Das Pferd ohne Kopf - Paul Berna (ab ca. 12 J.)

  • OT: Le cheval sans tête 1955, erstmals auf deutsch: 1956


    Dieses Kinderbuch gehörte eigentlich in die Rubrik Klassiker, auch wenn es heute fast vergessen ist, keine Standards für Kinderkrimis setzte und auch nicht für den Kinder-Sozialroman, obwohl es auch das ist.


    Meine Beziehung zu diesem Buch begann holprig, beim ersten Lesen gefiel es mir gar nicht. Zu fremd war die Welt, die geboten wurde. Die abenteuerliche Verbrecherjagd ging über meinen Kopf hinweg. Das einzige, was ich mochte an dem Buch, war, daß es ein Ravensburger Taschenbuch war, die Ausgabe von 1967. Ich liebte diese Bücher, für die Geschichte war ich noch zu jung. Etwas später hat es dann gefunkt und der Funke glüht bis heute. Ich besitze das Buch noch, immer noch in der Ravensburger-Ausgabe, sie ist etwas zerlesen, ganz klar angesichts der Häufigkeit, mit der ich sie in den Händen hielt. Ich lese es auch heute noch, es gehört zu den wenigen alten Kinderbüchern, die ich ohne Anflug von Schamgefühl angesichts der dargebotenen Peinlichkeiten, sei es in Handlung, sei es in Sprache, sei es der vermittelten Botschaft genießen kann.


    Das titelgebenden kopflose Pferd ist ein Spielzeugpferd auf Rädern für kindlicher Reiter. Es hat bessere Tage gesehen und wohl auch bessere Familien, als die, in der es schließlich landet. Das ist die Familie von Fernand, sein Vater ist Eisenbahner. Sie leben in einem Vorort von Paris, eher ärmlich, der Arbeitsalltag der Eltern ist hart, die Häuser einfachst, gleich dahinter beginnt das Eisenbahngelände. Geschenke sind selten, selbst Weihnachtsgeschenke, wenn sie über das Notwendige, etwa Kleidung, hinausgehen.
    Als Fernands Vater mit dem Pferd auf Rädern ankommt, ist Fernand rundum begeistert. Die Begeisterung überträgt sich auf seine Freundinnen und Freunde, alle zehn Mitglieder der Bande von André. Er ist der älteste von ihnen, fast zwölf. Es gibt ein paar Regeln in der Bande, die strikt einzuhalten sind: eine lautet, daß ehrlich geteilt wird, eine andere, daß zwölf Jahre die Obergrenze für die Mitgliedschaft sind. Das finden alle vollkommen in Ordnung, ab zwölf ist man schließlich schon fast ein Greis.


    Auf dem Pferd muß gefahren werden, darüber sind sich auch alle einig, Mädchen wie Jungen, schwarz wie weiß. In der Bande sind alle gleich. Und so rattern sie bald halsbrecherisch und lebensgefährlich die Straßen des Vororts hinunter. Nicht nur die Kinder bekommen dabei ihre Schrammen ab, auch das Pferd leidet. Es verliert erst den halben, dann den ganzen Kopf. Das tut dem Spaß keinen Abbruch. Bis eines Tages das Unglück passiert. Es gibt einen Beinahe -Unfall wegen eines Lieferwagens. Der unglückliche Fahrer des Pferds trägt nur blaue Flecken davon, aber das Pferd ist kaputt. Die Kinder sind am Boden zerstört. Daher entgeht es ihnen auch, daß ihr geliebtes Spielzeug plötzlich sehr nachgefragt ist. Unbekannte wollen es ihnen abkaufen und versuchen schließlich, es zu stehlen. André, als Kopf der Bande, tut alles, um die kleine Gruppe bei der Stange zu halten. Daß sie aber das tolle Abenteuer überstehen, in das sie unversehens schliddern, verdanken sie Marion, dem Mädchen mit den Hunden.


    Die Welt, die Berna schildert, gibt es so nicht mehr, trotzdem klingt sie bis heute echt und überzeugend. Die schäbigen Straßen, die kleinen Leute, die von der Arbeit erschöpften, aber liebevollen Eltern. Die Kinder, munter, verwegen, tolpatschig, verspielt und zugleich mutig, ehrlich bis zur eigenen Schmerzgrenze und so richtig vernünftig unvernünftig, wie sie in dem Alter sein können. Berna läßt sie selbständig agieren, wahrt immer den Blick der Kinder auf die Welt. Die Erwachsenen der Geschichte verstehen deswegen oft nicht, was gerade passiert bzw. kleben an ihren Regeln, die denen der Kinder oft entgegengesetzt sind. Vor allem der Polizeiinspektor Sinet bekommt das zu spüren. Er muß einiges an Einsichten über die Kinder aus diesem armseligen Viertel verdauen. Berna nimmt seine Figuren ernst, es sind Heldinnen und Helden des Alltags, was sie tatsächlich meistern, sind die Anforderungen des Lebens. Unaufdringlich wehrt er sowohl die romantische Vorstellung, daß Arme die besseren Menschen sind, ab, als auch die ebenso romantische Verkehrung, daß Armut den Charakter verdirbt. Er beschreibt das Leben in dem kleinen Vorort einfach als Selbstverständlichkeit.


    Er läßt sich aber auch viel einfallen, um das Herz der Leserin zu entzücken. Das große Geheimnis, das hinter allem steckt, offenbart sich erst zuletzt. Dazwischen gibt es außer den Fahrten auf dem Pferd abenteuerliche Ausflüge über das Bahngelände, Eindringen in eine verlassene Fabrik, haarsträubende Verfolgungsjagden. Die Gefahr, in die die Kinder geraten, ist beträchtlich. Die Überraschung am Ende gelingt in jeder Hinsicht.
    Die Kinder sind wunderbar gezeichnet. Auch wenn Fernand und Marion deutlich die Hauptfiguren sind, verblassen die anderen dahinter nicht ganz, bis hinunter zum Kleinsten, genannt Bonbon. Ihre überschäumende Freude wie Schrecken, Entsetzen und tiefe Traurigkeit etwa über das kaputte Pferd teilen sich unmitelbar mit. Der Witz vieler Dialoge entfaltet sich beim Lesen bis heute.


    Vor allem aber ist Berna ein Meister darin, Atmosphäre entstehen zu lassen. Die Geschichte spielt im Dezember. Beim Lesen spürt man den kalten Wind im Gesicht und den Schneematsch unter den Schuhen, riecht die muffige Luft im Polizeirevier und schmeckt die heiße Schokolade, die sich die Kinder zur Belohnung am eigenen Feuer(verboten!) gönnen. Man hört das Trappeln der Hundepfoten, die Knallerbsen knallen und natürlich das Rattern der Eisenräder des kopflosen Pferds auf dem Kopfsteinpflaster. Vor allem aber spürt man den innigen Zusammenhalt der Mitglieder der Bande, ebenso selbstverständlich und doch erarbeitet von ihnen. Der Schluß ist herzerwärmend, aber völlig unsentimental.


    Sehr spannender Kinderkrimi in ungewohntem Umfeld, lebensecht, lebensklug. Eine Rarität bis heute.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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