Sign of the Raven (Follow me down) - Julie Hearn

  • diese Ausgabe erschienen 2005, erstmals erschienen in GB unter dem Titel Follow me down 2003


    Tom ist zwölf und sein Leben ist ziemlich durcheinandergeraten. Das liegt nicht an den ersten Regungen der Pubertät, sondern daran, daß sich seine Eltern getrennt haben, seine Mutter, bei der er lebt, an Krebs erkrankt ist und sie darüber hinaus beschlossen hat, während der Rekonvaleszenz zu ihrer verwitweten Mutter nach London zu ziehen, obwohl sich die beiden Jahre zuvor zerstritten haben. Tom mag London nicht und an seine Großmutter hat er auch keine guten Erinnerungen, der Familienstreit war übermächtig.


    Das erste Treffen verläuft nur mäßig gut. Seine Mutter ist unruhig, die Großmutter abweisend, aber das ist alles nichts gegen die seltsame Ausstrahlung, die das Haus für Tom hat. Es dauert seine Zeit, ehe Tom genügend Mut aufbringt, sich an die Quelle des Seltsamen zu begeben, die im Keller des Hauses zu liegen scheint. Dort geht das Abenteuer dann richtig los, denn im Keller gibt es eine Art Riß im Boden, dessen Überschreitung zur Folge hat, daß man in einem anderen Jahrhundert landet. So gelangt Tom ins Jahr 1717, und was er im Keller des Hauses zur damaligen Zeit vorfindet, ist wirklich überraschend.


    Natürlich bringt es auch Probleme und ehe Tom es sich versieht, muß er Gefahren von 1717, die Krankheit seiner Mutter und die Eigenheiten seiner Großmutter jonglieren. Das wird vor allem dann wichtig, als sich herauskristallisiert, daß sich hinter allem bestimmte Familiengeheimnisse verbergen, die für Tom durchaus lebensbedrohend werden können.


    Grundsätzlich ist Hearn diese Geschichte, die die Probleme und Ängste von sehr jungen Teenagern in akuten Familienkrisen geschickt mit einem recht unheimlichen Fantasy-Abenteuer verbindet, gut gelungen. Toms Unsicherheiten angesichts seiner Familiensituation spiegelt sich wider in den Gefahren, die die Lücke in der Zeit mit sich bringt, die manchmal aufreißt und sich wieder schließt, ohne daß man es beeinflussen kann. Der Angst vor dem Sterben und dem Verlust der Mutter entsprechen die Ängste, die Tom bei denen miterlebt, die er 1717 trifft, Ausgestoßene ihrer Zeit. Es sind verwachsene, ‚fehlgeborene’ Wesen, irgendwo zwischen Märchengestalten und psychisch geschädigten Menschen angesiedelt, die als Jahrmarktsattraktionen von einem Schausteller gefangen gehalten werden.
    Die eigentliche Gefahr droht durch die damals endgültig einsetzende systematische medizinische Forschung. Ärzte, die im Grund ebenso voyeuristisch sind, wie das Publikum auf dem Jahrmarkt, wollen die ‚Freaks’ sezieren.


    Hearn läßt sich eine Menge einfallen, ihre Geschichte wartet mit einigen Überraschungen auf. Für die Zeitreisenden gibt es unvermutet Hindernisse, man wandert nicht ohne Folgen durch die Jahrhunderte. Das macht zugleich die Geschichte noch spannender, weil dem Handeln der Figuren enge Grenzen gesetzt sind. Die Vorgänge 1717 sind gruselig, nicht nur für Jugendliche, vieles in der Geschichte spielt im Dunkel und Halbdunkel, und so einiges bleibt der Phantasie der LeserInnen überlassen. Der Aufbau ist verschachtelt, Zeitebenen und Ereignisse werden durch unterschiedliche Drucktypen voneinander abgehoben, die eine ‚antikisierend’, um den Eindruck eines Drucks aus dem 18. Jahrhundert hervorzurufen.


    Zugleich ist das Ganze schon nach dem ersten Drittel überfrachtet mit Problemen. Als Leserin ist man an zuvielen Fronten gefordert. Tom, seine Mutter, die Großmutter, sie haben ihre eigenen Geschichten und Geheimnisse, aber ebenso Astra und ihre Freunde 1717. Es geht einer einfach irgendwann die Luft aus und man läßt die weitere Handlung erschöpft und immer distanzierter vor sich ablaufen. Zur Erschöpfung trägt in hohem Maß bei, daß sich die Autorin dafür entschieden hat, ihre Figuren im frühen 18. Jahrhundert die Sprache der Zeit sprechen zu lassen. Das ist aber nicht künstlich nachzuahmen. Sprachlich bekommt man somit eine wilde Mischung serviert aus Fundstücken aus Pepys’ Tagebüchern, den Romanen von Fielding und Defoe mitsamt großzügigen Leihgaben von dem weitem jüngeren Sam Weller, dessen Sprechweise den schon bei Dickens eher gut gemeinten als tatsächlich existierenden Cockney-Akzent liefern soll. Von daher gesehen ist das Buch eine echte Warnung an alle, die mit dem Gedanken spielen, ihre Dialoge in modernen Romane in älteren Sprachstufen abzufassen.


    Aufgelöst werden die Rätsel der Geschichte alle, aber es ist mühsam, beim Lesen aufmerksam zu bleiben. Den Zusammenhang zur Gespenstergeschichte kurz vor Schluß konnte ich nicht mehr recht herstellen, aber das mag an mir gelegen haben. Schön erzählt ist sie, das hätte problemlos einen eigenen Roman ergeben. Toms Geschichte in der Gegenwart ist im Vergleich dazu dann fast vorhersehbar.


    Spannend, originell, aber auch für erwachsene LeserInnen übermäßig verschlungen gebaut und zu kompliziert präsentiert.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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