"Im Keller" von Jan Philipp Reemtsma

  • Schon vor Jahren hatte ich dieses Buch einmal gelesen. Damals allerdings noch als Leih-Exemplar aus der Bücherei. Es wurde sogar von Reich-Ranicki empfohlen, weil es nahezu literarische Qualitäten habe. Darauf war ich neugierig. Aber erst heute, nach der zweiten Lektüre, kann ich dies so richtig würdigen.


    Es ist schon merkwürdig, wie sehr das Verstreichen von Zeit die eigenen Lese-Eindrücke formt. Von meiner damaligen Lektüre her kann ich mich nur noch erinnern, dass ich dieses Buch merkwürdig "verkopft" fand, und so detailarm. Heute ist mein Eindruck völlig anders. Vielleicht auch und gerade deshalb, weil ich das Buch im Zusammenhang mit anderen, ähnlichen Büchern lese (Natascha Kampusch, Sabine Dardenne); und weil ich selber älter geworden bin...?


    Ich habe es zwar an einem einzigen Tag gelesen, möchte aber anderen Lesern raten, dies nicht zu tun. Dafür ist schon allein Herrn Reemtsmas Sprache zu reichhaltig. Sie mag auf den ersten Blick sogar zu distanziert-philosophisch erscheinen. Doch er selbst beschreibt ja in seinem Vorwort, das man unbedingt genau lesen sollte, die Gründe.


    Die Struktur des Buches ist schon recht ungewöhnlich. Wir haben hier keinen Abenteuer-Bericht vor uns, der chronologisch vorgeht. In einem ausführlichen einleitenden Abschnitt, einem Vorwort, wird erst einmal der Grund geschildert, warum und wie dieses Buch entstand. Schon allein diesen Abschnitt könnte ich wieder und wieder lesen! Großartig versiert wird hier begründet, was eine Entführung psychisch mit einem Menschen anrichtet. Er möchte sich durch die Verschriftlichung sozusagen von der "erzwungenen Intimität" mit den Tätern reinwaschen. Und, wie so viele andere Opfer, möchte er "ein für alle Mal" alles gesagt haben.


    Der zweite Abschnitt bietet dem Leser nun in der Tat einen chronologischen Abriss der Ereignisse. Interessant wird dies für den Leser vor allem durch die Tatsache, dass nun, im Rückblick, vor allem die Gründe für das mehrfache Scheitern der Übergaben klar werden, und die zähen Verhandlungen mit den Entführern. Sämtliche Telefonate und Briefe werden zitiert, was dem Leser einen guten Einblick in die nahezu zwangsläufige Dramatik einer Entführung bietet. Hier kommt tatsächlich so etwas wie Abenteuer-Feeling auf; gebremst allerdings durch die weiterhin recht gewählte Sprache von Herrn Reemtsma.


    Der dritte (und längste) Abschnitt des Buches nun ist auch der ungewöhnlichste. Reemtsma schreibt hier gleichzeitig aus der Innen- und Außenperspektive. Im Klartext heißt das, dass sowohl Sätze in der dritten Person ("er") als auch in der ersten Person ("ich") vorkommen. Manchmal in einem einzigen Satz. Doch das ist nur auf den ersten Blick verwirrend. "Er" heißt es immer dann, wenn sich der Entführte an sein damaliges, entführtes Ich erinnert; "ich" hingegen sagt er, wenn er aus heutiger Sicht etwas hinzuzufügen hat. So entsteht ein reizvoller Kontrast, ein Kaleidoskop an Empfindungen. Schon allein dadurch verbietet sich ein erhöhtes Lesetempo!


    Herr Reemtsma will sich in diesem Abschnitt gleichzeitig verständlich machen und schützen, was ihm auch beeindruckend intensiv gelingt. Er schildert, was er von Tag zu Tag empfand, welche Emotionen ihn umtrieben, wie er von seinen Entführern psychisch manipuliert wurde, und welchen Kontakt er zu ihnen hatte. Bis hin zu seiner Befreiung, an die er selber nicht recht geglaubt hatte.


    Der vierte Abschnitt charakterisiert sich am besten selbst, durch ein Zitat: "Es ist vorbei und ist doch nicht vorbei. Der Keller bleibt in meinem Leben." Hier reflektiert Reemtsma, wiederum sprachlich versiert, voller Zitate und Einsichten, was Entführungen überhaupt sind, was sie anrichten, und was sie bei ihm angerichtet haben. Das "Danach" eben. Die Jagd nach den Tätern, die Identifierung des Tatortes, und die bleibenden Symptome. Grandios sind hier seine Gedanken dazu, was eigentlich eine Identität ausmacht - kurz, er kommt zu dem Schluss, dass es so etwas wie ein "festes Ich" gar nicht gibt, ja, nicht geben kann. Denn im Keller fühlte er sich zwischen seinen Emotionen hin- und hergeworfen, die von Minute zu Minute wechseln konnten. Da gab es nichts Festes, nichts Eindeutiges. Und somit wird er mit seinen Erfahrungen letztlich immer allein sein - auch wenn viele Menschen dieses Buch lesen.


    Dies ist sicherlich kein Buch für den leichten Konsum. Im direkten Kontrast zu den beiden eingangs erwähnten, anderen Büchern von Entführungsopfern wird auch klar, worin der Unterschied besteht. Reemtsma ist ein Intellektueller und Millionenerbe, dem in vielerlei Hinsicht gänzlich andere Mittel der Verarbeitung zur Verfügung standen. Er zitiert ausgiebig aus Literatur, Soziologie und Philosophie, und seine Sprache ist die eines Menschen, der es gewöhnt ist, sich schriftlich auszudrücken. Wäre der Hintergrund nicht so ernst, könnte man manche Absätze geradezu als "schön" im literarischen Sinne bezeichnen. Insgesamt würde ich es als ein Buch bezeichnen, dass sich auf einem schmalen Grat zwischen Sachbuch, Erlebnisbericht und wissenschaftlichem Aufsatz befindet. Das mag zwar nicht eingängig und massentauglich konsumierbar sein - dafür aber umso ergiebiger für die eigene Reflexion.