Barbara Ehrenreich
Angst vor dem Absturz – Das Dilemma der Mittelklasse
Kunstmann Verlag (1. Januar 1992)
ISBN-10: 3888970636
ISBN-13: 978-3888970634
Man hört es immer wieder: die Sorge um die Mittelklasse, angeblich Rückgrat der Gesellschaft, die Milchkuh, die sich abrackert, um dann doch nur gemolken zu werden: quer durch die Parteien scheint es Konsens zu sein, dass die Mittelklasse den Bach runtergeht.
Da kam mir dieses Buch ja eigentlich gerade recht, doch da nichts so alt ist wie die Zeitung von gestern, hatte ich zunächst Zweifel, ob die Ansichten einer linksliberalen Amerikanerin, die zudem schon 25 Jahre auf dem Buckel haben, mir irgendwelche neue Erkenntnisse darüber bringen könnten, warum eine Gesellschaftsschicht, die im Gegensatz zu weiten Teilen der übrigen Bevölkerung ganz offensichtlich privilegiert ist, permanent ihr schweres Los beklagt.
Vorneweg sei gesagt, dass Ehrenreich die amerikanischen Verhältnisse darstellt, und die unterscheiden sich meines Erachtens doch erheblich von denen Europas. Das fängt schon bei der Definition der „Mittelklasse“ an, geht weiter über ihre Geschichte und ihr Selbstverständnis und endet nicht in den ziemlich unterschiedlichen Gesellschaftssystemen, in denen sie sich behaupten muss. Aber dennoch war „Angst vor dem Absturz“ eine ausgesprochen anregende Lektüre, die mir so manchen Denkanstoß geliefert hat.
Ehrenreich analysiert die Entwicklung der amerikanischen Mittelklasse seit dem zweiten Weltkrieg.
Denn deren Selbstverständnis und Bedeutung wandelte sich durchaus im Laufe der Jahrzehnte. Den fetten Jahren nach dem Krieg mit verbreiteten sozialen Idealen folgten herbe Schläge, etwa der Vietnamkrieg und in seiner Folge die Studentenrevolten, später dann der rabiate Wirtschaftsliberalismus der Reagan-Jahre, was dazu führte, dass diese Klasse sich immer wieder neu positionieren musste.
Denn anders als Unter- und Oberschicht, deren Platz in der Gesellschaft weitestgehend zementiert ist, musste die Mittelklasse sich immer neu posizionieren und war lange zwischen Motiven eines gewissen intellektuellen, oft auch elitären Anspruchs und materieller Besitzstandswahrung zerrissen.
Ehrenreich belegt beeindruckend, warum letzteres den Sieg davon trug, während soziale Verantwortung und gesellschaftliches Engagement als linksliberale Spinnerei abgetan, ja regelrecht zum Schimpfwort wurde.
Spannend ist dabei, dass der in diesem Buch schon 1989 beklagte Niedergang des gesellschaftlichen Miteinanders der Amerikaner sich in den 90er und 2000er Jahren noch ungebremst fortsetzte: die Schere zwischen arm und reich klafft auseinander: Die von Ehrenreich angeprangerten Boni der Manager wirken heute wie Peanuts, die Luft für die Mittelschicht wird dünner (wobei sie nicht unerwähnt lässt, dass es für diese Schicht zum Lebensstandard gehört, ein großzügiges Anwesen, zwei dicke Autos und noch eine Ferienhäuschen auf dem Land zu besitzen), die Unterschicht, die angeblich nur noch fernsieht, muss sich mit zwei, drei Jobs über Wasser halten. So betrachtet, kann man dieses Buch fast als prophetisch bezeichnen.
Ehrenreich schildert die gesellschaftliche Entwicklung aus einer dezidiert linken Sicht, ist aber klug genug, ihre eigene Position innerhalb des Mittelstands und ihre eigenen Vorurteile ironisch zu brechen. Und sie begrenzt sich dabei auch nicht auf eine Nabelschau der Mittelklasse, sondern hat immer auch die große Mehrheit der Amerikaner, seien es die Armen und Unterprivilegierten, sei es die mit einem ganz eigenen Selbstbewusstsein ausgestattete Arbeiterklasse, im Blick.
Verständnisschwierigkeiten hatte ich streckenweise mit den typisch amerikanischen politischen Strömungen der 80er Jahre, die sich so nicht auf deutsche Verhältnisse übertragen lassen. Neokonservative, Neue Rechte, Neue Mittelklasse, das war manchmal schon sehr verwirrend. Als ich zu verstanden haben glaubte, dass die Neokonservativen in etwa unseren Neoliberalen entsprechen, tauchte prompt der Begriff der „Neoliberalen“ als wieder einer anderen Strömung auf. Aber womöglich ist das alles gar nicht so wichtig.
Bleibt allerdings die Frage, ob ihre Analyse für uns, in Deutschland im Jahre 2012, überhaupt eine Bedeutung hat. Ich denke schon. Auch in Deutschland etablieren sich Gated Communities, die einzig dem Zweck dienen, sich von der als bedrohlich empfundenen Mehrheitsgesellschaft abzuschotten. Auch hier unternehmen Eltern aberwitzige Anstrengungen, um ihren Sprösslingen die vermeintlich beste Schulbildung und damit optimale Karriereaussichten zu ermöglichen. Auch bei uns wird, gerne auch in den bürgerlichen Medien, der Niedergang der Unterschicht beklagt, die permanent fernsieht, ungesund isst und noch nie ein Fitnessstudio von innen gesehen hat. Auch unsere Gesellschaft wird kälter.
Davon einmal abgesehen, macht es einfach Spaß, dieses Buch lesen, denn Ehrenreich schreibt keineswegs ernst und verbittert, sondern leicht und voller Humor. Sie ist nicht überheblich sondern oft empathisch und sie sprüht vor für mich neuen Gedanken, von denen ich die meisten hier gar nicht erwähnt habe. Sicherlich sind manche ihrer Ansichten überholt. Umso bewundernswerter ist es, dass dieses Buch auch heute noch eine im Großen und Ganzen anregende Lektüre ist.