Schreibwettbewerb Januar/Februar 2012 - Thema: "Unterwegs"

  • Thema Januar 2012:


    "Unterwegs"


    Vom 01. bis 31. Januar 2012 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Januar 2012 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 1. Februar eingestellt. Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!

  • von Sonne79



    An einem Samstagnachmittag, Ende Januar, mache ich mich auf zu einem Spaziergang. Den azurblauen Himmel und die warmen Sonnenstrahlen muss ich bei den eisigen Temperaturen um den Gefrierpunkt einfach nutzen.


    Warm eingepackt geht es los. Der Wind weht mir um die Nase und lässt mich frösteln.


    Die Steigung am Anfang des Weges kostet mich etwas Anstrengung - weshalb ich anhalte, mich umdrehe - und den Blick über das Dorf schweifen lasse, welches so still und friedlich da liegt. Die Geräusche des Dorfes verstummen langsam und die Motoren der vorbei fahrenden Autos auf der Hauptverkehrsstraße werden leiser, als ich meinen Weg fortsetze.


    Die Kirchturmspitze wird kleiner und verschwindet im Dunkeln. Rechts des Weges begleiten mich Hecken und Weiden, wo im Sommer die Kühe grasen. Außerdem darüber hinaus, hoch heraus ragend der Wartgesberg. Links liegt die Lay. Im Sommer reichen sich dort Ginsterhecken und Mohnblumen die Hand.


    Der Weg wird wieder flacher und dann geht es links über einen Feldweg wieder hinab. Hier bietet sich mir ein herrliches Schauspiel:
    Die Sonnenstrahlen schimmern sich auf dem gefrorenen Gras am Hang und auf dem Weg wieder. Beim Gehen knackt es unter den Füßen.


    Aus der Ferne hört man Vogelgezwitscher, welches an den Frühling erinnert. Die Sonne tanzt auf meiner Nase und wärmt sie. Ich gehe weiter und sehe die ersten Häuser und die Kirche.


    Für heute hab ich meine Runde hinter mir. Im letzten Jahr hab ich diesen Weg zu meinem Lieblingsweg gemacht und freu mich schon auf den heißersehnten Sommer, wenn die Bäume und Sträucher wieder blühen.

  • von xania



    Ich solle meinen Auftrag erfüllen und nicht herumlümmeln, hatte die Chefin befohlen und gedroht mich hinauszuwerfen. Aber Arbeit ist unheimlich anstrengend und macht überhaupt keinen Spaß, deshalb streife ich lustlos durch die Gegend, als vor mir, dem angeblich nutzlosesten und nichtsnutzigsten Mitglied der Truppe, plötzlich wie aus dem Nichts ein riesiger Schatz auftaucht. So ein Prachtstück wiegt ganz schön schwer, also nehme ich eine nicht allzu große Probe und mache mich auf den Weg zurück ins Lager. Unterwegs versuche ich mir den Weg einzuprägen.
    Ehrlich gesagt bin ich schon stolz drauf, einmal etwas vorzeigen zu können. Ich kann es kaum erwarten, den Applaus und die Anerkennung entgegenzunehmen, die mir bis heute immer verweigert wurden.
    Ganz in Tagträume verloren, habe ich ganz kurz nicht so richtig auf den Weg geachtet. Man behauptet, ich würde über eine hervorragende Orientierung verfügen, doch ich habe keine Ahnung, wo ich bin und weiß auch nicht mehr so sicher, wo der Schatz sich befindet. Beim Wiederfinden würde ich improvisieren müssen, aber das wird schon klappen. Die Anderen werden staunen und aufhören, mich die verrückte Emma zu nennen. Ha!


    Endlich erscheint am Horizont unser Lager. Ich wäre vor Glück am liebsten in die Luft gesprungen, aber ich bin so erschöpft und habe außerdem die Probe zu schleppen.


    Vor dem Eingang sehe ich die Streberin Annabelle. Ex-Streberin, denn diesmal werde ich den Zuspruch bekommen. Blöde Kuh. Triumphierend rufe ich ihren Namen und merke deshalb leider etwas zu spät das riesige, komische Ding am Himmel, das mit hoher Geschwindigkeit auf mich zurast. In Panik werfe ich die kostbare und mühselig geschleppte Probe weg und flüchte. Zu spät. Das unheimliche Objekt bekommt mich gerade noch zu fassen und zerquetscht meinen Fuß. Verzweifelt drücke und zerre ich, aber weder der Fuß noch der Gegenstand bewegen sich einen Millimeter. Ich tobe, weine und raste vor Wut gerade aus, als über mir eine allmächtige Stimme ertönt:


    "Sylvia! Du stehst auf einer Ameise!"

  • von Regenfisch



    Leise tickte die Uhr. Immer im gleichen Takt. Sekunde um Sekunde kroch die Zeit voran und kam doch nicht von der Stelle. Das Ticken zerriss die lähmende Stille.
    Plötzlich schreckte sie hoch. Sofort spürte sie das beklemmende Gefühl der Angst, das ihren Brustkorb zu zerdrücken schien. Unsicher blickte sie sich um. Sie musste kurz eingenickt sein. Ihr Blick suchte einen Halt und blieb an ihren Schuhen hängen, an denen die Erde im Laufe der Nacht Krusten gebildet hatte.
    Martin! Ihr fiel der Plastikbecher aus der Hand, den sie wohl schon eine Weile umklammert hielt. Die Reste der braunen Brühe bildeten auf dem blitzsauberen Boden eine störende Pfütze. Auf der Suche nach einem Taschentuch schoss ein stechender Schmerz durch ihren Körper.
    Warum war sie überhaupt hier? Martin und sie, sie wollten doch ihre Eltern besuchen, jetzt, wo die kritischen Wochen endlich überstanden waren. Sie hatte es ja kaum noch aushalten können und war allen bohrenden Fragen ihrer Mutter geschickt am Telefon ausgewichen. Sie wollten die freudige Nachricht gemeinsam überbringen. Deshalb waren sie am Morgen gleich nach dem Frühstück aufgebrochen. Hundertmal hatte sie sich den Text schon im Kopf zurechtgelegt. Wir müssen euch etwas sagen.
    Doch dann war es viel schwieriger gewesen als sie erhofft hatte. Beim Mittagessen hatte ihr Vater wie immer das Gespräch dominiert. Sämtliche Neuerungen des Finanzwesens hatte er ihnen vorgekaut und bevor sie eine Gesprächslücke erwischen konnte, war er auch schon wieder in seinem Arbeitszimmer verschwunden, mal eben noch einen unaufschiebbaren Anruf tätigen.
    Einzig die Kunst der sanften Erpressung, die ihre Mutter nach über dreißig Ehejahren perfekt beherrschte, hatten ihn dann doch zu einem gemeinsamen Spaziergang überreden können.


    Und dann war es passiert. Übermütig wie kleine Kinder hatten Martin und sie Fangen gespielt. Obwohl Martin mehrfach betonte, er habe nicht das richtige Schuhwerk dafür an, hatte sie ihm diesen kleinen Spaß abgebettelt. Ach komm schon, wer weiß, wann wir wieder die Gelegenheit dazu haben. Und wenn dann erst der Bauch so richtig dick ist…
    Er hatte den Abhang im Rückwärtslauf einfach nicht gesehen. Es war alles so schnell gegangen. Seine glatten Schuhe fanden keinerlei Halt. Steine bröckelten. Erde rutschte. Sie hatte nicht gewusst, dass ein Schädel beim Aufprall so laut knirschen konnte.
    Glücklicherweise hatte ihr Vater entgegen aller Beteuerung doch sein Blackberry mitgenommen und so konnten sie sofort den Rettungsdienst verständigen.
    Ewigkeiten war dieser unterwegs bis die Unfallstelle gefunden und Martins schlaffer Körper endlich im Rettungshubschrauber abtransportiert wurde. Auch wenn die Uhr das Gegenteil erzählte.


    An die Fahrt ins Krankenhaus konnte sie sich nicht mehr genau erinnern. Nur, dass die Regentropfen an der Seitenscheibe immer neue Wege fanden, um dann doch im Nichts zu versickern. Oder waren es doch nur ihre Tränen gewesen, die unaufhörlich ihr Gesicht hinunterrannen?


    „Frau Bergmann? Alles in Ordnung?“ Die Krankenschwester legte besorgt einen Arm um ihre Schulter. „Dr. Klein ist schon unterwegs zu Ihnen. Er wird Ihnen gleich sagen, wie die OP verlaufen ist.“
    Mehrmals noch umrundete der Zeiger das Ziffernblatt. Dann vernahm sie die erlösenden Schritte.

  • von Suzann



    Was hatte sie nur geritten, vor dem scharfen, neuen Arbeitskollegen mit ihrer Leidenschaft für Bewegung in unberührter Natur zu kokettieren? Sie, die „Sportskanone“, deren Fitness sich darauf beschränkte, gelegentlich mit einer Freundin walken zu gehen.
    Eigentlich wusste sie ja genau, was sie dazu getrieben hatte. Es war ihre Libido gewesen, die zwecks potentieller Befriedigung auf den Naturburschen hatte Eindruck machen wollen. Das hatte sie jetzt davon.
    Sie trottete hinter ihm her, bewunderte sein zugegebenermaßen ziemlich knackiges Hinterteil und versuchte die wundgescheuerten Stellen an ihren Füßen zu ignorieren. Florian, der Adonis in klobigen Wanderschuhen, hatte keine Ahnung, was sie ausstand und wies sie immer wieder auf landschaftlich schöne Stellen hin. Ab und zu erkundigte er sich, ob er zu schnell ginge oder ob sie eine Pause bräuchte. Um in der Rolle der fitten Naturliebhaberin zu bleiben, verneinte sie jedes Mal und biss die Zähne zusammen. Wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie an der Almhütte ankämen? Sie hatte langsam das Gefühl, ihre Schuhe wären mit Blei besohlt.


    Neben dem Weg erschien ein munter plätscherndes Bächlein aus dem Wald. Ihre Blase nahm das zum Anlass sich vehement zu Wort zu melden.
    „Florian“, rief sie. „Ich muss mal. Wartest du auf mich?“
    „Klar, lass dir Zeit, Sonja. Am besten gehst du hinter den Felsen da“, meinte er und deutete auf die andere Bachseite.
    Nach einem flüchtigen Blick auf die gebräunte, wohldefinierte Brust, die unter seinem bis zur Mitte aufgeknöpften Hemd zu erkennen war, wandte sie sich ab und hüpfte von Stein zu Stein über das Rinnsal.
    Leider war die Stelle hinter dem Felsen nicht so ideal, wie Florian es vermutet hatte. Sie hatte gerade ihre Hose offen und wollte in die geeignete Stellung gehen, da rutschte sie auf dem unebenen Untergrund ab und ihr Gewicht zwängte ihren Fuß in eine Felsspalte. Der Schmerz entlockte ihr ein lautes: „Scheiße!“ Sie hatte kaum Zeit ihre Hose hochzuziehen, als Florian schon um den Felsen gerannt kam.
    „Was ist los?“, fragte er besorgt, erfasste dann aber die Situation, ohne dass sie etwas sagen musste. Es tat weh, als er ihren Fuß befreite, trotzdem überlief sie eine Gänsehaut, als seine kräftigen Finger die nackte Haut ihrer Wade berührten.
    „Am besten kühlen wir das gleich im Bach, sonst kommst du nicht mehr den Berg hinunter“, schlug er vor.
    Er drängte seinen harten Körper an ihre Seite und half ihr, zu einer flachen Steinplatte im Bach zu humpeln. Schauer jagten über ihren Rücken, als seine große Hand dabei fest um ihre Taille fasste. Der Schmerz im Fuß war fast vergessen, dafür pochte jetzt eine andere Stelle.


    Mit geschlossenen Augen, die nackten Füße im Wasser, lag sie auf dem Felsen. Plötzlich legte sich eine Hand auf ihren Oberschenkel. Als sie überrascht blinzelte, schob sich Florians Gesicht vor die Sonne und im nächsten Moment spürte sie seine Lippen an den ihren. Ihr Mund verzog sich unter dem sanften Kuss zu einem Lächeln. Vielleicht war es doch nicht so eine Schnapsidee gewesen, mit Florian auf diese Bergwandertour zu gehen…

  • von LadyTudor



    So oft war er unterwegs,
    unterwegs an ungezählten Orten.
    Tausend Dinge hat er erlebt,
    tausend Länder hat er bereist.


    Er traf Menschen und Wesen,
    von denen andere nur träumen.
    Vollbrachte Wunder und Taten,
    wurde selbst zum Held.


    Er wandelte durch alle Zeiten,
    meist gefeiert, oft gefürchtet.
    Überall war er unterwegs.
    Und niemals war er hier allein.


    Nur zwischen Papier und Tinte
    Fühlt er nicht die Leere.
    Nur hier ist er glücklich,
    wo er sein kann, wer er will.

  • von SteffiB



    Ein letztes Mal kontrolliert er den Inhalt seines Rucksacks: Taschenmesser, Fleecepullover, MP3-Player. Brote und Obst, eine Flasche Fanta. Ausreichend Proviant für die Reise, hoffentlich. Zögernd wiegt er das Handy in der Hand. Mit so einem Ding in der Tasche kann die Polizei dich orten. Er lässt es besser zurück. Beklommen zieht er die Haustür hinter sich zu. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er allein unterwegs.
    Irgendwann, die Stullen sind längst verzehrt, der Apfel bis zum Griebsch abgenagt, steigt er aus dem Zug, irgendwo. Die Menschen auf den Straßen sehen anders aus als die, die er zurückgelassen hat. Dunkle Haare haben sie, dunkle Augen. Männer mit prächtigen Bärten, weiße Kappen auf dem Kopf, drängen sich an ihm vorbei und verschwinden in einem Gebäude mit hübsch gekachelter Fassade. Eine Frau, mondgesichtig durch ihr stramm gebundenes Kopftuch, betrachtet ihn nachdenklich, doch als sie Anstalten macht, ihn anzusprechen, ergreift er die Flucht. Entweicht in eine Seitenstraße, verbirgt sich hinter einem Müllcontainer. Worauf nur hat er sich eingelassen? Erst, als die Wintersonne hinter der Kuppel des Kachelhauses verschwindet, traut er sich zurück zur Hauptstraße. An der Straßenecke stehen einige Jungen, dunkel auch sie. Ganz cool rauchen sie Zigaretten, ihre Sprache ist seltsam abgehackt. Jetzt sehen sie ihn, kneifen misstrauisch die Augen zusammen. Er gibt Fersengeld. Noch nie ist er sich so verletzlich vorgekommen, so auffällig, mit seinen strohblonden Haaren und hellblauen Augen. Er muss fort von hier, schnell! – und landet direkt in den Armen einer dürren Frau. Ihre Augen sind in grellem Türkis bemalt, die Wimpern schwarz und dick wie Spinnenbeine, das Lächeln gelb. Er reißt sich los, stürzt davon, da, der Zug, er rennt, keucht, schnauft, lässt sich in ein freies Viererabteil fallen, gerade noch davongekommen.
    Sein Magen knurrt vernehmlich, aber seit dem letzten Erlebnis schätzt er die Sicherheit des warmen Zuges. Wie weit mag er schon von zu Hause fort sein? Menschen steigen zu, steigen wieder aus, manche mit schwarzer Haut und einmal sogar eine Chinesin, er stellt sich schlafend, und dann schläft er tatsächlich ein, den Kopf auf den Rucksack gelegt.


    Er schlägt die Augen auf. Ihm gegenüber sitzt ein Polizist, ein zweiter steht im Gang und blockiert den Fluchtweg. Der sitzende Polizist verzieht den Mund zu einem Monstergrinsen.
    „Haben wir dich“, sagt der Polizist.
    „Jetzt fresse ich dich“, versteht er.
    Ein Arm schnellt auf ihn zu, gleich, gleich werden sie ihm Handschellen anlegen, aber nichts dergleichen geschieht. Noch immer grinst der Polizist sein Monstergrinsen. „Du bist doch der Jonas, oder?“, fragt er und tätschelt ihm übers Blondhaar.
    Er nickt. Sie haben ihn also auch ohne das Handy orten können.
    „Na, dann steh mal auf. An der nächsten Station müssen wir raus. Deine Eltern warten schon.“
    Die U-Bahn fährt in die Station. Er kennt sie. Ganz in der Nähe wohnt er, mit Mama, Papa und Lilly, seine Grundschule, in die er seit dem Sommer geht, ist auch gleich um die Ecke.
    „Tja“, sagt der Monsterpolizist, er hat wohl Jonas’ ratlosen Gesichtsausdruck bemerkt. „Zum Ausbüxen sind U-Bahn-Ringlinien ungeeignet, weißt du?“

  • von crycorner



    Mit meinen Berufswünschen war es schon immer so eine Sache: Sie hielten der Realität nicht stand. Nicht, dass ich all diese Berufe jemals ausgeübt hätte, die ich mir auszuüben wünschte. Doch der Vorgriff auf die Realität, also dem wenig erstrebenswerten Arbeitsalltag, geschah regelmäßig durch meine Eltern. Und zwar zu meinem Besten.
    Der Wunsch, Logopäde zu werden, um Menschen zu helfen, sich auszudrücken und somit soziale Hürden einzureißen, kommentierte meine Mutter so: „Da sitzt Du mit Schwachsinnigen in einem Zimmer und sagst den ganzen Tag nur BALL“, wobei sie auf besonders schwachsinnige Weise die Augen aufriss und das Wort mit Mund und Zunge übertrieben artikulierte. Dennoch machte das Eindruck auf mich und ich überlegte weiter. Aber es war schwierig, etwas zu finden, was der Realität Stand hielt. So war ein Gärtner bei Regen und Schnee doch total verloren, ein Krankenpfleger schon bald ein emotionales Wrack - noch dazu unterbezahlt - und ein Friseur per se schwul. Und wenn man noch nicht schwul war, würde man es spätestens ab dem zweiten Ausbildungsjahr sicher werden. Ein Musiker endet unweigerlich in Hartz IV oder alternativ am Tresen einer Eckkneipe. Psychologie studieren nur die Bekloppten, auf dem Bau wird man schmutzig und als Bademeister stinkt man nach Chlor.
    Mit der Zeit gingen mir die Wünsche aus und ich verlagerte mich auf die klare Artikulierung dessen, was ich mir keinesfalls wünschte. Allen voran die Vorschläge meines Vaters, und sei es nur der ausgleichenden Gerechtigkeit wegen. Beamter oder Steuerberater, nein, nicht mit mir. Und: “Wer nichts wird, wird Betriebswirt. Und ist ihm auch dieses nicht gelungen, macht er in Versicherungen“. Meine Standardantworten an einen Versicherungsfachwirt. Das Ausschlussprinzip führte jedoch dazu, dass ich mich nach dem Abitur zwei Jahre durch sinnlose Zusatzqualifikationen gequält habe. Eine technisch, die andere kaufmännisch, man will sich ja alles offen halten. Aber wenn man alles offen lässt, ist man schon bald leer.
    Jetzt sitze ich im Zug nach Freiburg, um Architektur zu studieren. Nicht, dass ich mir jemals wünschte, Architekt zu sein, aber zumindest wünschte ich es mir NIE NICHT. Und das musste reichen. Wenn ich aus dem Fenster sehe, zieht die Welt an mir vorüber, so wie es die Zeit tun wird. Wunschlos. Perspektivlos. Wohin ich auch gerade reise, ich habe nicht das Gefühl, jemals ankommen zu können.

  • von Voltaire



    Lag es nur am Alter?
    Konnte es nicht auch am zuviel an Zigaretten, Alkohol und den rastlosen Stunden des Nachtlebens liegen?
    Dieser Jagd durch die Nacht. Einer Jagd ohne Ziel und ohne Hoffnung auf Beute.
    Ich war einfach nur müde. Aber es war die Art von Müdigkeit, gegen die auch einige Stunden Schlaf nichts auszurichten vermochten.
    So lag ich hier in meinem zerknitterten Anzug, hingestreckt auf dem zerschlissenen Sofa, in diesem Loch, das sich großkotzig Apartment nannte. Sechs Dollar die Woche. Eine Menge Geld für den der nichts hatte. Und ich hatte nichts.
    Ich tastete nach der angebrochenen Zigarettenpackung, nestelte den letzten Glimmstengel aus der Packung und überließ mich meinen Gedanken während ich den Rauch wie eine seltene Kostbarkeit behandelte und ihn tief inhalierte.


    Wie sollte es jetzt weitergehen? Ich wusste es nicht.
    Das war bevor ich Dean kennenlernte.


    Das letzte Jahr war hart gewesen.
    Ich hatte mich von meiner Frau getrennt und war mit meinem Roman nicht weitergekommen. Die totale Schreibblockade. Dann aber hatte ich Dean kennengelernt. Ich musste lachen als er mir sagte, er wolle Schriftsteller werden. Es war ein hämisches, ein herzloses Lachen, das ich dem jungen Mann ins Gesicht schleuderte. Schriftsteller! Ein weiteres Opfer dieser brotlosen Kunst!


    Ich weiß nicht mehr wer von uns beiden, so nach gefühlten zwei Flaschen Whisky, die Idee hatte, einfach abzuhauen, alles hinter sich zu lassen. Weg aus dieser Stadt, die alles erdrückte und auch noch den Rest Lebensfreude aus den Menschen heraussaugte. Die Stadt die nichts vergaß und nichts verzieh.


    Mit wenig Gepäck und noch weniger Geld machten wir uns auf den Weg.
    Drogen, Jazz und Ekstase waren unsere Reisebegleiter. Wir ließen nichts aus. Absolut nichts. Egal was es war, wir sogen es gierig in uns auf. Wir hatten einfach keine Wahl oder bildeten uns ein, keine Wahl zu haben.


    Dean war in seiner Jugend in mehreren Besserungsanstalten gewesen und so ganz traute ich ihm nicht über den Weg. Und meine Bedenken sollten sich bald nur als allzu wahr und berechtigt herausstellen. In New Mexico erkrankte ich lebensgefährlich und Dean hatte nichts Besseres zu tun, als sich mit unserem restlichen Reisegeld aus dem Staub zu machen.


    Mehr tot als lebendig kehrte ich nach New York zurück. Achtzehn Monate war ich nicht mehr hier gewesen. In diesen achtzehn Monaten aber war die Idee für ein neues Buch gewachsen. Und ich wusste, ich würde dieses Buch schreiben. Dieses Mal würde es keine Schreibblockade geben.


    Meine Underwood hatte ich bei meiner Schwester gelassen. In einem winzigen Zimmer in ihrer Wohnung konnte ich erst einmal unterkommen. Aber zum Schreiben brauchte ich eh nicht viel Platz.


    Neben mir lag ein Packen Schreibpapier ( 10 Cent/ 100 Blatt), die Underwood stand erwartungsvoll auf dem wackligen Tisch, als ich das erste Blatt einspannte.


    Dann schrieb ich:


    On the road
    By
    Jack Kerouac

  • von Lese-rina



    „ Schlampe!“ „Hurensohn!“ Laute Stimmen tönen durch die kleine Wohnung. Daniel hält es nicht länger aus. Schnell schnappt er sich seine Jacke und flieht ins Treppenhaus. Noch als er die Tür hinter sich zugeknallt hat, hört er das Gezeter seiner Erzeuger – nur weg hier. Vor dem Haus empfängt ihn trübes Nieselwetter. Daniel kramt einen Joint aus seiner Jackentasche, mit zitternden Fingern steckt er ihn an. Er hat es satt, so satt. Diese ewigen Zänkereien und Streitereien. So kann es nicht weitergehen. Nach ein paar tiefen Zügen wird er ruhiger und fasst einen Plan.


    Missmutig kickt Daniel eine Bierdose zur Seite. So hat er sich das Leben auf der Straße nicht vorgestellt. Abenteuerlicher, cooler, abgedrehter - die große Freiheit. Doch stattdessen heißt es hungern, frieren und die Zeit totschlagen. Von den dummen Sprüchen der Passanten ganz abgesehen. Der Vorrat an Alk und Zigaretten ist schon wieder erschöpft. Trotzdem zögert er bei Jürgens Vorschlag, die nah gelegene Tankstelle zu überfallen. „Was ist schon dabei? Wir gehen rein, du lenkst die Tussi ab und wir schnappen uns war wie brauchen.“ Letztlich willigt auch Daniel ein, die Verlockung siegt. Zunächst läuft alles wie geplant, doch als Daniel den anderen nach draußen folgen will, hält ihn die Verkäuferin fest. „So nicht Bürschchen, bleib hier.“ Daniel bekommt Panik, er will raus hier. Ohne darüber nachzudenken greift er nach dem nächstbesten Gegenstand und schlägt auf die junge Frau ein. Sie bricht sofort unter den Hieben mit dem Wagenheber zusammen. Fassungslos starrt Daniel auf die bewegungslose Verkäuferin, unter der sich eine immer größere Blutlache ausbreitet. Erstarrt bleibt er stehen, bis Polizeibeamte ihn wegzerren.


    Die nächsten Tage und Wochen bekommt Daniel nur durch dichten Nebel mit. Schlafen, Essen – jeder Tag ist gleich grau. Daniel lässt alles teilnahmslos über sich ergehen. Nur wenn Besuch angekündigt wird, glimmt ein Funke Hoffnung in ihm auf. Doch jedes Mal wartet wieder nur sein Anwalt oder Sozialarbeiter auf ihn. Am Tag der Verhandlung hat Daniel aufgegeben, auf die Unterstützung seiner Eltern zu hoffen. Wie ein Häufchen Elend sitzt er auf seinen Stuhl. „Es tut mir so leid, so leid“, stammelt er mühsam eine Entschuldigung. Dann sackt er in sich zusammen. „Zwei Jahre Jugendstrafe“ – dieses Urteil des Richters trifft Daniel wie ein Schlag ins Gesicht. Wie sollte er das überstehen?


    Betäubt lässt sich der Junge aus dem Gerichtssaal führen. Von seiner Umgebung bekommt er nur wenig mit. Als die beiden Polizeibeamten neben ihm stehenbleiben, hebt Daniel den Kopf. Seine Eltern! Hier! Er schluckt schwer. Was würden sie sagen, zu ihm, einen Ausreißer, einen Schläger, einem Knasti? Die Stille ist ohrenbetäubend. Da tritt seine Mutter auf ihn zu. „Mein Junge,“ flüstert sie und zieht ihn in ihre Arme, „mein kleiner Junge“. Daniel lässt die Umarmung mit sich geschehen. Tränen rinnen über seine Wangen. Seine Mutter streicht ihn übers Haar. „Alles wird gut.“ Auch sein Vater tritt heran und legt die Hand auf Daniels Schulter „Wir packen das schon – wirst sehen!“ Und zum ersten Mal seit Jahren fühlt sich Daniel geborgen.

  • von rienchen



    Die Austern sehen fantastisch aus. Prall und saftig glänzen sie in ihren kleinen Perlmuttgewölben. Das Fleisch zuckt lüstern auf, als Boris genüsslich einen letzten Tropfen Zitrone darüber spritzt. "Das Essen ist gleich fertig, Jana!", hallt es durch die Wohnung, hinauf ins Schlafzimmer. Kleine Schwaden von köstlicher, warmer Frau ziehen zu ihm herunter und kitzeln wild in seiner Nase. Er hat sie beobachtet, vorhin, als sie aus der Dusche kam. Die schwarzen Haare, die nass und schwer an ihren Rücken klatschen. Den üppigen, sinnlichen Körper, der an den richtigen Stellen gewachst und rasiert ist. Sie werden essen, gleich. Sie werden süßen, fast schwarzen Wein trinken, bevor er endlich den Geschmack ihrer Haut kosten darf. Er wird ihre feinmaschigen Netzstrümpfe ganz langsam aus dem Halter lösen, sie so vorsichtig und leise wie möglich zusammenfalten und beiseite legen. Er wird ihre Brüste sanft streicheln, bis sich nach einer endlosen, langen Weile die Warzen hart aufrichten und dann wird er mit ihr die Liebe feiern.


    "Was gibt es, Liebling?" Jana steht in der Tür, schmiegt ein Bein an seinen Oberschenkel und lächelt. Ihre Brüste schimmern zart wie Austernfleisch. Sie sieht zum Fenster hinaus, zeigt auf den mächtigen Vollmond am Himmel, der sich in ihren Augen spiegelt. "Ein schöner Mond, findest Du nicht?"


    "Es gibt Dein Lieblingsessen."


    Sie greift sich die Mülltüten, "Moment, ich bringe die nur eben raus". Boris hält sie am Arm. "Ich liebe Dich, Jana." Sie hält kurz inne, blickt ihn an. "Ich liebe Dich auch. Ich bringe doch nur den Müll raus."


    Der Mond flüstert ihren Namen und erzählt von geheimen Schatten, von pulsierenden, mitreißenden Strömen, von mittelgroßen bis großen Geschenken, die sich manchmal nur um einige Zentimeter unterscheiden. Aber, liebe Jana, diese Tatsache ist einfach nicht zu unterschätzen. So flüstert er eindringlich, der bleichgelbe Freund der aufgehenden Nacht.


    Boris legt den wirklich nicht grade sehr dicken Stangenspargel auf Eis und die riesengroßen, aber überaus festen Melonen in den Schrank. Er schüttet die Austern in den Mülleimer. Er öffnet eine Flasche Wein und nimmt einen großen Schluck daraus. Den zerstreuten Müll samt Tüten sammelt er vom Weg auf, der Mond gießt gehässig sein laszives Licht darüber. Boris schließt die Tür und seufzt.


    Jetzt ist sie wieder unterwegs, bis zum Morgengrauen. Weiß der Himmel, wo. Dann wird sie vor der Tür stehen. Zerzaust und mit einem breiten, multiplen Grinsen im Gesicht. Mit einer zerbeulten Bierdose in der Hand und einer Selbstgedrehten hinter dem Ohr. Mit zerrissenen Netzstrümpfen und Blick auf ihren Slip ouvert freigebend. Mit schmierig verwischtem Lippenstift, der wie Blut an ihrem Kinn klebt. Eine Duftmixtur aus unanständigem Essen und irgendwas Anderem verströmend.


    Sie wird einen Tag schlafen. Am Morgen des dritten Tag wird sie duschen und sich an den richtigen Stellen wachsen und rasieren. Am Abend werden sie süßen, fast schwarzen Wein trinken und zuckendes Fleisch essen, das sich später in glitschigen Flüssigkeiten wieder neu strukturieren und miteinander vermischen wird. Dann endlich wird er die Liebe feiern können, mit seiner Jana im abnehmenden Mond.

  • von Sinela



    „Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“
    Zweifelnd schaute sich Lisa um. Der Wald, durch den sie die letzten Tage gegangen waren, lag schon lange hinter ihnen und war von einer weiten grasbewachsenen Ebene abgelöst worden, durch die sie bereits seit vielen Stunden wanderten. Kein Baum unterbrach die Eintönigkeit dieser Landschaft.
    „Ja, das bin ich“, antwortete ihr Susanne bestimmt. „Laut Karte müssten wir spätestens übermorgen Abend zum Murray River kommen.“
    „Hoffentlich“, seufzte Lisa. „Diese Hitze bringt mich noch um. Ich würde alles geben für ein kühles Bad im Fluss.“
    „Diese Ebene hier ist das schlimmste Stück unserer Wanderung. Danach geht es wieder zurück in Richtung Küste und damit auch in bewohnte Gegenden, wo wir dann auch mal wieder in einem Bett schlafen können.“
    „Das hört sich ja mehr als verlockend an. Dann lass uns schnell weitergehen, noch haben wir 3 Stunden Tageslicht.“
    Mit großen Schritten gingen die beiden jungen Frauen weiter, immer tiefer in das Herz des australischen Kontinents hinein.



    Ben saß an seinem Schreibtisch und schaute genervt auf die Vermisstenmeldung, die vor ihm lag. Schon wieder wurden zwei Rucksacktouristen vermisst, diesmal aus Deutschland. Konnten die nicht zuhause bleiben? Er seufzte und stand auf. Es half ja alles nichts, er musste eine Suche nach ihnen einleiten. Dabei würde er bei der Hitze viel lieber im klimatisierten Büro bleiben.
    „Chris! Ruf die Männer zusammen und bereitet dann alles für eine Suchaktion nördlich der Stadt vor. Es haben sich ein paar Touristen verlaufen.“
    „Na klasse. Und wo genau?“
    „Laut der Meldung, die ich bekommen habe, waren die Frauen von Broken Hill kommend unterwegs und wollten am Murray River entlang nach Adelaide. Ihre Eltern haben sich an die dortige Polizei gewandt, nachdem sie sich nicht wie vereinbart telefonisch gemeldet haben. Die beiden sind seit fast zwei Wochen überfällig.“
    „Das hört sich nicht gut an. Ich bereite gleich alles vor.“



    „Wenn sie wirklich in diese Richtung gelaufen sind, sehe ich schwarz.“
    Ben stand auf der Ladefläche des Jeeps und schaute angestrengt durch das Fernglas. Von Horizont zu Horizont breitete sich der Sand der Simson Wüste aus. Sie suchten die Vermissten jetzt seit fünf Tagen und hatten keine Spur von ihnen gefunden.
    „Sie müssen in der Nähe von Broken Hill nach Nordwesten abgebogen sein anstatt nach Süden. In der Grasebene werden sie sich dann verrirrt haben. Das Wasser ging ihnen aus, sie halluzinierten, haben den Überblick verloren und sind deshalb geradewegs in die Wüste und damit in ihr Verderben gelaufen. Ich glaube nicht, dass wir die beiden Frauen noch aufspüren können.“
    „Du hast recht, lass uns die Suche abbrechen. Die beiden sind bestimmt schon längst tot. Wir fahren zurück!“
    Ben graute davor, den Eltern die grausame Wahrheit mitteilen zu müssen. Er stieg in den Jeep und fuhr zusammen mit den anderen zurück zur Stadt. Die von ihnen aufgewirbelte Staubwolke legte sich bereits nach kurzer Zeit.

  • von Zuckelliese



    Liebe Oma!
    Viele Grüße aus Berlin schickt Dir Fahrrad "Gerda"
    Obwohl ich Dich schon einige Jahre nicht gesehen habe, denke ich oft an Dich.
    Ich bin in Berlin sehr glücklich! Zur Zeit fahre ich 2x wöchentlich mit Christa zur Schwimmhalle. Dort warte ich auf meine neue Besitzerin und fahre sie dann weiter zur S-Bahn. Festgebunden muss ich einige Stunden warten, bis Christa mit der Arbeit fertig ist und nach Hause darf. Weil es jetzt schon so zeitig dunkel ist, wurde mir ein neues Licht und auch ein großes Schloss spendiert. Das soll mich am Bahnhof beschützen, vor bösen Menschen, die sich kein eigenes Fahrrad kaufen wollen und deshalb einfach freie Drahtesel stehlen. Du siehst, ich habe in Berlin eine zweite Heimat gefunden und werde gebraucht. Christa ist gut zu mir und im Winter darf ich im Keller stehen. Einen Wehrmutstropfen gibt es allerdings, Christa hat Fahrrad "Steffi" lieber als mich, weil es jünger und leichter ist. Sie will ihm die Warterei am Bahnhof nicht zumuten. Es ist angeblich begehrter bei den Dieben. Mich altes Rad will niemand mehr, glaubt Christa. Aber ich bin nicht beleidigt, da sie doch auch mit mir durch die Großstadt fährt und mich braucht. Das freut mich und ich werde auch gut gepflegt. Fahrrad Steffi wohnt im Winter mit mir im Keller. Im Sommer steht es im Garten und muss ziemlich viel arbeiten .Weil es dort staubige und sandige Straßen gibt, wird es oft schmutzig Mach´s gut. Dein altes Fahrrad!!
    Ich denke oft an unsere gemeinsamen Unternehmungen. Wir sahen die Elbe, Donau und das Altmühltal. Oma Gerda war gerührt, als sie diesen Brief in ihrer Geburtstagskarte fand. Meine Tochter überrascht mich immer wieder, dachte sie und heftete den Brief zu den anderen Geschichten. Seit ihre Gesundheit das Radeln nicht mehr erlaubte, waren Mutter und Tochter eben anders “Unterwegs“. Lesen und Schreiben schicken die Gedanken auf Reisen. Erst gestern ging ein Gedicht zum Januarthema des Eulenwettbewerbs per Post auf die Reise zur Tochter. Gerda verdichtete eine Dampferfahrt aus der Sicht des 103jährigen Flussdampfers Dörte, der noch heute auf der Unstrut fährt. Das Schiff begegnete ihr vor vielen Jahren und begeisterte sie mit seiner Lebensgeschichte auf einem ihrer vielen Ausflüge. Zur Ruhe setzen kommt bei Gerda nicht in Frage. Sie beherrscht mit weit über 80 noch blind ihre Schreibmaschine und nimmt in aller Stille Anteil an den schreibwütigen Eulen. Die beiden Fahrräder von Mutter und Tochter leben seit Jahren in Berlin und erfreuen eine Hauptstädterin. Manchmal schreiben Drahtesel auch Briefe und berichten aus ihrem Leben in der Fremde. Im letzten Brief schrieb das Fahrrad Gerda von der Ankunft eines kleinen Mädchens, dessen Reise 9 Monate dauerte und bei deren Ankunft Christas Familie große Freude empfand. Gerda durfte am Tag nach der Begrüßungsfeier nicht aus dem Keller, freute sich aber trotzdem auf die Bekanntschaft mit dem neuen Familienmitglied. Einen Kindersitz kann auch ein altes Fahrrad noch transportieren dachte Gerda und schickte ein Lächeln in die andere Kellerecke zu Fahrrad Steffi. Die neumodischen Dinger sind bestimmt dafür nicht geeignet.

  • von Fay



    Andreas war mit dem Motorrad unterwegs, als ihm der Mercedes die Vorfahrt nahm und er in dessen Frontscheibe landete. Gott war nicht da, als er hart auf der Straße aufschlug und sein Rückgrat brach. Jedenfalls war das seine tiefe Überzeugung. Manchmal fragte er sich, ob Gott gerade Pause gemacht hatte und es ihm jetzt zu peinlich war, den Fehler zu korrigieren. Irgendwann müsste er auf hören sich den Kopf darüber zu zerbrechen, aber noch war es zu früh dafür. Dieser eine Ausflug hatte ihm alles genommen und er war so verzweifelt, dass er nicht einmal mehr dazu in der Lage war über sein Dasein selbst zu bestimmen. Die Endscheidungsfreiheit zu verlieren, war etwas, dass er am schwersten ertrug. Sich tot zu fühlen und nicht sterben zu dürfen, war das unerträglichste an dieser Situation. Die Ethik hielt ihn am Leben. Die Gruselfilme, die er sich damals angeschaut hatte, konnte er nur noch belächeln, denn nichts konnte mit diesem immer währenden Grauen mithalten. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als einer der lebendig Begrabenen zu sein, denn ihr Sterben erledigt sich innerhalb von ein zwei Stunden. – Ein zwei Stunden, was würde er dafür geben. Die Ironie an der Geschichte war, dass sich sein jetziges Leben in seinen Träumen abspielte. Dort ging er auf Entdeckungsreisen, lebte ein wildes Leben, überquerte reißende Flussläufe und kletterte auf die höchsten Berge. Er hatte unbeschreiblichen Sex mit den schönsten Frauen, und aß mit ihnen in den teuersten Restaurants. Das war das wahre Leben - der Alltag nur ein bitterer Albtraum aus dem es kein Ausweg gab.
    Am Anfang hatte man ihn noch häufig besucht. Doch keiner konnte es länger ertragen, wenn ein geliebter Freund zu einer lebenden Leiche mutierte. Seit er im Pflegeheim untergebracht war, kam nur noch seine Mutter einmal in der Woche vorbei. Sie gab sich große Mühe, aber am liebsten wäre es ihm, wenn sie nicht mehr käme. Er konnte es nicht mehr ertragen, sie so leiden zu sehen. An seinem Schicksal hatte er genug zu knabbern. Bei jedem Besuch fleht er sie an, sie möge seinem Leiden ein Ende setzen. Wenn sie es an seinen Augen ablesen könnte, dann ignorierte sie es geschickt. Er würde es immer weiter versuchen, so lange bis sie Gnade vor Recht ergehen ließ.
    Seitdem war viel Zeit vergangen. Schon lange hatte er die Hoffnung auf Erlösung begraben und sich mit seinem Schicksal abgefunden.
    Es war ein sonniger Tag, der erste, der ein zartes Grün auf den Baum vor seinem Fenster zauberte. Ein vorwitziger Vogel hatte sich auf dem Simms niedergelassen und sah zu ihm hinüber, gerade so als wollte er ihm etwas mitteilen. Als er endlich das Licht am Ende des Tunnels sah, wusste er, dass seine lange Reise ein Ende hatte. Auf der anderen Seite, nahm Gott ihn in die Arme und Andreas verzieh ihm seine Pause

  • von Dori



    Nächster Halt: Stadtmitte. Ausstieg links.
    Ich hatte Lehrerin werden wollen, solange ich denken kann. Ich hatte immer schon Spaß daran gehabt, anderen die Vielfalt der Literatur nahezubringen.
    Als ich mich im Studium dazu entschieden hatte, an eine Hauptschule zu gehen, begegnete mir vor allem Stirnrunzeln und Ablehnung. „Da wirst du doch mit Stühlen beworfen!“ hatte meine Schwester gesagt und „Du sprichst doch gar kein Türkisch!“. Doch mittlerweile unterrichte ich nun schon seit über 10 Jahren Deutsch und Ethik an der Eduard-Mörike-Hauptschule in Berlin-Kreuzberg und habe es bisher noch nicht bereut. Die Schüler sind so vielfältig, wie ich es noch nirgendwo gesehen habe. Alle möglichen kulturellen Hintergründe sind bei meinen Schülern vertreten.
    Nächster Halt: Kochstraße. Ausstieg links.
    Einer dieser Schüler ist Mehmet, Klasse 7c. Mit ihm ist es manchmal nicht leicht. Seine Familie ist aus Kurdistan emigriert und spricht untereinander nur kurdisch, die Mutter kann gar kein Deutsch, der Vater nur bruchstückhaft.
    Bei Klassenarbeiten liegen Mehmets Leistungen im unteren Bereich. Sprachlich ist er mittelmäßig – durch die Interaktion mit den anderen Schülern hat er schon viel gelernt -, seine Rechtschreibung lässt jedoch zu wünschen übrig, genau wie die mündliche Mitarbeit. Er meldet sich nicht. Wenn er aufgerufen wird, gibt er nur zögerliche und oftmals falsche Antworten. Ich fürchte, ich werde ihn die siebte Klasse wiederholen lassen müssen.
    Nächster Halt: Hallesches Tor. Ausstieg links.
    Ich verlasse die U-Bahn, hole mir noch einen Kaffee und begebe mich dann ins Schulgebäude.
    Erste Stunde: Deutsch. Das Thema sind Balladen. Jeder Schüler sollte sich eine Gedichtballade auswählen und auswendig lernen. Manchmal tut es mir in den Ohren weh, was aus den berühmten Werken Fontanes, Goethes, Schillers gemacht wird, dass meist schon in den ersten zwei Zeilen gestockt und nicht weitergewusst wird. Aber was erwarte ich – vermutlich sollte ich sie lieber den aktuellen Song von Sido rezitieren lassen.
    Mehmet ist dran. Er steht auf, kommt nach vorn, räuspert sich und beginnt:
    „Vor seinem Löwengarten,
    das Kampfspiel zu erwarten, …“
    Das klingt ja ganz gut. Ob er lange dafür lernen musste? Das könnte ja fast eine Eins werden. Vielleicht sollte ich ihm einfach ab und an mal bessere Noten auf seine relativ schlechten Arbeiten geben, womöglich wird er dadurch motiviert, mehr für die Schule zu tun? Oh, ich bin wohl gedanklich abgeschweift. Mehmet spricht gerade fehlerfrei die letzten Zeilen des Gedichts:
    „… Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:
    ‚Den Dank, Dame, begehr ich nicht!‘
    Und verlässt sie zur selben Stunde.“

  • von beowulf



    Um kurz nach vier war ich am Kamener Kreuz, seither bin ich vier Autolängen vorangekommen. Dabei habe ich meinen LKW schon um drei entladen. Heute war ich mit Kellogs unterwegs- riesiges Volumen, kein Gewicht, da kommt man schnell über alle Berge und Hügel. Mein Hobel steht unter der Woche in der Spedition, meine alte Rostbeule tut es noch für die Heimfahrten und zum rumstehen. Die Raten für das neue Auto für die Frau sind heftig genug. Sonntag abend muss ich zurück sein- wenn ich bis dahin je meine Frau und die Kinder erreicht habe. Sonntag muss ich mit Stahl nach Spanien, das wird eine harte Tour. Die Franzosen achten genau auf jedes Gramm zuviel und dann wird’s eklig.


    Aber eigentlich stehe ich hier, weil ich zu meiner Frau will, die hat heute Geburtstag. Alle paar Jahre trifft das auf einen Tag, an dem ich bei ihr sein kann. Ein Tag an dem ich nicht über das private Handy wegen der hohen Roamingkosten nur ein paar Worte stammle, sondern sie selbst in den Arm nehmen kann. Heute wäre so ein Tag. Heute. Und ich habe noch 800 Kilometer vor mir. Zurzeit sind davon achtundzwanzig Kilometer Blechlawine direkt voraus. Früher, als ich noch bei NARWA gearbeitet habe, da war ich jeden Freitag um drei pünktlich zu Hause, aber ich liebe doch die Weite, suche das Fremde. Ich lese viele Bücher über ferne Länder, andere Zeiten, andere Sitten. Spanien- was habe ich da tolle Romane gelesen, über Madrid, Toledo, Barcelona - La Sagrada Familia- habe ich nie gesehen, dafür kann ich jede Autobahntoilette Europas am Geruch erkennen. Ob ich da bei Gottschalk mal mit punkten könnte? Obwohl- den Gottschalk gibt’s ja auch nicht mehr. Zur Zeit lese ich „Die Contessa“ von Ulf Schiewe- die Handlungsorte kenne ich auch alle- von den Abfahrtschildern auf der Autobahn. Ich habe kein Problem auf der Autobahn zu lesen, solange es ein Buch ist, das man mal schnell auf den Beifahrersitz knallen kann, von diesem modernen elektronischen Zeug halte ich nichts, allerding hat es mich schwer beeindruckt als mein Sohn letztes Jahr im Urlaub einfach mal so die Gebrauchsanleitung für Mutters Elektromesser irgendwo heruntergeladen hat, als das kaputt war. Das wird die Zukunft, aber ob ich die Zukunft so will? Urlaub machen wir jedes Jahr im Harz, ich mag in der Freizeit nicht so weit fahren und fliegen - mit Fernfahrergehalt und zwei Kinder im Studium?


    Irgendwann, wenn mein Kreuz das mitmacht werde ich meiner Frau Europa zeigen, die Rente ist nicht mehr so weit- und dann werde ich keinen Millimeter Autobahn fahren und all die Gerüche, die ich nur aus Büchern kenne endlich riechen- französischen Käse mit Baquette und Rotwein, spanische Oliven und das Meer, italienische Dolci und schottischen Haggis mit Whisky. Irgendwann. Wenn ich nur irgendwie hier wegkomme vom Kamener Kreuz während der Geburtstag meiner Frau auf der Uhr verrinnt.

  • von vogelscheuche



    Eines Abends hatte sich ein vermummter Mann Zugang zu einem Haus in Paris verschafft.
    Die Hausbesitzer waren an diesem Abend nicht zuhause. Sie waren unterwegs um einen Freund zu besuchen.
    Vorsichtig schlich der Einbrecher ins Wohnzimmer und suchte die alten Schränke nach Wertgegenständen ab.
    „Hallo meine Hübschen.“, lächelnd griff er sich die beiden Juwelenhalskette und steckte sie in seinen Beutel.
    Als im Wohnzimmer nichts mehr zu holen war schlich er in die Küche.
    Er erinnerte sich, dass ihm eine Freundin einmal gesagt hatte, dass sie ihr Geld lieber im Kühlschrank als auf einer Bank aufbewahren würde.
    Lächelnd zog er die Tür des vermuteten Geldbehälters auf und liess seinen Blick über die Regale wandern.
    Tomaten, Joghurt, Trüffelkäse, Mayonna-Trüffelkäse!
    Echter, französischer Trüffelkäse!
    Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, doch er zögerte. Er war eigentlich nur hier, um ein paar Wertgegenstände zu stehlen und die dann irgendwie zu verticken. Er würde sich doch nicht von einem Käse ablenken lassen…oder doch?
    Er konnte nicht widerstehen.
    Er ergriff den kleinen Laib und steckte ihn sich in die Jackentasche.
    Gerade wollte er die Kühlschranktür wieder schliessen als ihm weitere kulinarische Schätze auffielen, die ihm durch den Käselaib verborgen geblieben waren.
    Ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte und eine Flasche Champagner lächelten ihn verführerisch an.
    Er balancierte die Köstlichkeiten zum Küchentisch und eröffnete das Festmahl. Die Torte war absolut köstlich. Eine Offenbarung!
    Der Einbrecher war so mit essen beschäftigt, dass er nicht hörte wie die Haustüre geöffnet wurde.
    Erst als das Licht in der Küche angeknipst wurde und jemand hinter ihm aufschrie, wirbelte er herum.
    Eine junge Frau stand im Türrahmen und starrte den Einbrecher mit entsetzten Augen an.
    „Schatz, ist alles in Ordnung?“, hörte dieser eine gedämpfte Stimme rufen.
    Panisch suchte er den Raum mit den Augen nach einem Fluchtweg ab. Es gab keinen!
    Also sammelte er all seinen Mut und sprang aus dem Fenster.
    Im Fall wurde ihm bewusst, dass er aus einem Fenster im ersten Stock gesprungen war. Er schrie auf und fing panisch an mit den Armen zu rudern.
    Wie durch ein Wunder landete er auf seinen Füssen, konnte durch eine Hechtrolle den Aufprall abfedern und zog sich nur ein paar Schnittwunden zu.
    Fassungslos über sein Glück rappelte er sich auf und rannte so schnell wie möglich davon.
    Er hielt erst in einer engen Gasse an, als ihm die Knie vor Anstrengung so sehr zitterten, dass er keinen Schritt mehr machen konnte.
    Er liess sich auf den Boden fallen und wartete darauf, dass seine Atmung und sein Herzschlag sich wieder normalisiert hatten.
    Gerade wollte er sich seinen Beutel mit der Beute greifen, als ihm auffiel, dass er nicht da war.
    Er hatte ihn bei seiner panischen Flucht in der Küche vergessen.
    Er konnte es nicht fassen!
    Fluchend stand er auf und klopfte sich den Staub von der Hose.
    Sprachlos machte er sich auf den Heimweg.
    Es wurde langsam kalt.
    Er steckte die Hände in die Taschen als ihm auffiel, dass etwas darin war.
    Er zog es heraus und musste lächeln.
    Wenigstens etwas!

  • von arter



    Nando, steh auf! Wir müssen weiter.


    Hinter diesem Gipfel dort wartet ein grünes Tal mit einem sprudelnden Bach und saftigem Gras. Ich weiß, das habe ich auch schon vor dem letzten Gipfel gesagt. Und vor dem davor. Aber diesmal Nando, diesmal habe ich recht, du wirst sehen. Wie lange sind wir schon unterwegs? Sechs Tage oder Sieben? Um uns herum, soweit das Auge reicht, nur diese verdammten schneebedeckten Berge. Weißt Du noch Nando, auf dem ersten Gipfel? Wir sind zusammengebrochen als wir diese endlose weiße Wüste sahen. Aber dann haben wir einen weiteren Berg hinter uns gebracht und dann noch einen, ich erinnere mich gar nicht mehr wie viele es waren.


    Nando, unser Proviant wird knapp. Unser Proviant, diese kleinen Bröckchen gefrorenen Fleisches . Wird man uns dafür verachten? Marcello war zuerst dagegen aber wir hatten keine Wahl. Und schließlich hat auch er gesagt "Jesus gab uns sein Blut und seinen Leib. Nehmen wir es wie ein letztes Abendmahl".


    He Nando, mach jetzt nicht schlapp! Du hast den Absturz der Maschine überlebt, bei dem deine Mutter umkam. Und dann verblutete deine Schwester wimmernd in deinen Armen. Das alles hat dich nicht umgehauen. Hat dich nur bestärkt in dem Willen zu überleben. Wir harrten aus. Tage, Wochen. Man hatte uns aufgegeben. Und dann kam diese Nacht. Ich erinnere mich an das Geräusch: Wie ein herandonnernder Güterzug. Es erdrückte uns mit eisiger Gewalt. Unter diesen Massen von Schnee lagst du, konntest nicht atmen, dich nicht bewegen. Und dann hast du diesen Lichtstrahl gesehen, und dein ganzes Leben lief rückwärts ab im Zeitraffer, sagtest du hinterher. Marcello hat die Lawine nicht überlebt. Marcello, der uns geführt hatte, in den ersten Wochen voller Bitternis und Verzweiflung. Er ist jetzt bei uns, spendet uns seine Energie mit Fetten, Kohlehydraten und Eiweißen.


    Nachdem wir dich aus dem Schnee gescharrt hatten, warst du es, an dem wir uns aufrichteten, derjenige, der uns in den Arsch trat um zu überleben.


    Du darfst jetzt nicht aufgeben, Nando. Die Hoffnungen von vierzehn Freunden hängen an uns beiden. Wenn du dich abschreibst, dann schreibst du auch sie ab. Sie harren weiter aus, am Wrack, lauschen dem Transistorradio, ob wir es geschafft haben, suchen den Himmel nach Rettungsflugzeugen ab. Und Nando, du weißt, es dauert nicht mehr lange, dann werden sie auch die Frauen aus dem Schnee holen müssen.


    Was ist, Nando? Du öffnest deine Lippen, aufgeplatzt, blutverkrustet. Du hast Eiszapfen an den Brauen. Kaum ein Schimmer von Leben ist noch in deinen Augen, die tief versunken in knochigen Höhlen glimmen. Eigentlich bist du nur noch eine tiefgekühlte Leiche, genau wie ich. Aber du sprichst.


    Was sagst du? Ein Mann, … auf einem Pferd? Du hast ihn gesehen? Ach Nando, du phantasierst. Hier gibt es nur Schnee, Eis und Felsgeröll. Aber komm, lass uns nach ihm suchen. Irgendwo dort hinter diesem lächerlichen Hügel werden wir ihn schon finden.


    Los Nando, steh auf! Wir müssen weiter.

  • von churchill



    „Immer wieder faszinierend …“. Ihr Gegenüber ließ seinen Blick über die versammelte Menge schweifen. Man merkte ihm sofort an, dass er sich auskannte. Dass er sich zu bewegen wusste. Dass er schon alles gesehen hatte. Seine Begleiterin passte zu ihm. Deutlich jünger wollte sie wirken, jünger als er, jünger, als sie war. Und wenn sie den Mund zum Sprechen öffnete, entsprangen diesem rot gefärbten Mund Worte, denen zwar der Zusammenhang, nicht aber die Weltgewandtheit fehlte.


    „Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt“, beeilte sich ihr Gegenüber, das Versäumte nachzuholen: „Gestatten, Schulze, Wolfsburg.“ Schulze-Wolfsburg im Sinne von Müller-Lüdenscheid? Oder einfach nur Schulze aus Wolfsburg? Das wäre deutlich zu wenig gewesen. Schulze (Wolfsburg) erfreute seine Tischnachbarn fortan mit der Schilderung von beruflichen und privaten Erfolgen. Dabei ließ er den ihm gereichten Wein dreimal zurückgehen und reklamierte einen Fleck auf dem Glas seiner Begleiterin, zu deren Anmut ein derartiger Fleck nicht passen durfte.


    Nachdem Schulze (Wolfsburg) einen ersten Überblick über sein bedeutungsvolles Leben gegeben hatte, erinnerte er sich seiner Zuhörer, blickte sie mit jener besonderen Mischung aus herablassender Zuwendung und angedeutetem Ekel an und geruhte zu fragen: „Sie machen das zum ersten Mal, nicht wahr?“


    „Ja“, bestätigte Katharina und fasste unter dem Tisch die Hand ihres Mannes, mit dem sie inzwischen mehr als zwanzig Jahre verheiratet war. „Ja, es ist das erste Mal für uns und wir sind sehr gespannt.“


    Schulze (Wolfsburg) erstrahlte ob seiner prophetischen Fähigkeiten und übernahm die Konversation in der nächsten halben Stunde, hier und da unterbrochen vom anbetenden Lachen seiner jugendlich wirken wollenden Begleiterin.


    Katharina und ihr Mann hörten zu. Und aßen und tranken mit Genuss. Es war dunkel geworden und Katharina stellte sich vor, dass der Blick von außen nach innen noch faszinierender sein müsse als der von innen nach außen. Sie machte den Fehler, diese Vermutung vernehmbar zu äußern und provozierte damit den nächsten Vortrag von Schulze (Wolfsburg). Er hatte das alles schon zu allen Tages- und Nachtzeiten aus allen Perspektiven erlebt. „Das ist Show, meine Liebe, das gehört dazu, immer höher, weiter, schneller, strahlender, spektakulärer, so ist das Leben. That’s life, wie der Lateiner sagt. Hahaha.“


    Nein, spektakulär war Katharinas Leben nicht gewesen. Das jetzt war schon etwas Besonderes. Gewissermaßen ein bisschen die Erfüllung eines Traums. Ob Schulze (Wolfsburg) noch träumen konnte? Aus den Gedanken über das Träumen riss sie ein harter Schlag. Licht aus. Licht an. Schulze war begeistert und weidete sich am Schrecken der Masse. Schon bald kamen die Bediensteten und forderten alle auf, sich in ihre Kabinen zu begeben. Es sei alles in bester Ordnung.


    Katharina und ihr Mann hielten sich nicht daran, sondern suchten die Stelle, wo am Vortag die Rettungsübung stattgefunden hatte. Sie gehörten zu den ersten in den Booten. Schulze (Wolfsburg) und seine Begleiterin hatten sie nicht mehr gesehen, seit diese in die Kabinen gegangen waren, wie ihnen aufgetragen worden war. Sie kannten sich eben aus, Schulze (Wolfsburg) und seine junge Frau …

  • von Tiffy



    Alles ist friedlich, alles ist still,
    weil Schnee heute Nacht aus den Wolken fiel.
    Die Luft weht eiskalt aus den Bergen heraus,
    wie frisch gebürstet sieht der Himmel aus.


    Ringsum ist jedes Fenster noch zu,
    sie schlafen alle, der Morgen hat Ruh’.
    Weder Wagen noch Fahrrad lässt sich sehen,
    verschneit an der Straße die Autos stehen.


    Die Pfoten tappen geräuschlos im Schnee,
    die Hundenase schaufelt ihn in die Höh’,
    ein weißer Knubbel auf schwarzer Haut
    sieht fröhlich aus, bis er schließlich abtaut.


    Kahlgeblasenes Astwerk stakst häuserhoch,
    nur oben dran sitzen ein paar Blätter noch
    und schwarze Gnome; nein, Krähen es sind,
    sie plustern sich frierend dick gegen den Wind.


    Den Frieden unterbricht ein Martinshorn
    gellend und warnend auf der Autobahn vorn.
    Hier ist es erholsam, dort stirbt vielleicht einer;
    meine Freude am Spaziergang wird unweigerlich kleiner.


    Sinnierend geh ich langsam, in Gedanken versunken,
    der Hund jedoch tollt völlig freudetrunken
    im staubenden Schnee ganz ohne Bedenken.
    So kann er auch mir wieder Fröhlichkeit schenken.


    Einer Haustür entweicht Kaffeeduft ganz frisch,
    zu Hause steht er sicher auch schon auf dem Tisch,
    der Hund und ich sausen wie die Wilden schnell heim,
    weil wir uns auf unser Frühstück so freu’n.