Rosemarie Marschner - Die Insel am Rande der Welt

  • Inhalt:


    Oktober 1815: Im Hafen der kleinen abgelegenen Insel St. Helena läuft ein Schiff mit besonderer Fracht ein. An Bord: der Gefangene Europas. Napoleon I., Kaiser von Frankreich und König von Italien, soll nach der Rückkehr von Elba und der endgültigen Niederlage bei Waterloo endgültig von der Bildfläche verschwinden. Begleitet nur von einigen Wenigen, den "Treuesten der Treuen", soll die einsame, schwarze Insel, ein "Käfig, dessen Gitter das Meer bildet" den "Menschenfresser" Napoleon endgültig in der Vergessenheit verschwinden lassen ...


    Meinung:


    Beeindruckend.
    So viel über Napoleons Aufstieg und Herrschaft und auch über seinen Sturz geschrieben wurde - so wenig liest man über die Zeit nach dem Sturz, als er am Boden lag. St. Helena war nicht nur ein weißer Fleck auf der Landkarte, sondern auch ein ziemlich unberührtes Fleckchen in der Reihe der historischen Romane. Rosemarie Marschner hat sich der letzten sechs Lebensjahr Napoleons angenommen - der Jahre, in denen er endgültig von Europa getrennt ist. Und die doch den Beginn der Legendenbildung um den "kleinen Korsen" darstellen.


    Die Autorin verwendet viel Mühe auf die Charakterisierung ihrer Protagonisten, auf Seiten der Franzosen wie auf Seiten der Engländer. Neben dem ausgezeichneten Schreibstil liegt hier meiner Meinung nach die große Stärke des Romans. Jedem Begleiter Napoleons - ob Großmarschall Bertrand samt Familie, General Monthelon oder Vater und Sohn de las Cases - wird Zeit gewidmet, ebenso den anderen Menschen, die auf St.Helena Anteil am Schicksal des kleinen Korsen haben: die Familie Balcombe samt ihrer Tochter Betsy, die Napoleon besonders ins Herz schließt. Und natürlich auf der anderen Seite die Engländer, die "Gefängniswärter", allen voran Sir Hudson Lowe, Gouverneur von St. Helena ab 1816.


    Besonderes Augenmerk legt Rosemarie Marschner dabei auf die Art und Weise, wie die Menschen mit ihrem Los umgehen. Die Franzosen, fern der Heimat, zusammengepfercht, dazu gezwungen, einander jahrelang auszuhalten. Gouverneur Hudson Lowe, beseelt von den Tugenden des Britischen Empire, der verkennt, in welcher Art und Weise er für Napoleon nur Mittel zum Zweck ist: denn die strengen Sicherheitsvorkehrungen, die Lowe zum Teil auch als Reaktion auf das provokante Verhalten seines Gefangenen erlässt, helfen dabei, aus dem Gefangenen Europas einen Märtyrer zu machen, der das Mitleid und die Herzen Europas sogar von St. Helena für sich gewinnen kann.


    Nicht zuletzt ist "Die Insel am Rande der Welt" ja auch ein Roman über Napoleon selbst. Unzählige Autoren und Historiker haben versucht, den Mann, der vom Sohn eines korsischen Advokaten zum Beherrscher Europas aufstieg, nur um dann noch tiefer zu fallen, zu erklären. Bis ins letzte Detail wird dies wohl nie möglich sein - doch noch nie habe ich eine so lebendige und eindringliche Schilderung dieses Menschen gelesen. Sein hitziges Gemüt, seine Unberechenbarkeit, seine Stimmungsumschwünge. Sein Talent, selbst die, die ihm feindlich gesinnt sind, für sich zu gewinnen. Und gleichzeitig seine Neigung, gerade die Menschen, die ihn vergöttern und lieben, schmerzhaft zu verletzen. Sein innerer und äußerer letzter Krieg: gegen seine Gefängniswärter, gegen England, gegen alle Feinde - vor allem gegen seine größte Angst, gegen die Angst, vergessen zu werden. Er gewinnt diese letzte Schlacht, die letzte seines Lebens.


    An diesem Punkt, als sich Napoleons Leben dem Ende zuneigt - die Ursache seines Todes ist bis heute nicht endgültig geklärt, und auch die Autorin bleibt bei Andeutungen - erscheint er dem Leser am menschlichsten. All seiner Macht beraubt, seiner Macht über die Menschen, im Sterben liegend, macht sein Tod deutlich, dass selbst vom Beherrscher Europas zuletzt nur ein Mensch übrig bleibt. Rosemarie Marschner gelingt diese menschliche Zeichnung - ohne der romantisierenden Verherrlichung anheim zu fallen.


    Mit Napoleons Tod findet diese Geschichte ihr Ende.


    Die Erinnerung an ihn, im Guten wie im Schlechten, wird wohl nie enden.

    SUB 220 (Start-SUB 2020: 215)


    :lesend Susanne Michl u. a. - Zwangsversetzt. Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung (1940 - 1945)

    :lesend Antonio Iturbe - Die Bibliothekarin von Auschwitz

    :lesend Anthony Doerr - Alles Licht das wir nicht sehen (Hörbuch)