Salman Ansari: Rettet die Neugier! Gegen die Akademisierung der Kindheit

  • Salman Ansari: Rettet die Neugier! Gegen die Akademisierung der Kindheit
    FISCHER/Krüger 2013. 224 Seiten
    ISBN-13: 978-3810501929. 18,99€


    Verlagstext
    Salman Ansari streitet für kindliche Freiräume und gegen die Bildungshysterie
    Physikkästen für Zweijährige? Chinesisch im Kindergarten? Salman Ansari, promovierter Naturwissenschaftler und Lernpädagoge, fordert: Weg mit dem Bildungsballast! Dieses Wissen ist nicht nur unnütz und teure Zeitverschwendung , sondern auch extrem gefährlich für Kinder. Sie scheitern an den viel zu komplexen Aufgaben, werden frustriert oder erwerben naive Vorstellungen, die später nur schwer zu korrigieren sind. Für die Kinder ist nicht die Anhäufung von Wissen wichtig, sondern die Fähigkeit, eigenständig und kreativ zu denken! Ansari begibt sich auf Augenhöhe mit den Kindern, geht konsequent von ihrem Denken aus und zeigt, wie sie Schritt für Schritt in ihrem Erkenntnisprozess begleitet werden können. Damit aus klugen Kindern interessierte und aufgeweckte Schüler werden.


    Der Autor
    Salman Ansari, 1941 in Indien geboren, arbeitet seit den sechziger Jahren in Deutschland. Mit seinen Konzepten und Methoden sorgt er immer wieder für Aufsehen. Der promovierte Chemiker und Lernpädagoge unterrichtete an der Odenwaldschule. Wie kein anderer Lehrer kämpfte er für die Aufklärung der Missbrauchsfälle. Salman Ansari hatte verschiedene Lehraufträge inne und hält heute zahlreiche Vorträge, u. a. für die Körber-Stiftung Hamburg und das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern. Ansari arbeitet im Rahmen verschiedener Projekte eng mit Kindern zusammen. Für die Telekom entwickelte er das Projekt »Kinder fragen Kinderfragen«.


    Inhalt
    Die erfolgreichste frühkindliche Förderung ist das Gespräch
    "Es gibt kaum mehr ein Elternpaar, das sein Kind nicht für besonders förderungswürdig hält", beklagt Salman Ansari den derzeitigen Frühförderwahn. Aus einem wissbegierigen Kindergartenkind würde jedoch zum Ende der Grundschulzeit zu oft ein enttäuschter Schüler mit Versagensängsten. Studeinanfängerzahlen zeigen, dass das im internationalen Vergleich geringe naturwissenschaftliche Interesse deutscher Schüler durch ein paar zusätzliche Experimente in Kitas und Kindergärten bisher nicht zu steigern war. Der Lernpädagoge kritisiert an den bisher halbherzigen Förderaktionen, dass der Dialog mit den Kindern dabei viel zu kurz kommt, das Weltbild von Kindern und die kindliche Logik kaum berücksichtigt würden. Bevor Kinder nicht beim Krabbeln, Laufen oder in der Natur Erfahrungen mit den unbewussten physikalischen Abläufen ihrer Bewegungen sammeln und eigene Vorstellungen formulieren können, warum manche Dinge sind wie sie sind, sei ein zeitliches Vorziehen von Schulstoff in die Kindergartenzeit sinnlos. Das vorzeitige Behandeln von Grundschulstoff mit Dreijährigen sieht Ansari äußerst kritisch, weil er den Großteil der bisher eingesetzten Fragestellungen für die Altersgruppe für ungeeignet hält. Unnützes Wissen oder Wissen im ungeeigneten Moment mache geistig unbeweglich. Kinder sollen laut Ansari nicht einüben und als Wissensvorrat für die Schule speichern, was Erwachsene als Antwort auf Fragen Erwachsener erwarten, sondern selbst nach Lösungen suchen lernen und ihr neu entdecktes Wissen mit ihren bisherigen Vorstellungen selbst vernetzen. Erwachsene hätten gegenüber Kinderfragen allein die Moderatorenrolle einzunehmen. Virtuelle Erfahrungen schalten dialogische Lernprozesse aus, warnt der Naturwissenschaftler übereifrige Eltern. Schnellen, wissenschaftlich korrekten Antworten wäre in der naturwissenschaftlichen Frühförderung zu misstrauen; denn unsere Gesellschaft bräuchte weniger Wissende und mehr flexibel reagierende Menschen, die schöpferisch gestalten wollen.


    Eltern, die die unmitelbare Umgebung für ihre Kinder als gefährlich erleben und falsch einschätzen, was ihre Kinder bereits allein bewältigen können, seien zur Zeit eines der größten Hindernisse für den natürlichen kindlichen Forscherdrang, so der Autor. Dass nicht das Experimentieren an sich im Mittelpunkt der Förderung naturwissenschaftlichen Denkens stehen sollte, sondern der Austausch mit anderen Kindern über deren Vorstellungen von unserer Welt, zieht sich wie ein roter Faden durch Ansaris Buch. Eine typische Ansari-Aktivität besteht folgerichtig darin, eine Frage zum Forschungsgegenstand zu erklären, die Kinder interessiert, und Kinder diese Fragestellung mit ihren Fähigkeiten untersuchen zu lassen. Welches Kind einer Gruppe kann am weitesten springen? Tritt dieses Ergebnis in allen Gruppen auf? Gibt es persönliche Merkmale als Grund dafür? Ansari setzt in seinen Workshops Wasser, Sand und Trockenartikel wie Bohnen ein. Gefragt ist in seinen Kindergruppen der Einsatz des ganzen Körpers, bei dem Kinder auch nass oder schmutzig werden können. Ansaris meist altersübergreifende Fördermaßnahmen unterscheiden sich von den üblichen Bildungsplänen durch seine aufrichtige Zuwendung den Kindern gegenüber und die Muße, mit der seine Teilnehmer experimentieren und beobachten können. Ansari bot seine Anregung zum naturwissenschaftlichen Denken in Gruppen ganztags fremdbetreuter Kinder an. Viele seiner Fragestellungen eignen sich nicht für Zuhause, weil sie sich an Gruppen richten oder recht aufwändig sind. Trotzdem wünsche ich mir, dass wieder mehr Gespräche mit Kleinkindern über Marienkäfer oder Regenwürmer in den Familien geführt und nicht automatisch an Betreuungsinstitutionen delegiert werden. Sehr beeindruckend in diesem Zusammenhang Ansaris erste Erinnerungen an die Käferstudien seines Bruders!


    Eindrucksvoll legt Ansari dar, dass man es mit frühkindlicher Förderung sehr wohl übertreiben kann. So weigerte sich eine Kindergruppe beharrlich, mit ihm über "Luft" zu sprechen, weil das Thema ihrer Ansicht nach in der Kita schon abgehakt worden war (S. 188/189). Bildungspolitikern sollte zu denken geben, wenn der Autor berichtet, wie sich Hauptschüler von Schülern anderer Schultypen bei den Aktivitäten nicht in ihrer Intelligenz unterschieden, sondern in ihrem auffallend geringen Selbstbewusstsein und ihrem Unglauben, dass sich jemand aufrichtig für ihre Gedanken interessieren könnte.


    Fazit
    Ansaris lebenskluges Buch lässt sich auch von pädagogischen Laien zügig lesen. Eltern sollten sich von Salman Ansari ermutigt sehen, sich wieder stärker auf ihren gesunden Menschenverstand zu verlassen, Kindern ihr eigenes Entwicklungstempo zuzugestehen und sich selbst für die Sprachentwicklung als Grundlage jedes weiteren Lernens zuständig zu fühlen. Wer, verunsichert von der Frühförderwelle, fürchtet, das eigene Kind könnte etwas verpassen, dem lege ich besonders das letzte Kapitel ans Herz. Salman Ansari konzentriert sich darin mit großer Wertschätzung für die Arbeit im Kindergarten auf das wirklich Wichtige, die Gemeinschaft, in der Kinder lernen andere zu respektieren und Anteil an deren Gedanken zu nehmen.


    9 von 10 Punkten