Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 - Brigitte Reimann

  • Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher von 1964 - 1970 - Brigitte Reimann
    Herausgegeben von Angela Drescher



    Verlag: Aufbau Taschenbuch


    ISBN: 3746615372


    Erscheinungsjahr: 2000


    Seitenzahl: 464



    Über die Autorin:
    Brigitte Reimann wurde 1933 in Burg bei Magdeburg geboren, arbeitete für kurze Zeit als Lehrerin und nach einer ersten Veröffentlichung als Schriftstellerin.
    Nach längerem Aufenthalt in Hoyerswerda entschied sich Brigitte Reimann bewusst für einen Umzug nach Neubrandenburg, der 1968 erfolgte.
    Nach langer Krankheit verstarb die Autorin 1973.
    Weitere Arbeiten der Autorin: "Ankunft im Alltag", "Die Geschwister", "Das grüne Licht der Steppen".



    Über den Inhalt:
    Die große Liebe hat Brigitte Reimann verlassen, eine Krebsoperation liegt bereits hinter der Schriftstellerin und die Arbeit an ihrem Lebenswerk "Franziska Linkerhand" will nicht vorangehen.
    "Alles schmeckt nach Abschied" sind die Tagebuchaufzeichnungen Brigitte Reimanns in ihren dreißiger Jahren, die das Bild einer einsamen Frau aufzeigen, die bis dahin eine literarische Figur geliebt hat und sich die Altersfrage stellt, aber auch ein großartiges Zeitzeugnis über die DDR in den sechziger Jahren und ihre politischen, gesellschaftlichen und sozialen Gefüge liefert.



    Meine Meinung:
    2013. Es ist das Jahr, in dem sich der 80.Geburtstag und der 40.Todestag einer zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Schriftstellerin jähren. Zugleich sind diese Jahrestage ein guter Anlass, sich mit dem Werk und den
    Tagebüchern dieser Ausnahmeschriftstellerin zu beschäftigen, liefern doch vor allem ihre Tagebücher nicht nur einzigartige Einblicke in das Privatleben dieser exzentrischen, lebensgierigen und oftmals scheuen Frau, sondern
    beschreiben in unschätzbarer und schonungsloser Weise die Verhältnisse in der DDR.


    Das Tagebuch, hierbei handelt es sich übrigens um den zweiten Teil nach "Ich bedaure nichts: Tagebücher 1955-
    1963", beginnt für die Reimann im Jahr 1963 recht glücklich. Sie liebt und lebt (teilweise) mit Jon, mit dem sie einen nie dagewesenen körperlichen und geistigen Austausch erlebt, der offensichtlich exzessive Züge trägt.
    Doch Brigitte Reimann ahnt bereits, dass ihr gemeinsames Glück nicht ewig währen wird.
    Dennoch vertraut Brigitte Reimann ihrem Tagebuch offen an, dass sie sich von ihrem zweiten (Noch-)Ehemann Siegfried Pietschmann, den sie in ihren Aufzeichnungen nur Daniel nennt, immer noch nicht lösen kann. Zu stark ist
    das Band zwischen ihnen, eben weil auch Pietschmann literarisch aktiv ist.
    Die private Zufriedenheit wird jedoch immer wieder durch Geldnöte, unsinnige Sitzungen des Bezirksschriftstellerverbandes und politische Einwirkungen auf die Frau mit dem eigenen Kopf beeinträchtigt.
    Trotz aller politischen Widerstände finden sich immer wieder Freunde und Vertraute, gar Verbündete, die ihre Arbeit anerkennen und ihr helfen wollen. So darf sie im Jahr 1964 eine Delegation nach Sibirien begleiten und über
    diese Reise schreiben, die ein Jahr später unter dem Titel "Das grüne Licht der Steppen" veröffentlicht wird.
    Ihre grenzenlose Freude über diesen Auftrag teilt sie ihrem Tagebuch überschwenglich mit und ihre Aufzeichnungen lassen erkennen, mit welchem Enthusiasmus sie in den Osten reist. Wie nicht anders zu erwarten, fällt die
    russische Gastfreundschaft mehr als großzügig aus, Reimann isst und vor allem trinkt viel Wodka mit russischen Wissenschaftlern, schreibt sehnsuchtsvoll von der sibirischen Weite und ihren Seen. Getrübt wird diese Reise durch andere Delegationsmitglieder, die ihr eine mangelnde sozialistische Einstellung vorwerfen und an ihrer Linientreue
    zweifeln und doch kann diese Kritik ihrer Begeisterung nichts anhaben, schreibt sie doch an einer Stelle:


    "Wenn ich einmal einen schrecklichen Schmerz hätte, würde ich hierher fahren."


    Auch im weiteren Verlauf der Aufzeichnungen kommt die Sprache immer wieder auf ihre politische Ausrichtung zurück, vertraut sie ihrem Tagebuch an, dass sie nicht nur von der Staatssicherheit kontrolliert wird, sondern auch von
    Kollegen und Verlag beäugt wird. Die Situation spitzt sich zu, als Brigitte Reimann sich im Jahr 1968 weigert, eine Erklärung des Schriftstellerbandes zu unterzeichen, der die Staaten des Warschauer Pakts darin unterstützt,
    den "Prager Frühling" niederzuschlagen. Damit ist die Karriere der vielversprechenden Schriftstellerin vorerst beendet, ein Umzug nach Neubrandenburg wird unwahrscheinlich, da sich bis zum dortigen Schriftstellerverband ihre Weigerung herumgesprochen hat.
    Der Umzug verzögert sich weiter, sehr anschaulich beschreibt sie, wie unkomfortabel die ihr angebotene Wohnung in Mecklenburg ist, die für damalige DDR-Verhältnisse so typisch ist.
    Doch die Sorgen werden durch andere verdrängt, als sie erfährt, an Brustkrebs erkrankt zu sein. Die Aufzeichnungen über die Erkrankung sind begrenzt, doch fordern sie dem Leser emotionale Stabilität ab. Wohltuend ist es in diesem Zusammenhang über die Freundschaften Brigitte Reimanns zu lesen, insbesondere der aktive Briefwechsel mit Christa Wolf bestärkt die Schriftstellerin in allen Lebenslagen und beschreiben ihre Freundin,
    die in den Medien kühl wirkende Christa Wolf als einen herzlichen und fürsorglichen Familienmenschen.


    Brigitte Reimanns Aufzeichnungen schließen im Jahr 1968 mit den Worten:


    "Fürs nächste Jahr wünsche ich mir - wie immer - Frieden und - wie seit vielen Jahren - ein abgeschlossenes Buch, und - wie ich weiß nicht seit wie vielen Jahren - die Liebe und Treue von Jon. Und daß ich auch noch lebe, nächstes Jahr um diese Zeit."


    Dass diese Liebe die Trennung und das Jahr 1969 nicht überstehen wird, ist absehbar. Es folgt eine schlimme Zeit für die Schriftstellerin, geprägt von Alkohol, einem Gewaltexzess gegen Jon, Krankheit, Schreibblockaden und unüberschaubaren Männerbekanntschaften, die bis ins Jahr 1970 andauert.
    Wie das Leben für Brigitte Reimann im Jahr 1973 zu Ende geht, ist bekannt.
    Die Herausgeberin dieser Tagebücher, Angela Drescher, hat gut daran getan, diese Aufzeichnungen, die bis in das Jahr 1970 hineinreichen, hoffnungsvoll enden zu lassen.
    Ergänzt werden diese Tagebücher durch eine umfangreiche Chronik und zahlreiche aufschlussreiche Anmerkungen, die sich aus den Aufzeichnungen nicht selbst erschließen.


    "Alles schmeckt nach Abschied" ist das schonungslose, manchmal sehr bedrückende und doch überaus lesenswerte Tagebuch der außergewöhnlichen Schriftstellerin Brigitte Reimann, das über das Privatleben hinaus von der freien Arbeit des Schreibens unter sozialistischen Verhältnissen berichtet, von Konkurrenzen und Freundschaften erzählt und sich als eine unerschöpfliche historische Quelle für die Situation in der DDR in den sechziger Jahren erweist.

  • Die Tagebücher von Brigitte Reimann sind unbedingt lesenswert. Danke für das Erinnern an eine leider heute fast vergessene Autorin. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Die Tagebücher von Brigitte Reimann sind unbedingt lesenswert. Danke für das Erinnern an eine leider heute fast vergessene Autorin. :wave


    :write


    Aber nicht nur die Tagebücher, auch die Briefwechsel, besonders der mit ihrer Freundin Irmgard Weinhofen oder der mit Christa Wolf, sind lesenswert; ich finde, sie ergänzen die Tagebücher aufs Beste.