Gott, Großer Gott, laß meine Seele zur Reife kommen, ehe sie geerntet wird.
154 Seiten, kartoniert
Eine Auswahl aus „Große Erzählungen“
Aus dem Schwedischen von Marie Franzos und Pauline Klaiber-Gottschau
Verlag: DTV (Deutscher Taschenbuch Verlag), München, 3. Aufl. 2000
ISBN-10: 3-423-12605-1
ISBN-13: 978-3-423-12605-2
Über den Inhalt (Quelle: Verlagsangabe im Buch)
Der Weihnachtsfriede ist empfindlich gestört, als Ruster, ein alter Flötenspieler, verarmt, arbeitslos und trunksüchtig, am Vortag des Heiligen Abends im Herrenhof Löfdala auftaucht. Er ist nicht gerade ein Gast, mit dem man auf den Gutshöfen in Värmland dieses Fest feiern möchte. Doch als man ihn wider besseres Wissen fortschickt, will erst recht keine Freude mehr aufkommen.
Wenn sich in dieser Titelgeschichte wie auch in den Erzählungen „Der Fuhrmann des Todes“ und „Ein Emigrant“ am Ende doch noch alles zum Besten wendet und Außenseiter ihre Chance im Leben erhalten, ist das nicht zuletzt der Macht der Liebe zu verdanken. Erinnerungen an die berühmtem Weihnachtserzählungen von Charles Dickens werden wach, denn auch Selma Lagerlöf gelingt es, in den Weihnachtsgeschichten ihrer Heimat das Gute im Menschen aufzuspüren und wirksam werden zu lassen.
Über die Autorin (Quellen: Verlagsangabe, Wikipedia)
Selma Lagerlöf wurde am 20. Nov. 1858 auf dem Familiengut Mårbacka im schwedischen Värmland geboren. Gegen den Wunsch des Vaters ging sie 1881 nach Stockholm und absolvierte eine Ausbildung zur Grundschullehrerin. Diesen Beruf übte sie nach dem Tod des Vaters ab 1885 für zehn Jahre aus. In dieser Zeit schrieb sie ihren ersten Roman „Gösta Berling“, der 1891 erschien. Er wurde zunächst schlecht, auch was die Verkaufszahlen angeht, aufgenommen und begann erst ab 1893 seinen Aufstieg zu einem der meistgelesenen schwedischen Romane. Seit 1895 war sie als freie Schrifstellerin tätig.
Im Jahre 1909 erhielt Selma Lagerlöf als erste Frau den Literaturnobelpreis, 1914 wurde sie das erste weibliche Mitglied der Schwedischen Akademie, 1928 schließlich erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald, nachdem sie bereits 1907 dieselbe von der Universität Uppsala (Philosophie) erhalten hatte.
Als Folge des erhaltenen Nobelpreises konnte sie das elterliche Gut Mårbacka, das wegen Schulden im Jahre 1890 verkauft worden war, zurückkaufen. Am 16. März 1940 starb die Autorin in ihrem Haus an einem Schlaganfall.
Weitere und ausführlichere Informationen im Internet:
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- < Klick > - das sagt Wikipedia
- < Klick > - das steht im englischen Wikipedia
- < Klick > - hier auch die Seite im schwedischen Wikipedia
- < Klick > - hier noch die Website der schwedischen Selma-Lagerlöf-Gesellschaft (in schwedischer Sprache)
Meine Meinung
Das Buch beinhaltet drei Geschichten, von denen die zweite den Hauptteil des Buches ausmacht und eigentlich eher eine Silvester- bzw. Neujahrs- denn eine Weihnachtserzählung ist. Allerdings eine überaus beieindruckende. Die Reihenfolge im Buch ist eine andere, was aber nicht so wichtig ist. Das ist das erste Buch von Selma Lagerlöf, das ich gelesen habe. Nicht zuletzt, weil mir ihr Schreibstil so gefiel, wird allerdings sehr bald „Gösta Berling“ folgen.
Der Emigrant (24 Seiten)
Die Geschichte eines Jungen und seiner Puppe; einer Puppe, die für ihn zum Katalysator für seine Phantasie, zum Freund und Lehrer seiner Kindheit und Jugend wurde. Leider ging es mir mit dieser Geschichte wie mit der folgenden: die Titelgeschichte: „Körkarlen“, deutsch „Der Fuhrmann des Todes“ hat sie nicht nur durch dessen Länge, sondern auch inhaltlich etwas an den Rand gedrängt. Vielleicht lese ich die Erzählung später nochmals separat, um mehr aus ihr als diese paar Zeilen aus ihr herausholen zu können. Andererseits: was hat die Geschichte einer alten Fleckchenpuppe in einem solchen Buch zu suchen? Ja, darauf ist nicht so leicht eine Antwort zu finden, aber nun ist sie mal drinnen, und nun wollen wir sehen, was daraus werden kann!(Seite 152)
Ein Weihnachtsgast (8 Seiten)
Es war aus mit dem Kavaliersleben auf Ekeby. So verlor Ruster seine Arbeit, sein Heim. Verwahrlost zog er von einem Hof zum anderen und aus Mitleid gab man dem alten Flötenspieler Noten zum Abschreiben. Doch auch damit wurde es weniger; an Weihnachten wurde er nirgend geduldet, um nicht die Festtagsstimmung zu stören. So muß er auch den Hof Liljekronas, eines ehemaligen Geigenspielers auf Ekeby, verlassen. Doch damit kommt Unheil ins Haus, oder ist es das schlechte Gewissen, am Weihnachtsabend einen Menschen in den Schneesturm geschickt zu haben? In einer dichten Erzählung beschwört Selma Lagerlöf den Geist der Weihnacht, was ihn ausmacht, was er bewirken kann. Nur acht Seiten - aber unbedingt lesenswert.
Der Fuhrmann des Todes (1912; 114 Seiten)
Eine arme junge Heilsarmeeschwester lag im Sterben. Oder, wie es im Original lautet: Det var en stackars liten slumsyster, som höll på att dö. So beginnt diese Erzählung, die mich auch beim zweiten Lesen so sehr berührt hat wie beim ersten. Schwester Edith liegt im Sterben, und sie hat nur einen Wunsch: daß man ihr diesen David Holm ans Sterbebett hole. Eben jenen, von dem sie sich möglicherweise die tödliche Krankheit geholt hat. Eben jenen, welchen sie wieder und wieder auf den rechten Weg bringen wollte, der aber stets widerstand und sich einen Spaß daraus machte, Schwester Edith zu erniedrigen und zu quälen. Jedoch nicht nur diese, auch und vor allem seine Frau und seine Kinder.
Trotz der „Länge“ von gerade mal etwas über hundert Seiten entwickelt sich das Geschehen langsam. Und wir fragen uns, warum um alles in der Welt will diese engelgleiche Todkranke jene Ausgeburt der Bosheit und Schlechtigkeit, als die David Holm uns erscheinen muß, am Sterbebett haben, um ihm noch ein letztes Mal ins Gewissen zu reden?
Dieser verbringt den Silvesterabend, nachdem er allen Aufforderungen zu kommen getrotzt hat, mit ein paar Saufkumpanen auf der Rasenanlage der Stadtkirche, von wo aus man die Turmuhr sehen kann. Mitternacht darf ja nicht verpaßt werden. Um seine Genossen zu unterhalten und zu erschrecken, erzählt David die Geschichte vom Fuhrmann des Todes. Der erste Mensch, der nach dem letzten Schlag der Kirchturmuhr in der Neujahrsnacht stirbt, muß dieses begonnene Jahr hindurch den Karren als Sensenmann fahren und zu den Sterbenden das Wort, das sie aus ihrer sterblichen Hülle befreit, sprechen. Nach einem Gerangel der betrunkenen erleidet David einen Blutsturz und stirbt. Während die Glocke Mitternacht schlägt. Mit dem letzten Ton sieht er ihn vor sich: den elenden Karren, gezogen von einer alten blinden Schindmähre, geführt von seinem alten Kumpan Georg, dessen Nachfolger er, David, nun werden muß. Er sträubt sich, doch gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen, hilft kein Bitten und Betteln. Mit Gewalt muß der dem Fuhrmann folgen, der erst dann befreit ist, wenn er seinen Nachfolger eingewiesen hat; wenn dieser seinen Dienst freiwillig verrichtet. Und so gehen wir mit den beiden auf die schreckliche Reise. Denn überall, wo der Fuhrmann Station macht, tut er dies zu einem Zweck: die Seele aus ihrem Gefängnis zu befreien. Wo er hinkommt, stirbt jemand. Unerbittlich.
Die erste Station ist, wie könnte es anders sein, das Zimmer von Schwester Edith. Und dann beginnen wir die Vorgeschichte zu erfahren. Die von Schwester Edith, die von David Holm, und was die beiden verbindet. Die Abgründe, die sich auftun, lassen die bisher so klare Verteilung von Gut und Böse plötzlich in anderem Licht erscheinen. Schatten tauchen auf, wo vorher doch keine waren. Helle Flecken, wo wir bisher nur Schwärze wähnten. Es ist eine eindrückliche, beeindruckende Reise, auf der wir den Fuhrmann und David begleiten. Eine Reise in die Abgründe, aber auch zu den Höhen des menschlichen Daseins, ein Zusammentreffen mit tiefer Verzweiflung und froher Hoffnung. Eine Reise, die erschüttern, aber dennoch - oder gerade deswegen - hin zur Läuterung führen kann. Eine Reise, die durch Nacht zum Licht führt.
Ich habe mich in der Tat entfernt an Charles Dickens erinnert gefühlt, nur daß hier nicht die Geister der Weihnacht auftauchen, um einem Menschen die Folgen seines Tuns und Lassens drastisch vor Augen zu führen und ihn zu läutern, sondern quasi der Bote des Todes. In den Begegnungen mit den Sterbenden erfahren nicht nur wir die Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den Protagonisten, sondern wird David Holm sehr drastisch und deutlich sein Wesen, die Folgen eben seines Handelns vor Augen geführt. Bis hin zu seiner Katharsis, als das Geschehen in der Begegnung mit seiner Frau und seinen Kindern kulminiert. Wenn man nicht vorblättert, kann man bis zum Schluß mitfiebern, ob dieser Moment ein Wendepunkt - oder der Auftakt der Katastrophe war.
Die Geschichte weist sehr nachdrücklich darauf hin, daß vieles mit vielem zusammenhängt, daß ohne Kenntnis aller Zusammenhänge leicht falsche Entscheidungen getroffen oder Ratschläge gegeben werden, daß nicht jeder Gute immer nur gut, jeder Schlechte immer nur schlecht ist. Daß etwas Demut: „Gib mir die Kraft, allen meinen Freunden zu helfen, mir, die ich die schwächste bin und am wenigsten verstehe!“ (Seite 63) nicht unbedingt verkehrt ist. Und daß am Ende, wenn der Fuhrmann kommt und das letzte endgültige Wort spricht, nichts mehr zählt, was in dieser Welt sonst so wichtig gewesen sein mag. Oder, wie es der Fuhrmann ausdrückt (Seite 114):
„Der Neujahrsmorgen bricht bald an, David, und wenn die Menschen nun erwachen, denken sie zuerst an das neue Jahr und an alles, was es ihnen an Wünschen und Hoffnungen erfüllen soll, und dann denken sie an die Zukunft. Aber da möchte ich ihnen sagen können, sie sollen sich nicht Liebesglück oder Erfolg oder Reichtum oder Macht oder ein langes Leben, ja nicht einmal Gesundheit wünschen; ich möchte, daß sie ihre Hände falteten und ihre Gedanken in dem einen Gebet vereinigten:
„Gott, großer Gott, laß meine Seele zur Reife kommen, ehe sie geerntet wird.“
Kurzfassung:
Drei Erzählungen für die Weihnachts- und Neujahrszeit, in denen es, wie der Verlag schreibt, darum geht, „das Gute im Menschen aufzuspüren und wirksam werden zu lassen“.
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