationen über ein ganzes Jahrhundert in Südamerika. Bisher hatte ich über diesen Kontinent noch nicht viel gelesen, mit politischem Aspekt noch gar nix.
    Die Geschichten und Schicksale der 3 Frauen waren hochinteressant, zumal sich die 3 sehr ähnlich sind, dies aber bei jeder anders zum Ausdruck gebracht wird.


    Ein klasse Buch, sollte man gelesen haen.

  • Zitat

    Original von Deichgräfin
    Ich bin noch ganz ergriffen von Salomes Schicksal.
    Die vielen Jahre im Gefängnis, das ist schwer zu verkraften.


    An dieser Stelle bin ich nun auch angelangt. Und ich finde, die Autorin beschreibt dies alles sehr ergreifend, sehr gefühlvoll.
    Mir hat beim Lesen manchmal fast der Atem gestockt.


    Und nun noch die letzten Seiten............

  • Was für ein Ende!! Was für ein grandioser dritter Teil! Dieser hat mich mit dem wesentlich schwächeren ersten Teil versöhnt.
    Salomè ist mir sehr, sehr nahe gekommen und ich habe mit ihr gelitten.


    Und dann dieser Schluss. Ignazio, das alte Schlitzohr. Deutlicher hätte er seine Liebe nicht zum Ausdruck bringen können.


    Die Versuche Salomès an Victoria zu schreiben waren wunderschön zu lesen - wie gesagt, dieser dritte Teil war für mich sehr emotional, sehr beeindruckend. Um nicht zu sagen, fast perfekt. :anbet

  • Zitat

    Original von Babyjane


    Hier irritierte mich dann auch wieder, wie das alles passend zusammen geschustert wurde. Klopfzeichen, die vorher nie vereinbart wurden, werden selbstverständlich angewandt und die anderen Insassen machen mit... nä... das glaub ich einfach nicht.


    .


    Ich kann mir das schon gut vorstellen.
    War doch ein einfacher und einleuchtender Code.
    Und dumm waren die Frauen ja ganz sicher nicht. Zeit hatten sie auch. ;-)