OT: Dolly and the Starry Bird 1973
Ruth Russell, die Protagonistin des vierten Romans mit Johnson Johnson und der Jacht ‚Dolly’, ist entgegen der biblischen Sanftheit, die ihr Name suggeriert, alles andere als sanftmütig. Sie weiß es selbst, und die Leserin erfährt es aus Ruths Mund bereits im dritten Satz des Buchs: Ich bin ein Mädchen, das nicht so leicht aus der Fassung zu bringen ist.
Diese Einstellung brauchte Ruth wohl, um es zu ihrem für Frauen etwas selteneren Beruf zu bringen, sie ist Astronomin. Zur Zeit arbeitet sie als Angestellte des privaten Zodiac Trusts im privaten Observatorium von Maurice Frazer, der als Agent von Schauspielern ein Vermögen gemacht hat. Sterne beobachten und kartographieren, mag langweilig klingen, aber zum einen liebt Ruth ihren Beruf, zum anderen steht das Observatorium in der Nähe von Rom und diese Stadt ist sicher einen Aufenthalt wert. Abgesehen von ihrem Beruf liebt Ruth Charles, einen der berühmtesten Modefotografen, und noch dazu Abkömmling eines Adelshauses. Ruth hat ihren Blick stets auf die höheren Sphären gerichtet.
Die Anwesenheit von Charles, der in Rom gerade die neueste Mode fotografiert, ist auf jeden Fall dazu angetan, einen eher langweiligen November aufzuhellen, auch wenn die Anwesenheit schöner Models in Charles’ unmittelbarer Nähe Ruth ein wenig in Unruhe versetzt. Unter ihnen ist vor allem das Star-Model, Diana Minicucci, reich, bildschön, adelig und zu Ruth Leidwesen auch noch furchterregend liebenswert.
Dies alles ist aber nichts im Vergleich zu der Unruhe, die ausbricht, als jemand versucht, Charles’ Kamera mit den jüngsten Modeaufnahmen zu stehlen. Die Verfolgungsjagd endet im Toilettenhäuschen des römischen Zoos, mit einem toten Dieb. Er hat im Wortsinn den Kopf verloren, durch einen explodierenden, mit Gas gefüllten Ballon.
Ruth neigt von sich aus nicht zu aufgeregten Ausbrüchen, ehe sie diesesmal aber auch nur weiteratmen kann, funkeln ihr schon zwei Brillengläser entgegen. Die einer Zweistärkenbrille, versteht sich. Johnson Johnson ist aufgetaucht und nimmt die Sache von da an in die Hand, egal, wie sehr Ruth sich sträubt.
Was zunächst nach einem klaren Fall von Modespionage aussieht, entwickelt sich rasch zu einem Fall von schwerer Industriespionage mit internationalen Verwicklungen. Die Menschen um Ruth, ihre Kollegen im Observatorium, der Zodiac Trust, Maurice Frazer und sein Anhang, Charles, Diana und ihr Vater, allesamt scheinen in die Sache verwickelt. Es gilt allerdings nicht nur, die Spreu vom Weizen zu trennen, sondern auch unter nicht wenigen Schuldigen den eigentlichen Täter herauszufinden. Im Verlauf der immer blutiger werdenden Handlung wird Ruth ihre Fassung mehrfach verlieren. sie wird vor Entscheidungen gestellt, von denen die, ob sie leben will oder sterben, zu den einfacheren gehört.
Wie es sich für einen Roman von Dunnett gehört, ist die Geschichte sehr komplex und auf die denkbar komplizierteste Weise erzählt. Wieder befindet sich der ‚Vogel’ der Geschichte im Netz einer Intrige, die Johnson Johnson gesponnen hat, um einen Spion zu fangen, wieder einmal gibt es aber auch Fäden, die Johnson nicht in der Hand hält. Der Roman handelt vom Enthüllen, von dem, was hinter den schönen Gesichtern steckt, im Kern von Nacktheit. In keinem anderen Roman der Dolly-Serie geht es so unverhüllt um Sex, in komischer Hinsicht - Ruth muß immer zuerst die Nacktfotos ihres pornobegeisterten Kollegen aus den Entwicklerschalen räumen, ehe sie ihre Fotos von den Stern-Beobachtungen entwickeln kann - wie in tragischer. Dunnett läßt überdies ein homosexuelles Paar offen auftreten, eine Seltenheit für die damalige Zeit.
Komik und Tragik mischen sich auch in den Verfolgungsjagden, sei es in den Straßen Roms, sei es auf der Segelfahrt mit der ‚Dolly’ von Capri bis Sizilien. Die Jagd auf den gefährlichen, weil gasgefüllten Luftballon in einem Bündel harmloser Ballons ist extrem spannend und zugleich eine Meisterleistung des schriftlich umgesetzten Slapsticks. Eine Schlägerei zwischen zwei Frauen dagegen entbehrt des sonst üblichen komischen Elements völlig, sie ist nur häßlich, blutig und am Ende herzzerreißend. Dunnett dosiert auf Meisterinnenart.
Ihre Figuren sind stets in der Gefahr, den Kopf zu verlieren, im übertragenen wie im Wortsinn. Der englische Originaltitel ‚Starry Bird’ enthält ein Wortspiel, das bei der Übersetzung bedauerlicherweise verlorengeht. ‚Starry eyed’ ist man, wenn einer die Liebe den Kopf verdreht hat. Aber Ruth ist eben keine romantische Sternenguckerin, sie ist Astronomin. Es fällt nicht nur eine Bemerkung im Verlauf der Geschichte, mit der sie darauf hinweist, welchen Illusionen man zum Opfer fallen kann, wenn man zu lange durch ein Teleskop sieht. Doch die Bilder, die eine Kamera aufnimmt, müssen nicht immer das zeigen, was man erwartet hat.
Das Ende ist schrecklich, für alle. Echte Unverhülltheit, umfassende Nacktheit ist kaum zu ertragen, am wenigsten aber dann, wenn es um die Nacktheit von Prinzipien geht. Dunnetts Prinzipien hier sind Wahrheit und Gerechtigkeit. Es geht tatsächlich um die ‚höheren Dinge’, die Sterne sind nur ein Variante dieses Grundthemas.
Um den beiden Prinzipien Geltung zu verschaffen, ist Ruth zu einer rundum grausamen Tat gezwungen. Ideale wie Wahrheit und Gerechtigkeit sind in ihrer Anwendung furchtbar und furchterregend, so sehr man sie in einer menschlichen Gesellschaft auch braucht, das ist die Lehre, die man hier ziehen kann. Göttinnen und Göttern zu huldigen, hat im Lauf der Jahrtausende nichts von ihrem entsetzlichen Schrecken verloren, selbst wenn sie längst Abstrakta geworden sind.