Diese Geschichte erschien erstmals 1786 in der von Schiller selbst herausgegebenen Zeitschrift Thalia unter dem Titel ‚Verbrecher aus Infamie‘, ein zweites Mal leicht überarbeitet und mit neuem Titel 1792 in einem Band gesammelter Schriften. Der Text, der heutzutage in der Regel gelesen wird, ist die Version von 1792.
Die fiktive Lebensgeschichte von Christian Wolf, dem Sonnenwirt, geht auf eine wahre Begebenheit zurück, aber darum geht es Schiller nicht. Was ihn interessiert, ist, wie ein Mensch zum Verbrecher wird und welchen Einfluß dann wiederum sein Dasein als Krimineller auf ihn hat. Seine Darstellung ist weder eine Schauergeschichte noch Erbauungslektüre zur moralischen Erziehung der LeserInnen. Im Gegenteil versucht er, ganz im Sinn des fortschrittlich-freiheitlichen Denkens seiner Zeit das Zusammenwirken äußerer und innerer Einflüsse auf das Verhalten eines Menschen zu zeigen. Die Leserin soll dabei weder schockiert noch zu sentimental-romantischem Mitgefühl verführt werden, sondern ist aufgerufen, sich auf der Grundlage der vorgelegten Fakten ein eigenes Bild zu machen und dann ein Urteil abzugeben. Zu den Fakten gehört auch und ganz unbedingt die jeweilige Gemütslage des ‚Verbrechers‘.
Die Geschichte beginnt mit eben diesen theoretischen Überlegungen. Der Einstieg ist für heutige LeserInnen nicht ganz leicht, umso weniger, als die Begrifflichkeit der Zeit zunächst ungewohnt sind. Nach der Theorie folgt die Schilderung der Ereignisse, die zu dem führen, was dann der ‚Fall Christian Wolf‘ wird. Sie ist kurz, möglichst sachlich, sie ähnelt einem Protokoll. Ein junger Mann wird beschrieben, der zusammen mit seiner verwitweten Mutter ein Gasthaus führt. Das Geschäft geht schlecht, der junge Wirt ist eher als unhöflich, übermütig und wenig solide bekannt. Er ist häßlich, seit einem Unfall leicht entstellt. Er verliebt sich, aber es gibt noch einen zweiten Bewerber. Wolf versucht, die Frau seiner Träume mit Geschenken zu beeindrucken. Da er kein Geld hat, verlegt er sich aufs Wildern. Leider ist sein Rivale ein junger Förster, der rasch auf die Diebereien aufmerksam wird und Wolf anzeigt. Er muß eine Geldstrafe zahlen. Er wildert weiter, aus Geldnot wie aus Liebe und landet erst im Gefängnis, dann, nach der dritten Verhaftung, endgültig in Ketten in einer Festung.
Von da an läßt Schiller seinen Protagonisten selbst erzählen, von seinen Schuldgefühlen, der Reue und der Aussichtslosigkeit, seine innere Veränderung umsetzen zu können. Während der Haft ist er ausschließlich in Gesellschaft von Kriminellen, nach der Haft verweigern ihm die Menschen in seinem Heimatort jede Aufnahme eines Berufs. Die wachsende innere Einsamkeit, wie auch der Selbstverachtung bis hin zum Selbtsthaß sind eindrücklich geschildert. Es kommt zu einer Krise, als Wolf unvermutet seinen alten Rivalen im Wald trifft. Er erschießt ihn. Das geschieht nicht zwangsläufig, hier spielt sich keine klassische Tragödie ab. Wolf hat die Wahl, einen winzigen Moment lang. Er ist nicht vom Schicksal verurteilt zu handeln, er ist, durchaus im Geist der Zeit und nach Schillers Überzeugung, immer noch frei in seinem Handeln.
Mit dem Mord bleibt ihm nur die Flucht. Er gerät an eine Gruppe von Ausgestoßenen. Sie geben ihm die Zuwendung, die er längst stark vermißt, bestätigen aber zunächst auch sein Selbstmitleid. Es dauert seine Zeit, bis er begreift, in welchem Elend er tatsächlich gelandet ist. Schiller skizziert das Räuberleben ganz ohne Robin-Hood-Romantik, mit klarem Blick auf ein Dasein außerhalb der Gesellschaft, immer auf der Flucht, immer voll Angst und stets am Rand des Verhungerns. Trotz der Kürze nimmt er sich die Zeit, ein Schlaglicht auf einen zweiten Lebenslauf zu werfen, den von Marie, die Wolf bei der Bande trifft, eine junge Frau, die vor ihrem prügelnden Mann geflüchtet ist und der nur ein Leben als Hure bleibt. Wie auch Wolfs erste große Liebe ist sie Verliererin der herrschenden gesellschaftlichen Zustände.
Zutiefst verzweifelt scheint sich mit dem Ausbruch der Siebenjährigen Kriegs für Wolf eine Möglichkeit zu ergeben, in die Gesellschaft zurückzukehren und für seine Tat zu büßen. Er wendet sich mit einer Bittschrift an den Landesherrn, ihn als Soldaten anzunehmen. Er bekommt keine Antwort, auch nicht beim zweiten und dritten Versuch. Schließlich versucht er über die Grenze nach Preußen zu flüchten, um dort unerkannt Soldat zu werden, mit dem Ziel im Krieg zu fallen und damit seine Ehre wiederzugewinnen. An der Grenze wird er jedoch verhaftet, weil er keinen gültigen Paß besitzt. Wieder auf sich zurückgeworfen, scheint sein Dasein als Verbrecher besiegelt, Wolf ist entschlossen, sich aus der Sache herauszulügen.
Doch es gibt einen zweiten Wendepunkt. Der zuständige Amtmann zeigt sich trotz erheblicher Zweifel bereit, den Verhafteten anzuhören. Dieses ‚in dubio pro reo‘ ist für Wolf der ausschlaggebende Akt an Menschlichkeit, auf den er letztlich seit seinem Abrutschen in die Kriminalität gewartet hat. Damit ist er bereit, die Strafe auf sich zu nehmen und gibt sich zu erkennen. Diesen letzten Teil berichtet wieder der Erzähler.
Schillers nennt seine Geschichte eine ‚Leichenöffnung des Lasters‘, tatsächlich ist es eine psychologische Studie und ein früher Appell an die Notwendigkeit der Resozialisierung. Sein Protagonist leidet nicht nur unter seinem unmoralischen Tun, sondern auch unter der Einsamkeit, in die er mehr und mehr gedrängt wird. Er ist zunächst unreif, handelt falsch, entscheidet falsch, wird aber zugleich auf seinem Weg abwärts getrieben. Die emotionale Gemengelage ist sehr modern aufgefaßt und packend beschreiben. Das Urteil bleibt, wie anfänglich gefordert, der Leserin überlassen. Diskussionsstoff liefert Schiller genug.