Pulp Head. Vom Ende Amerikas - John Jeremiah Sullivan

  • Amerika hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu einem Land entwickelt, das vielen Europäern fremder ist als die Innere Mongolei.
    Was ist das für ein Land, in dem zehntausende auf die Straße gehen, um gegen eine Gesundheitsreform, die doch in erster Linie ihnen selbst zugute kommen würde, zu demonstrieren?
    Warum ist es in einem Land, dass formal auf einer strikten Trennung von Staat und Kirche besteht, so wichtig, ob der Präsident vor den Mahlzeiten betet? Warum ist in einer Gesellschaft, die unermüdlich die Bedeutung der Nation beschwört, das Verantwortungsgefühl oder auch das Mitgefühl für andere, ärmere Mitglieder eben dieser Nation so unterentwickelt?


    Ein kleine Hilfestellung, dieses seltsame Land zu verstehen, bietet dieses Buch. Hier sind Essays versammelt, die Sullivan in verschiedenen amerikanischen Zeitungen veröffentlicht hat und die sich mit den unterschiedlichsten Aspekten der amerikanischen Gesellschaft beschäftigen, sei es die Kunst der Ureinwohner, Popmusik oder die Literatur der Südstaaten.
    Sehr witzig und pointiert sind diese Essays, wobei mich überraschte, dass es viele Themen gibt, die dem Autor so fremd sind wie mir, etwa die Ansichten der Evangelikalen oder der Tea Party Bewegung, er aber andererseits ausgiebig über Dinge nachdenkt, die mir bisher nicht nachdenkenswert erschienen, wie Reality-TV oder Disneyland.


    Etwa die der Evangelikalen: mit einem monströsen Wohnmobil besucht Sullivan das größte christliche Rockfestival Amerikas, überzeugt, das Spektakel nur mittels eingeschmuggeltem Bier zu überstehen, und dabei einen Zoo voller durchgeknallter Christen zu beobachten. Durchgeknallt sind die dann in der Tat, aber auf einer anderen Weise als erwartet, sodass sich Sullivan eingestehen muss, sich tatsächlich am Ende mit einigen von ihnen angefreundet zu haben.


    Wie in vielen Büchern dieser Art (mir fällt spontan Klosterman ein), nimmt die Beschäftigung mit Musik einen verhältnismäßig weiten Raum ein. Sei es nun Michael Jackson, irgendwelche mir vollkommen unbekannten Bluegrass-Legenden oder Axl Rose: bis ins Detail wird da diese Musik analysiert mit einer Ernsthaftigkeit, die mich amüsierte, manchmal langweilte, oft auch erstaunte. Dass da ein Intellektueller einen Auftritt von Axl Rose so ausgiebig bespricht wie hierzulande jemand vielleicht eine Wagneraufführung, hat mich irritiert, zumal ich Axl Rose schon immer peinlich und seine Musik langweilig fand. Doch sehr geschickt nutzt Sullivan die Herkunft Roses, um das trostlose Milieu der Unterschicht in der kleinstädtischen Einöde des Mittleren Westens zu schildern, in dem Armut und gebrochene Bildungsbiografien an den Familien wie Pech kleben und Rassismus und Homophobie zum guten Ton gehören. Er selbst ist auf der „guten“ Seite einer solchen Kleinstadt aufgewachsen und konnte so am eigenen Leibe erfahren, wie der klügste seiner Grundschulkumpels am Ende auf dem Schrottplatz des Vaters landete.


    Auch der ausführliche Artikel über einen Reality Show Star war mir ähnlich exotisch wie ein Bericht über die Filmindustrie Nigerias, irgendwie interessant aber auch sehr, sehr seltsam. Hätte ich nicht in einem heldenhaften Selbstversuch vor kurzem eine halbe Stunde Dschungelcamp geguckt, ich hätte gar nicht gewusst, wovon der Autor überhaupt redet, zumal er voraussetzt, dass der Leser „The Real Life“ kennt.


    Die Essays sind gekonnt komponiert, oft kapiert man erst beim letzten Satz, auf was der Autor überhaupt hinauswill, aber dann fügt sich plötzlich alles zu einem Gesamtbild. Die Sprache ist, und daran hat sicherlich auch die Übersetzung ihren Anteil, frisch, originell, irgendwie fesselnd (weshalb sich auch für mich eher uninteressante Artikel sehr gut lesen ließen). Lediglich der Untertitel „Vom Ende Amerikas“ erschließt sich mir nicht so ganz, heißt es doch im Original „Notes from the other side of America“. Denn es geht in dem Buch keineswegs um das Ende im Sinne von Untergang Amerikas, sondern wenn, dann um das andere Ende, die andere Seite von Amerika. Aber wer weiß, womöglich ist diese Zweideutigkeit sogar Absicht, schließlich hat man zumindest als Europäer den Eindruck, dass so manches der beschriebenen Phänomene das Ende zumindest der westlichen demokratischen Errungenschaften bedeutet. Und das ist das tröstliche an diesen Geschichten: mit Humor betrachtet ist vielleicht alles gar nicht so schlimm, wie es zunächst aussieht.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)