Karl Heinz Bohrer - Granatsplitter. Erzählung einer Jugend

  • Titel: Granatsplitter. Erzählung einer Jugend
    Autor: Karl Heinz Bohrer
    Verlag: Hanser
    Erschienen: Juli 2012
    Seitenzahl: 320
    ISBN-10: 3446239723
    ISBN-13: 978-3446239722
    Preis: 19.90 EUR


    Karl Heinz Bohrer wurde 1932 in Köln geboren. Er war Leiter des Literaturblattes der FAZ, Professor für Literaturwissenschaft in Bielefeld und Herausgeber der Zeitschrift MERKUR.


    In diesem Buch erzählt er von einer Jugend in Deutschland zwischen 1939 und 1953. Er erzählt aus der Sicht eines Jungen. Ob es eine autobiographische Erzählung ist liegt zwar auf der Hand, allerdings konnte man daran auf Grund des "post scriptums" am Ende des Buches schon leise zweifeln.
    Dort schreibt er wörtlich:
    "Dieses ist nicht Teil einer Autobiographie, sondern Phantasie einer Jugend."
    Der Interpretationsfreiheit sind also keine Grenzen gesetzt.


    Es ist ein eher leises Buch. Bohrer ist niemand der es nötig hat durch große Gesten und Worte auf sich aufmerksam zu machen. Auch eine ruhige Sprache kann sehr intensiv sein. Und Bohrer schreibt sehr intensiv. Denn Bohrer schreibt aus der Perspektive des Jungen. Man nimmt als Leser hier an der Entwicklung eines jungen Menschen in sehr harter Zeit teil.


    Da ist zum einen die katholische Erziehung und dann der Bruch mit der Katholischen Kirche, ausgerechnet während einer Beichte, als er von dem Pfarrer mit sehr intimen Fragen geradezu bedrängt wird. Aber auch die Zeit im Internat hat bei dem Jungen deutliche Spuren hinterlassen. Die Scheidung der Eltern ist ebenfalls nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Da ist zum einen die Mutter, der die politischen Verhältnisse zwar völlig egal sind, die aber trotzdem vehement gegen Unrecht zu Felde zieht. Und zum anderen ist da der Vater, der aus seiner Abneigung gegenüber dem Nazi-Regime keinen Hehl macht.


    Das alles wird sehr sensibel erzählt ohne dabei aber in irgendeiner Form weinerlich zu wirken. Dieses Buch strahlt eine intensive erzählerische und ernsthafte Ruhe aus. Ein Buch das den Leser immer wieder anregt, sich eigenen Gedankengängen hinzugeben, das Gelesene zu überdenken und zu reflektieren.


    Ein sehr lesenswertes Buch, ein Buch allerdings ohne die Unruhe und Hektik der heutigen literarischen Zeit.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Die Geschichte spielt in Deutschland in den Jahren 1939 bis 1953. Der Autor erzählt aus der Sicht eines Kindes und später Heranwachsendens, den er namenlos lässt und nur als "der Junge" bezeichnet.
    Er lässt den Leser am Lernprozess seines Lebens aus seiner jeweiligen Perspektive teilhaben.


    Schrittweise lernt der Junge seine Welt kennen. Das fängt mit dem Begriff "Krieg" an, von dem er zunächst nur eine sehr vage Vorstellung hat. Granatsplitter sind die reale Entsprechung dieser bruchstückhaften Vorstellungen. Sie sind für ihn anfangs nur schön bunt schillernde Metallteile. Der Junge erweitert seinen Horizont immer weiter, indem er seine Umwelt genau beobachtet und Gesprächen zwischen den Erwachsenen zuhört. Als er etwas älter ist und wieder Kontakt mit seinem Vater hat, erklärt der ihm die politischen Verhältnisse in Deutschland.
    Im Internat tut sich ihm eine ganz neue Welt auf, die er als ein Abbild des Antiken Griechenland sieht, als etwas ganz besonderes mit ganz besonderen Menschen. Er taucht ganz in diese Welt ein, so dass man die Sorgen des Vaters, er lebe in einer Phantasiewelt, durchaus nachvollziehen kann. Er liebt das Erhabene, das Besondere, das Große. Theaterspielen und Literatur werden seine Leidenschaft. Durch den Kontakt mit verschiedenen Personen und Büchern bildet er sich weiter, um diese besondere Literatur zu verstehen und zu analysieren.


    Während ich fasziniert war von dem Jungen als Kind zu Hause, von dem tiefen Interesse an der Welt, waren mir die Schilderungen über seine Aktivitäten in der Internatszeit zu einseitig. Sein Leben schien nur aus Latein, Griechisch, Theaterspielen und Literatur zu bestehen. Vielleicht sind für einen Literaturkenner die Aufzählungen der Werke, die er gerade studierte und analysierte und welche neuen Erkenntnisse er daraus zog, höchst interessant.
    Viel lernte er auch durch die Gespräche mit der Witwe eines 20.Juli-Attentäters und anderen Personen, die ihm neue Erkenntnisse über das NS-Regime und Menschen (auch an seiner Schule), die darin verstrickt waren, vermittelten.


    Es gibt zwei große Themen, die sich durch das Buch durchziehen, das ist das NS-Regime und Literatur. Andere Themen, wie das Alltagsleben, Freundschaften, bleiben weitgehend im Dunkeln. Das ist wohl der Grund, warum das Buch auf mich so emotionslos wirkt. Auch wenn der Junge Bombennächte und andere gefährliche Situationen erlebte, erfährt man als Leser nicht, wie er diese Situationen emotional erlebte. Einmal kam mir spontan der Gedanke: "So ein Glück für den Jungen. Er hat den Krieg wohl nur so am Rande miterlebt!" Erst bei genauerem Nachdenken merkte ich, dass das auf Grund er erwähnten Tatsachen nicht so gewesen sein kann.


    Bis zuletzt tat ich mich schwer zu unterscheiden, ob die aufgebaute Distanz nur zwischen mir und dem Jungen oder auch zwischen dem Jungen und seiner Umgebung bestand.