Rhapsodie der Freundschaft - Lynn Austin

  • „Also wenn es einen [Gott] gibt, dann gleicht er meinem Vater aufs Haar. Sie sind beide reich, mächtig und kommandieren die Leute gerne herum wie Figuren auf einem Schachbrett. Keiner von beiden hat mir besonders viel Liebe entgegengebracht, und die Entscheidungen, die sie für mich getroffen haben, dienten stets ihren eigenen Interessen, nicht meinen. Zusammen haben sie mein Leben ruiniert.“ (Helen, Seite 11f)


    455 Seiten, kartoniert
    Originaltitel: A Woman’s Place
    Aus dem Amerikanischen von Dorothee Dziewas
    Verlag: Verlag der Francke Buchhandlung GmbH, Marburg 2009
    ISBN-10: 3-86827-092-2
    ISBN-13: 978-3-86827-092-1



    Zum Inhalt (Quelle: Buchrücken)


    Michigan 1941.
    Vier Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten:
    Virginia ist mit Leib und Seele Hausfrau und Mutter. Doch sie sehnt sich nach Anerkennung ihrer Arbeit durch ihre Familie. Die frisch verheiratete Rosa will der Mißbilligung ihrer Schwiegereltern entkommen. Doch was soll die lebenslustige New Yorkerin ohne ihren Mann in der Einöde des Westens mit sich anfangen? Helen leidet unter ihrer Einsamkeit als alleinstehende, ältere Frau. Ihr Reichtum kann ihr nicht das geben, wonach sie sich sehnt. Jean, die Jüngste, träumt davon zu studieren und mehr aus ihrem Leben zu machen. Muß sie dafür auf eine eigene Familie verzichten?
    Der Angriff auf Pearl Harbor erschüttert die Lebensentwürfe der Frauen. Ihre Arbeit in einer Schiffswerft führt sie zusammen. Mit der Zeit wird dem ungleichen Quartett bewußt, daß sie trotz aller Unterschiede einander so viel Kraft und Hoffnung schenken können - als Freundinnen. So gewinnen sie wertvolle Erkenntnisse über sich selbst, das Leben, die Liebe und den Glauben.




    Über die Autorin


    Viel habe ich nicht gefunden. Lynn Austin hat im Jahre 1992 ihre Tätigkeit als Lehrerin aufgegeben und widmet sich seither hauptberuflich dem Schreiben. Sie hat mit ihrem Ehemann drei Kinder und lebt in der Nähe von Chicago.


    Lynn Austin hat mehrfach den Christy Award für ihre Büchjer erhalten.


    - < Klick > - da ist die Website der Autorin (in englischer Sprache)
    - < Klick > - da ist die Seite zum Buch beim Originalverlag (in englischer Sprache, mit Leseprobe und Reading Guides)
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    - < Klick > - hier noch die Wikipedia-Seite zum Angriff auf Pearl Harbor




    Meine Meinung


    Wie fange ich eine Rezi an, wie schreibe ich überhaupt eine Vorstellung zu einem Buch, das mich zum lauten Auflachen wie zum bitteren Weinen gebracht hat.


    Gleichzeitig.



    Virginia, die treusorgende Mutter und Hausfrau, die so gut funktioniert, daß sie nur noch wahrgenommen wird, wenn sie nicht funktioniert.


    Rosa, die heißblütige Italienerin, frisch mit Dirk verheiratet. Solange er beim Militär ist, wohnt sie bei ihren ihr bis dato unbekannten strengen und sehr frommen Schwiegereltern.


    Helen, die ehemalige Lehrerin aus bestem Hause, reich aber einsam.


    Jean, die achtzehnjährige junge Frau mit ihren 17 Geschwistern, wohnt bei ihrer Schwester, solange deren Mann im Krieg ist.


    Was haben diese vier gemeinsam, was verbindet sie? Nichts - bis zu jenem verhängnisvollen 7. Dezember 1941, in dessen Morgenstunden der Angriff auf Pearl Harbor stattfand und die USA offiziell in den Krieg eintraten. Ein Ereignis, das nicht nur die Weltgeschichte, sondern auch das Leben der vier Frauen (und deren Familien) für immer verändern sollte.


    Denn kurze Zeit später finden sich diese vier in der Werft in einer Gruppe als Elektrikerinnen vereint, um Landungsboote zu verkabeln. Eben jene, die später bei der Landung in der Normandie zum Einsatz kamen. So handelt das Buch von „kleinen“ wie von „großen Dingen und Ereignissen; wie diese ineinander verwoben sind, sich gegenseitig bedingen und voneinander abhängig sind. Von so „kleinen“ Dingen wie dem Zurechtfinden der Vier in einer für sie völlig ungewohnten Umgebung und Tätigkeit und so „großen“ Dingen wie etwa dem Rassismus oder überkommenen gesellschaftlichen Vorstellungen und Zwängen.


    Überhaupt war ich nicht unbedingt auf die Spannweite dessen, was die Autorin in diesem Buch verarbeitet hat, vorbereitet. Nur auf drei Dinge will ich näher eingehen.


    Das Buch setzt rund siebzehn Jahre vor meiner Geburt ein, das heißt die (gesellschaftliche) Welt, die beschrieben ist, ist von, der in welche ich hineingeboren wurde, zeitlich gesehen nicht weit entfernt. Das gehört zu den größten Schockerlebnissen, die ich beim Lesen dieses Buches hatte. Etwa diese klare Rollenverteilung zwischen Mann und Frau oder diese strenge biblische „der Mann ist das Oberhaupt der Familie“ ist mir in dieser Deutlichkeit noch nie so drastisch vor Augen geführt worden (zumal ich das von zuhause so nicht kenne). Erst (und erstmals überhaupt) durch das Lesen dieses Buches ist mir auch nur ansatzweise bewußt geworden, was für ein tiefgreifender Einschnitt der Zweite Weltkrieg in der Entwicklung bedeutet hat; ich meine jetzt nicht die militärische oder politische Sichtweise, sondern für das gesellschaftliche Leben, die gesellschaftliche Entwicklung. Danach konnte es tatsächlich nie wieder so sein wie vorher. Frauen, die jahrelang erfolgreich Schiffe gebaut hatten, konnte man nicht per Kommando zurück an den Herd beordern. Der Beweis war erbracht, daß sie eben nicht das „schwache Geschlecht“ sind, sondern den Männern an Können und Fähigkeiten nicht nachstehen.


    „Warum gibt es in der Welt so viel Hass, Harold? Hier in Stockton gibt es Rassismus, in Deutschland hassen sie die Juden, und die Leute an der Westküste wenden sich gegen japanischstämmige Amerikaner.“ (Seite 337) Diese Liste ließe sich sehr einfach noch erheblich erweitern und führt zum zweiten großen Thema des Buches: dem Rassismus. Ganz langsam taucht die Problematik am Horizont auf, wird deutlicher und drängender, um sich schließlich in einer Katastrophe zu entladen. Ich habe noch dunkle Erinnerungen an meine Kindheit, als in den Nachrichten Bilder von Rassenunruhen in den USA gezeigt wurden. Wenn diese Masse sich in Einzelschicksale auflöst, wird erst deutlich und begreifbar, worum es wirklich geht. Und für mich das Verhalten jener Verbrecher, die sich Rassisten nennen (bzw. sind), um so unverständlicher.


    Schließlich kristallisiert sich immer mehr ein weiteres großes Thema des Romans heraus: die Theodizee-Frage, oder vereinfacht gesagt: wie kann ein guter Gott so viel Leid zulassen? Ich möchte das jetzt nicht näher ausführen, das kann Lynn Austin um Längen besser als ich. Nur eines sei erwähnt: ich habe aus diesem Buch wesentlich mehr über diese Problematik gelernt, als ich etlichen Sachbüchern dazu zuvor. Gut zusammengefaßt in den Erklärungen von Jeans Mutter, die ich spoilere, weil das ziemlich weit hinten im Buch steht (wenngleich nichts Wesentliches der Handlung verraten wird):


    Was mich noch daran erinnert zu erwähnen, daß es sich um das Buch einer christlichen Autorin handelt. Gott und Glaube spielen, vor allem im letzten Drittel, eine erhebliche Rolle. In Anbetracht der Kernzielgruppe, für die das Buch geschrieben ist, müssen manche (persönliche) Entwicklungen so verlaufen, wie sie es tun, oder Personen sein, wie sie sind: etwa Earl Seaborn ein durch und durch guter Mensch. Einseitig, kantenlos? Ich habe es nicht so emfpunden. Die geradlinige Personenführung erleichtert (für mich) die Auseinandersetzung mit den „Sachthemen“ und macht diese deutlicher und verständlicher. Obwohl, wenn ich etwa an Rosas Schwiegereltern denke, ist es letztlich vielleicht doch nicht so geradlinig ...


    Geschrieben ist das Buch abwechselnd aus vier verschiedenen Perspektiven, nämlich aus denen der oben schon erwähnten Protagonistinnen. Das ist zwar bisweilen etwas anstrengend, gibt jedoch einen guten Einblick in die Persönlichkeiten und Denkweisen. Vor allem enthüllt sich auf diese Weise nur sehr langsam die ganze tragische Geschichte von Helen. Als schließlich der Brief von Jimmy in voller Länge zitiert wurde, mußte ich das Buch erst mal für einige Minuten zur Seite legen. :cry


    Etwas ungewohnt, zumindest für mich, war die rein amerikanische Sichtweise auf die Ereignisse der Zeit. Oder zu lesen, was der Krieg für das Leben der einfachen Amerikaner bedeutete. Trotz der Größe des Landes gab es auch dort Rationierung und sonstige kriegsbedingte Einschränkungen, nicht so drastisch wie es in Deutschland wohl war, aber dennoch.


    Die letzten einhundertfünfzig Seiten konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Als ich durch war, befiel mich eine gewisse Traurigkeit, daß ich die mir lieb gewordenen Protas nun für immer verlassen und ihr Leben leben lassen muß. Gleichzeitig hat mich auch dieses Lynn Austin Buch innerlich tief ruhig und zufrieden zurückgelassen. Wie selten eines zuvor hat es mir die Unsinnigkeit des Krieges vor Augen geführt und die vielleicht einzig mögliche Überwindung des Hasses; nämlich


    Schließen möchte ich mit einem Ausspruch von Earl, der einen weiteren Aspekt dieses Buches wunderbar zusammenfaßt:


    „Es ist wunderbar, Pläne zu haben, Jean, aber vergiss nicht, im Jetzt zu leben. Es ist ein Fehler, das Heute zu übersehen, weil du immerzu in die Zukunft blickst oder in die Vergangenheit. Wenn wir uns immer die Zukunft oder die Vergangenheit herbeiwünschen, verpassen wir die Gegenwart. Außerdem haben Pläne es so an sich, dass sie gegen unseren Willen geändert werden.“ (Seite 402)




    Kurzfassung:


    Ich bin noch zu sehr mitgenommen, als daß ich meine Eindrücke in einem Satz unterbringen könnte. Vielleicht so: eines der besten Bücher mit schwierigem thematischen Inhalt, das ich je gelesen habe.



    Edit Fehlerberichtigung
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    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

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  • Hier noch die amerikanische Originalausgabe. Beim Lesen der deutschen hatte ich übrigens nie das Gefühl, eine Übersetzung zu lesen. Dorothee Dziewas hat auch bei diesem Buch mE hervorragende Übersetzungsarbeit geleistet.
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    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ach, ich wusste, Du kannst das tausendmal besser als ich. :anbet
    Danke für die Rezi. :anbet


    Den Perspektivwechsel fand ich gerade interessant, dieser ständige Wechsel, die Geschichte aus einer anderen Sicht fortzuschreiben und fortzutreiben, hatte mir den Eindruck beschert, ich bin noch näher an der Geschichte dran, ich bin praktisch dabei.


    Lynn Austin: Ich glaube, die Frau kann gar nicht anders als gut schreiben.