Xinran: Gerettete Worte. Reise zu Chinas verlorener Generation

  • Über die Autorin:


    Die chinesische Journalistin und Radio-Moderatorin ist 1958 geboren und Autorin der Bücher Verborgene Stimmen, Himmelsbegräbnis, Chinesen spielen kein Mao-Mao, Die namenlosen Töchter, die sich mit der Situation chinesischer Frauen auseinandersetzen.


    Zum Inhalt:


    Die chinesische Journalistin Xinran reist quer durch China, von Guilin im Süden bis nach Urumqi in der nordöstlichen Provinz Xinjiang, um hochbetagte Chinesen (im Alter zwischen 70 und 80) zu interviewen. Mit diesem ehrgeizigen Projekt will sie Zeugnisse der chinesischen Kultur und Geschichte dokumentieren, ehe sie in Vergessenheit geraten können. Xinran fühlt sich verantwortlich dafür, dass die Erinnerungen ihrer Gesprächspartner für die folgenden Generationen bewahrt werden. Eine chinesische Eigenheit, die uns Westlern sehr fremd ist, steht Xinrans Plänen im Weg: Chinesen reden nicht gern über sich und beantworten erst recht nicht gern direkte Fragen. Die Geschichte (besonders die Mao-Zeit) hat die Menschen gelehrt, dass Worte nur Unglück bringen und anderen schneller Schwierigkeiten bereiten können als man selbst ahnt. Xinran lebt inzwischen im Ausland, beherrscht jedoch noch immer die chinesische Kunst, sich einem Thema allmählich vom Unwichtigen zum Wichtigen zu nähern. Sehr einfühlsam lässt sie ihre Kontaktpersonen zunächst über Kinder und Enkel oder die landestypischen Gerichte plaudern, ehe sie ihnen direktere Fragen stellt.


    Frau You arbeitete in den 50ern des vorigen Jahrhunderts als Ingenieurin in einem Prospektionstrupp, der nach Erdöl in der Wüste Gobi suchte. Ihre lebendigen Berichte lassen ahnen, wie hart das Leben im extremen Wüstenklima war und wie hart es noch heute für ihre Familie ist, dass die vier Kinder bei den Großeltern aufwachsen mussten. Für uns scheint es unvorstellbar, dass Frau You ihre Eltern 10 Jahre lang nicht gesehen hat. Herr You bewertet die Mao-Zeit sehr treffend: das Scheitern Maos sieht er in mangelhaften Wirtschafts-Kenntnissen und dem fehlenden Respekt für den einzelnen Menschen begründet. Leider beendet die Autorin das Gespräch mit Herrn You gerade in dem Moment, als es interessant wird.


    Mit Herrn Wu, dem Neuigkeiten-Sänger aus dem Teehaus, sowie den Papierlaternenmachern Li und den Brüdern Huadeng lernen wir Vertreter aussterbender Berufe kennen. Bis vor 15 Jahren hat Herr Wu täglich Nachrichten im Teehaus seiner Heimatstadt verkündet, weil bis in die 90er Jahre dort noch kaum jemand lesen und schreiben konnte. Die traditionsbewussten Papierlaternenmacher stehen stellvertretend für alle Verlierer des wirtschaftlichen Wandels in China. Mit ihrem Handwerk konnten sie sich seit der Mao-Zeit kaum selbst ernähren, weil traditionelle Handwerkskunst nicht geschätzt wurde. Die Laternenmacher betonen ihre persönliche Enttäuschung und interessieren sich weniger für die Gründe der Entwicklung. Xinran respektiert das und dringt nicht weiter in die Männer. Dass die Zerstörung von Kulturgütern eine politische Entscheidung ist und Achtung vor der Geschichte des Heimatlandes zu lehren, eine Aufgabe des chinesischen Bildungssystems wäre, erläutert die Autorin leider nicht.


    Ein Rotarmist, der Maos Truppen auf dem langen Marsch folgte, eine Lehrerin, ein Mann, der seine kranke Frau seit Jahren zu Hause pflegt, ein Ehepaar, das sein Glück erst im fortgeschritten Alter fand, eine Akrobatin und eine Schuhmacherin, die ihren Stand auf der Straße hat, geben ein sehr lebendiges Bild vom Leben der Menschen in China.


    Fazit:


    Xinran vermittelt uns ein anschauliches Bild vom Leben zwanzig außergewöhnlich tatkräftiger, gehorsamer und leidensfähiger Chinesen und Chinesinnen. Sie lebten und arbeiteten in bitterer Armut als unter Mao ganze Generationen, getrennt vom Ehepartner und den Kindern, als menschliche Masse verheizt wurden. Allen Interviewpartnern ist eine große Dankbarkeit gemeinsam, dass sie die schweren Zeiten überlebt haben und sich heute am Aufwachsen ihrer Enkelkinder freuen können. Die Altersmilde, die alle Gesprächspartner Xinrans zeigen, würde wohl auch in anderen Kulturen zu finden sein. Charakteristisch für China ist der Gleichmut, mit dem Ehepartner hinnehmen, dass sie über Jahrzehnte vom Partner getrennt leben mussten und ihre Kinder nicht selbst erziehen konnten. Dass viele dieser elternlos aufgewachsenen Kinder ihren Eltern die Trennung noch heute unbewusst vorwerfen, daran rührt man in China nicht gern. Als westliche Leserin hätte ich mir gewünscht, dass die Autorin ausführlicher darauf eingeht, wie das mangelnde Vorbild durch die eigenen Eltern und die Unfähigkeit über Gefühle zu sprechen, sich über mehrere Generationen noch bis in die Gegenwart auf die Erziehung von chinesischen Kindern auswirkt.


    In den Gesprächen wird deutlich, wie stark die chinesische Kultur durch die Abwesenheit einer allgemeingültigen Ethik geprägt wird, wie sie zum Beispiel eine Staatsreligion vermitteln würde. Die Definition von Gut und Böse wurde von der Partei vorgenommen und wechselte, je nachdem welche Machthaber gerade herrschten. Ein eigenes Urteilvermögen ist für die Menschen unter diesen Bedingungen eher hinderlich. Hier schließt sich der Kreis und wir begreifen die Zurückhaltung der Interviewpartner, über das eigene Leben zu sprechen. Dass auch im Jahr 2006 noch viele Chinesen große Bedenken haben, Angehörigen zu schaden, zeigt wie nötig Xinrans Tätigkeit ist.


    Xinran respektiert, wenn die Menschen die Fassade wahren und nicht an schmerzliche Erinnerungen rühren möchten. Leider bricht sie die Interviews häufig im entscheidenden Moment ab und vergibt so die Chance, ihren Lesern die Hintergründe zu verdeutlichen. So muss man erst 400 Seiten lesen, ehe überhaupt eine kritische Bemerkung fällt, obwohl einige Interviewpartner die Zusammenhänge durchschauen. Eine Antwort auf die Frage, ob die Chinesen aus ihrer Geschichte gelernt haben, erhält in Xinrans Buch nur, wer sich bereits mit dem Thema China beschäftigt hat. Die Analyse der Interviews findet sich in Xinrans Nachwort, fällt für meinen Geschmack jedoch sehr knapp aus. Obwohl der gleichförmige Ablauf der Interviews das flüssige Lesen behindert, haben mich die ungewöhnlichen Einzelschicksale stark berührt.