Christine Brinck: Eine Kindheit in vormaurischer Zeit
Berlin Verlag 2010. 192 Seiten
ISBN-13: 978-3827009265. 19,90€
Verlagstext:
Der sozialistische Alltag bleibt draußen vor der Tür. Beim Jugendpfarrer im Schweriner Dom fühlen sie sich wohler als in den Gruppensitzungen der Jungen Pioniere; in preußisch-tatkräftiger Manier eröffnet die Mutter ein Schülerpensionat, um ihre Kinder satt zu kriegen. So trotzt eine verschworene bürgerlich-protestantische Lebensgemeinschaft erfolgreich der geistigen und materiellen Mangelwirtschaft im deutschen Sozialismus. Doch das Leben im Schwerin der 1950er Jahre dringt unerbittlich in den Privatraum Familie ein. Denn selbst in Freundschaften oder auf dem Pausenhof konnte jedes Wort eines zu viel sein. Wie Menschen mit bedrohlichen Situationen fertig werden, ohne Humor und Tatkraft zu verlieren, wie Kindheit dennoch voller unbeschwerter Momente sein kann und wie man sich zwischen Auflehnung und Rückzug täglich neu arrangiert, davon erzählt die Autorin ganz ohne Selbstmitleid, aber mit scharfem Blick.
In einem zweiten Teil verleiht Christine Brinck sehr unterschiedlichen Stimmen Gehör, die die Sehnsucht nach Freiheit, der Verdruss an der Diktatur und schließlich die Flucht aus der DDR verbindet. Etwa einem Tennis-Crack, der sich der Konkurrenz draußen in der Welt stellen wollte und nicht nur im „sozialistischen Ausland“, einem Philo sophiestudenten, dem die Wahrheit wichtiger war als die Partei, und einem Schweizer Mädchen, das in die bürokratischen Mühlen einer Diktatur geriet. Frei von Kitsch und Ostalgie lässt Christine Brinck ein Stück deutsch-deutsche Geschichte auferstehen. Unaufgeregt im Ton, aber scharfsinnig in der Sache ist dieses Buch ein Dokument aus fast vergessener Zeit und deshalb Aufklärung im besten Sinne des Wortes.
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Über die Autorin:
Christine Brinck wuchs in der DDR auf. Nach der Flucht ihrer Familie in den Westen ging sie aufs Gymnasium und studierte später Anglistik, Linguistik und Vergleichende Hochschulforschung in Hamburg. Heute arbeitet sie als freie Journalistin für DIE ZEIT, die FAS, die SZ. Sie sitzt im Beirat der START Stiftung und des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks. Die Übersetzerin von Art Spiegelmans Maus ist Herausgeberin und Autorin mehrerer Bücher und lehrt an der Hamburg Media School. Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in München und Hamburg.
Zum Inhalt:
Die Tante hatte die rettende Idee. Christine Brincks Mutter stand nach dem Zweiten Weltkrieg als Witwe ohne Berufsausbildung vor dem Problem, sich und ihre Kinder zu ernähren. Die patente Tante schlug vor, eine Pension für Schüler zu gründen; denn viele Kinder vom Land brauchten in Schwerin eine Unterkunft, um dort zur Oberschule zu gehen. So wuchs die kleine Christine als Nesthäckchen mit drei Geschwistern und einem Dutzend älterer Schüler auf. Viele der Pensions-Schüler stammten aus Akademikerfamilien, die Eltern der Kinder waren aktiv in der Evangelischen Kirche. Ein großer Teil dieser Schüler wird aufgrund des Berufs der Eltern entweder erst gar nicht zum Abitur zugelassen oder nach bestandenem Abi nicht zum Studium. Aus der Perspektive eines ungefähr fünfjährigen Kindes, das noch nicht alles versteht, was es hört, zeichnet die Autorin ein lebendiges Bild der DDR in den 50er Jahren. Die Schülerpension lag in Sichtweite des Gefängnisses. Eine unbestimmte Angst "abgeholt" zu werden, Gespräche über "verschwundene Menschen" sind in Christines Kindheit alltäglich. Sorge, Wut und Angst der Älteren lassen sich nicht vor Christine verbergen. Sie und ihre Geschwister wachsen als Kinder ohne Pioniertuch auf, ihre Familien verweigern sich den staatlich verordneten Jugendorganisationen und deren Ritualen. Die Widersprüche des Systems sind gerade für kritische Jugendliche aus christlichem Elternhaus nicht zu übersehen. Zwar sind alle Menschen offiziell gleich. Einige besitzen jedoch Waren, die man nur in Berlin oder Hamburg kaufen kann. Wer Schuhe aus dem Westen trägt, hat entweder eine spendable Tante im Westen - oder arbeitet für die Stasi. Lebensmittelkarten (die auch auf dem Buchcover abgebildet sind) symbolisieren ernüchternd das Scheitern der staatlichen Planwirtschaft. Christine erinnert sich, dass ihre Mutter sie einmal zum Einkaufen von 750gr Fleisch schickte, der gesamten Menge, die dem Haushalt für 20 Personen damals zugeteilt war. Wer mit den Kindern von Obstbauern zur Schule geht, fragt sich zweifellos, warum die Äpfel, die die Väter der anderen Kinder ernten, nicht in den Geschäften zu kaufen sind. Christines Generation lernt das Lesen zwischen den Zeilen; der freche Umgang mit der Sprache wird zur Überlebensstrategie der Christen in der Diktatur. Später wird Brinck feststellen, dass selbst für sie, das kleine Mächen aus Schwerin, eine Stasi-Akte angelegt wurde. Kurz vor dem Mauerbau flüchtet Christines Familie in den Westen. Die Kinder und ihre Mutter müssen nun für lange Zeit getrennt voneinander bei Verwandten und in Flüchtlingsunterkünften leben. Kein Wunder, dass die Autorin unverbesserlichen Ostalgikern gegenüber sehr unduldsam reagiert. Die meisten, die heute dem Gemeinschaftserlebnis DDR nachtrauern, konnten auch nach der Wende in ihrem gewohnten Bett schlafen und mussten nicht von ihren Eltern getrennt aufwachsen, stellt Brinck bitter fest.
An die Kindheitserinnerungen schließen fünf Interviews und das Protokoll eines Streiks an der Uni Greifwald 1955 an. Die Interviews verdeutlichen einerseits, warum DDR-Bürger in den Westen flüchteten, aber auch, welch schwerwiegende Folgen die Entscheidung zur "Republikflucht" für die zurückbleibenden Familienangehörigen hatte. Die Interviewten und die Autorin hatten zwar eine idyllische, aber keine glückliche Kindheit. Die Angst der Kinder vor (russischen) Soldaten und der zum Überleben in der Diktatur nötige Instinkt, anderen besser nicht zu vertrauen, prägte ihr weiteres Leben. "Man hatte es im Blut, dass man sich vorsehen musste."
Fazit:
Christine Brinck hat ihre Erinnerungen für ihre eigenen Kinder geschrieben und für alle, die nichts über die DDR wissen. Ihr kurzer Text setzt weit verbreiteter Ostalgie den nüchternen Bericht über Versorgungsmängel, staatliche Bespitzelung und das nicht vorhandene Recht auf Bildung und freie Berufswahl entgegen. Der überschaubare Text ist für Jugendliche geeignet und beantwortet die häufig gestellte Frage, was man z. B. einem Austauschschüler über die ehemalige DDR erzählen sollte.
9 von 10 Punkten