DIE UNTOTEN – Ole J. Christiansen / Oliver Dierssen (Hg.)
Anthologie, Kindle-Edition (Nerdpol-Verlag, Dez. 2011)
Kurzbeschreibung (Amazon):
Eine antike Gottheit, die einer zerbrochenen Amphore entsteigt. Ein unheimliches Wispern, das von der See herüberweht. Ein Maler, heimgesucht von düsteren Visionen. Ein Ziegendämon aus der baskischen Steppe. Die Wüste als Spiegel einer blutigen Vergangenheit. Eine verlorene Seele, die auf ewig die prächtigen Straßen Wiens durchschreitet - in sieben exklusiven Kurzgeschichten entführen uns sieben große Stimmen der deutschen Phantastik, unter ihnen Bestsellerautoren wie Bernhard Hennen (“Die Elfen”) und Christoph Marzi (“Lycidas”), in die Welt zwischen Leben und Tod. Zart und grausam, verträumt und blutig – Geschichten, die Sie nicht mehr loslassen werden.
Meine Meinung:
Kurzgeschichten zählen eigentlich nicht zu meiner bevorzugten Lektüre, ebensowenig das Titelthema der Anthologie: Untote. Für sowas muß man wohl eine besondere Vorliebe haben, wenn nicht gar Vorkenntnisse in literarischer oder gar filmischer Form, wie sie im Vorwort beschworen werden – welches ich im Nachhinein wohl besser übersprungen hätte, weil es Erwartungen weckt, die die Anthologie bei weitem nicht erfüllt, aber dazu später mehr – und wie ich persönlich sie nicht vorweisen kann.
Andererseits erschien mir die Aussicht, ein paar bekannte Autoren in der knapperen Form der Kurzgeschichte zu erleben und nicht zuletzt einige mir bis dato unbekannte von ihnen dadurch erstmals kennenzulernen, durchaus verlockend; weshalb ich das vom Nerdpol-Verlag zur Verfügung gestellte Rezi-Exemplar natürlich keineswegs ablehnen mochte ...
Die Untoten kommt als professionell gestaltetes E-Book daher, komplett mit Inhaltsverzeichnis, dessen einzelne Kapitel direkt anklickbar sind, sowie einstimmendem Vorwort, Kurzbiographien der Autoren und nahezu, wenngleich nicht völlig fehlerfreiem Satz. Eine Einschränkung mittels DRM gibt es nicht, was zumindest für mich als Besitzer eines Sony-Readers relevant war. Die Konvertierung ins ePUB-Format klappte denn auch anstandslos. Seltsamerweise scheint das Coverbild nicht in das E-Book (bzw. in mein Rezi-Exemplar) eingebettet zu sein, obwohl die Publikation durchaus ein Cover besitzt (s. Amazon); stattdessen gibt es auf Seite 1 das Nerdpol-Logo zu sehen. Zugegeben, auch nicht schlecht.
Die Einleitung zitiert mit Goethe und Kleist zwei GANZ Große der Literaturgeschichte herbei – wozu, hat sich mir nicht erschlossen – und stimmt von ihrer Grundaussage her auf den ultimativen Gruseleffekt ein. Zitat: „Wohlige Schauer ... Gänsehaut ... Dracula ... Frankenstein ... Geisterschiff ... Grauen ... Gruseln“. Des weiteren nennt sie Terry (?) Brooks (der eher für seinen Shannara-Zyklus bekannt ist) und Stephen King als Autoren quasi „untoter“ Werke. Nach der Lektüre der Anthologie ist jedoch klar: Weder Goethe oder Kleist noch Stephen King oder Terry Brooks haben mit ihr inhaltlich oder sprachlich das Geringste zu tun. Was das versprochene Grauen betrifft, so ist es bei mir zwar vollständig ausgeblieben, dafür hatte ich aber wider Erwarten dennoch großen Spaß bei der Lektüre: einfach weil die Mehrzahl der Geschichten lustig bis brüllend komisch ist.
Weshalb ich jedem Leser raten würde, das Vorwort einfach zu überspringen und sich stattdessen bei Die Untoten auf eine zumeist erheiternde, durchweg aber höchst unterhaltsame Lektüre einzustellen. (Was letztlich auch meine weiter unten zu lesende positive Gesamtwertung erklären mag.)
Nun zu den einzelnen Geschichten, jeweils mit individueller Wertung.
Stürmische Zeiten (Bernhard Hennen)
Ein Student ruft unwissentlich den Geist einer Windsbraut aus der altgriechischen Mythologie herbei, geht mit ihr eine Art Beziehung ein und bekommt dadurch nicht nur Probleme mit den Mitbewohnern seiner WG.
Die Geschichte ist im saloppen Lassen-Sie-mich-Ihnen-erzählen-was-ich-Irres-erlebt-habe-Stil abgefaßt, besticht durch leichten, eingängigen Humor, zahlreiche abgedrehte Figuren und ein paar nette Wendungen, die man so nicht erwartet hätte. Leider gibt es hier und da auch Längen, ebenso einige nicht wirklich zündende Pointen, die auch durch Wiederholung (!) nicht geistreicher werden wollen; und daß der Held anfangs Stefan, später aber Frank heißt, macht die Sache nicht besser.
Trotzdem ist Stürmische Zeiten ein Lesevergnügen vom Anfang bis zum Schluß und definiert nicht zuletzt aufgrund der prominenten Stellung den Grundcharakter der gesamten Anthologie: lustig und leichtherzig.
(Hinweis: Entgegen der Kurzbeschreibung ist diese Geschichte als einzige nicht exklusiv, sondern bereits 2001 in Wolfgang Hohlbeins Fantasy Selection erschienen, was hier fairerweise angemerkt sei.)
Meine Wertung: 7 von 10 Punkten
In Wort und Bild (Thomas Plischke)
Der längste Beitrag der Anthologie, aber beileibe nicht der langweiligste. Dank eines speziellen alkoholischen Getränks läuft ein bildender Künstler, der seine Frau verloren hat, wieder zu schöpferischen Höchstleistungen auf – nur daß seine Werke dummerweise nicht hyperrealistisch bleiben, sondern völlig real werden. Vom ersten Satz an zieht einen der Autor in die Welt seiner Geschichte hinein, welche düster und abgeklärt daherkommt, hervorragend konstruiert und flott geschrieben ist und keinerlei Interpretationsspielraum läßt; Selberdenken ist hier nicht gefragt. Die (mehr oder weniger) überraschende Schlußwendung weiß der Sache durchaus die Krone aufzusetzen, dennoch bleibt insgesamt ein schales, unbefriedigendes Gefühl zurück.
Hätte ich etwas verpaßt oder gar vermißt, wenn ich In Wort und Bild nicht gelesen hätte? Nein. Aber vielleicht geht es mir ja mit den Romanen des Autors so, welche ich mir jetzt zumindest näher anzuschauen gedenke.
Meine Wertung: 7 von 10 Punkten
Stimmen, wehend leicht im Meereswind (Christoph Marzi)
Eine Fischersfrau erfährt vom Ableben ihres Gatten, woraufhin die „Stimme“, die bislang ihn begleitete, auf sie übergeht. Sehr kurzer Beitrag, der noch dazu unvermittelt und vorhersehbar endet. Die Anlage der Geschichte ist statisch und monoton, dabei jedoch leider nicht vom Zauber eines Märchens. Es gibt weder überraschende Wendungen noch Figuren und Schauplätze, die den Leser in irgendeiner Weise interessieren oder gar berühren könnten. Leider.
Großer Pluspunkt: Die Sprache. Nicht direkt poetisch, aber gewählt und von elegischem, kongenial zum Inhalt passendem Tonfall, würde ich sie fast als literarisch bezeichnen. Sowas mag ich, und deshalb schaffen es die Stimmen für mein Urteil noch locker in den mittleren Bereich der Skala.
Meine Wertung: 6 von 10 Punkten
Akerbeltz (Oliver Dierssen)
Ein „überfahrener“ Student sucht eine neue Bleibe und findet sie bereits nach wenigen Absätzen dieser vergleichsweise mittellangen Geschichte. Aber was dann passiert ...! Ich sag nur: Bio-Gemüsekiste! Wildes Heugebinde! „Frau“ Goikoetxe! Und nicht zuletzt: Nele! Ja, genau die Nele aus Fledermausland! Bei Oliver Dierssens Geschichte hab ich nicht gemerkt, wie die Seiten unter meinen Fingern nur so dahinflogen, und außerdem hab ich mehrmals herzhaft losgelacht. Am Ende der Geschichte war ich zufrieden mit dem coolen, schwarzhumorigen Schluß. Mit einem Wort: Dieser Beitrag ist das unangefochtene Highlight der gesamten Anthologie!
Meine Wertung: 10 von 10 Punkten
Ein kleiner Tod (Victoria Schlederer)
Eine vermeintliche Prostituierte im Wien der ausgehenden K&K-Epoche hat ihren Klienten noch ganz andere Dinge zu bieten als nur die Befriedigung fleischlicher Gelüste. Was nach einer sprachlich erlesenen Rückkehr in die Welt von Des Teufels Maskerade klingt, ist auf den zweiten Blick höchstens ein zu kurz geratener Abglanz davon, der stilistisch noch dazu von jeder beliebigen anderen Autorin stammen könnte. Warum der Beitrag ausgerechnet endet, als sich beim Leser die meisten Fragen angesammelt haben, noch dazu an der spannendsten Stelle, das weiß allein – ja, wer eigentlich?
Trotz alledem ist diese Geschichte keineswegs schlecht; hat sie mich doch von allen der Anthologie am neugierigsten gemacht (nicht zuletzt auf den neuen Roman der Autorin, welcher in absehbarer Zeit erscheinen wird). Mehr davon!
Meine Wertung: 6 von 10 Punkten
In der Wüste (Thilo Corzilius)
Ein Irgendwer verschläft die Nacht an einer verlassenen Bushaltestelle und vergräbt den Dolch, den er am nächsten Morgen dort vorfindet. Ende. Jo, das war’s schon. In der Wüste ist die wohl kürzeste „Geschichte“ der Anthologie – genau hab ich’s nicht nachgeprüft – und auch die verworrenste. Auf eine umständliche, ihre eigenen kruden Thesen sofort relativierende Einleitung folgt ein durchaus interessanter, wenn auch kaum spannender Mittelteil, dessen Figuren am Höhepunkt der Handlung – einfach verschwinden. Wer waren sie, was wollten sie, was sollte das alles? Nicht einmal wenn man den ersten Satz der Story erneut liest, wird das Mindeste davon klarer. Oder ich hab’s einfach nicht kapiert, was ich durchaus nicht ausschließen möchte. Allerdings ist die Schlußmetapher „Zenit der Einsamkeit“ wohl nicht mal mit partieller literaturwissenschaftlicher Vorbildung zu verstehen. Oder?
Dennoch: Corzilius-Fans werden die Geschichte meiner Überzeugung nach lieben. Und – irgend etwas hat sie ja durchaus. Sonst hätt’ ich nicht so viele Worte drüber verloren, geschweige denn daß ich noch jetzt über sie nachgrübeln müßte. Deshalb landet auch sie verdientermaßen im mittleren Wertungsbereich.
Meine Wertung: 5 von 10 Punkten
Im Gasthaus zum Schwarzen Eber (Jonas Wolf)
Ein Barde singt ein Lied über den einstigen Brand einer abgelegenen Schenke – und muß sich danach von einem Augenzeugen erklären lassen, wie’s wirklich war. Stilistisch ähnelt dieser letzte Beitrag für mein Gefühl auf frappierende Weise dem von Thomas Plischke, inhaltlich gibt es allerdings Unterschiede. Wo Plischke zynisch wird, schlägt Wolf einen heiter-lakonischen Ton an. Das ist auch (fast) das einzige Problem dieser handwerklich ansonsten makellosen, episch-dichten, heroisch-düsteren Fantasy-Story: Beschreibt der Autor eine aufgeschlitzte Leiche mittels vermeintlich ironischen Vokabulars wie „Begrüßungsgeschenk“, zieht er damit nicht nur das Handlungsgeschehen ins Lächerliche, sondern nimmt auch dem Leser jede Möglichkeit zur eigenen emotionalen Wertung dieses Geschehens – und damit auch jegliche (eventuell erhoffte) unmittelbare Reaktion darauf. So rauschen die Ereignisse an einem vorbei, ohne mehr als ein müdes Lächeln hervorzurufen. Dies verleiht dem ganzen Beitrag das Feeling eines C-Movies – eine Klasse, wo allerdings weder diese Geschichte noch ihr Autor zu verorten sind!
Nein, Jonas Wolf ist zweifellos ein handwerklich perfekter, für die deutschsprachige Fantasy überaus vielversprechender Autor, der mit seiner noch in diesem Jahr bei Piper startenden Helden-Reihe sicherlich Furore machen wird. Und der mit der vorliegenden Geschichte auf fulminante Weise ersten Einblick gewährt hat in (s)eine Fantasy-Welt, die hoffentlich für uns alle noch so manches Geheimnis bereithält!
Meine Wertung: 8 von 10 Punkten
Fazit:
Bereits bei der ersten Geschichte habe ich viel gelacht. Das Vorwort war schnell vergessen – zum Glück, denn die Grundstimmung der Anthologie ist eine humoristische und keine gruselige. Mein persönliches Highlight, Akerbeltz von Oliver Dierssen, befindet sich passenderweise genau in der Mitte; davor und danach geht es sozusagen mal bergauf, mal bergab.
Zur durchschnittlichen Gesamtwertung aller Geschichten (49 Punkte geteilt durch sieben = 7 Punkte) erlaube ich mir einen weiteren Punkt für die professionelle Gestaltung der Anthologie hinzuzuzählen.
Gesamtwertung: 4 von 5 Sternen (oder 8 von 10 Punkten) + uneingeschränkte Leseempfehlung!