Pat Barker - Tobys Zimmer

  • Gesichter des Krieges


    Zitat

    Eintausend junge Männer mit ausgehöhlten Augen, weggesprengten Kiefern und klaffenden Löchern, wo ihre Nasen einst waren, hier auf engstem Raum, um zusammengeflickt und mit dem, was die Chirurgen an Gesicht zustande gebracht hatten, entlassen zu werden. S. 248


    Der erste und kürzere Teil des Romans ist im Jahr 1912 angesiedelt. In diesem werden die Figuren eingeführt, die den Leser durch die gesamte Handlung auf aktive oder passive Weise begleiten. Elinor und Toby sind Geschwister. Sie stammen aus gutem Haus stehen und sich gefühlsmäßig so nah, schier unzertrennlich, fast wie Zwillinge. Beide bewahren das Geheimnis einer gemeinsamen Nacht.


    Elinor besucht eine Londoner Kunstschule und belegt zusätzlich einen Anatomiekurs. Toby erfüllt seine Pflicht im Royald Army Medical Corps an der Front in Frankreich, bis eines Tages im Jahr 1917 die Nachricht „Vermisst, vermutlich gefallen“ die Familie Brooke darüber in Kenntnis setzt, dass der Sohn und Bruder nicht mehr heimkehren wird. Dieser Verlust schmerzt Elinor maßlos und sie sucht in der Kunst Vergessen. So nimmt sie nach längerem Zögern, sie will nichts mit dem Krieg zu tun haben, das Angebot ihres ehemaligen Dozenten Henry Tonks an, ihm, dem Chirurgen und Maler, bei der zeichnerischen Dokumentation der verstümmelten Gesichter der Soldaten zu assistieren.


    Zitat

    Ich versuche, mit dem Krieg nichts zu tun zu haben. … Weil er böse ist. Vollkommene Zerstörung. Von allem. Nicht nur Leben. Er ist wie so ein Mähdreschergerät, wissen Sie? Nur dass es kein Getreide schneidet. … Das ist wie mit den Pazifisten. Also, einige, die Mehrheit, verrichten Arbeit von 'nationaler Bedeutung'- … - und arbeiten auf einem Bauernhof oder in einem Krankenhaus. Die anderen allerdings – die Absolutisten - weigern sich.Sie würden eher ins Gefängnis gehen, als etwas, auch nur das Geringste zum Krieg beizutragen. Das halte ich für die stärkere Position, sie ist logischer, weil die anderen doch bloß ihr bisschen Öl auf den Mähdrescher träufeln und sich einreden, an ihren Händen klebe kein Blut, weil sie das elende Gefährt ja nicht selber steuern. S. 213/214


    Auf diese Weise kommt sie auch Kit Neville, dem ehemaligen Kommilitonen näher, der als einziger in Tobys Nähe war, aber über die Geschehnisse schweigt. Aber Elinor muss wissen, was geschehen ist.


    Mit „Tobys Zimmer“ greift Pat Barker ein Thema neu auf, das bereits Kern ihrer „Regeneration-Trilogie“ war – der Erste Weltkrieg. Die Autorin schildert jedoch weniger das Kriegsgeschehen an sich, sie zeigt auf, was der Krieg mit den Menschen gemacht hat, wie er sich auf sie ausgewirkt hat. Sie beschreibt grauenvolle Gesichtsverletzungen, die Versuche diese zu behandeln und die Behandlungsverläufe zeichnerisch festzuhalten. Henry Tonk und auch die sogenannte „Blechnasenabteilung“ hat es wirklich gegeben. Pat Barker setzt ihnen mit ihrem Roman ein Denkmal.


    Geschickt baut sie einen Spannungsbogen auf, so dass es dem Leser schwerfällt sich von dem Roman loszureißen. Man fühlt, leidet und trauert mit, man versteht und kann tief in die Seelen der vom Krieg gezeichneten Menschen blicken, egal ob sie selbst im Krieg waren oder zu den Daheimgeblieben gehören.


    Zitat

    ..., wir fühlen uns alle schuldig. Alle, die überlebt haben. S.265


    „Tobys Zimmer“ hat aber im englischen Original noch eine Vorgeschichte, denn es ist eigentlich die Fortsetzung von „Life Class“. Ich hoffe sehr, dass dieser Roman auch noch den deutschen Lesern zugänglich gemacht wird.


    Pat Barkers Roman „Tobys Zimmer“ ist nicht nur vom Inhalt ein hervorragendes Werk, er ist auch noch äußerst schön anzusehen. Ohne den üblichen Schutzumschlag, sozusagen schutzlos, nur mit einem farbigen, gut in die Zeit passenden Foto auf dem Buchdeckel präsentiert es sich dem Leser.


    „Tobys Zimmer“ war der zweite Roman den ich im Rahmen meines Leseprojektes 'Erster Weltkrieg' gelesen habe. Es ist ein eindringliches und bewegendes Buch, in dem der Krieg die Handlung nie vordergründig bestimmt, ihr aber die grundlegende Richtung gibt.


    Über die Autorin (Quelle: Dörlemann Verlag)
    Pat Barker, geboren 1943 in Thornaby-on-Tees, England, erlangte ihren literarischen Ruhm mit der Roman-Trilogie »Regeneration« – Niemandsland, Das Auge in der Tür, Die Straße der Geister (Deutsch von Matthias Fienbork). Pat Barker wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 1995 gewann sie den renommierten Booker-Preis, 2001 erhielt sie den WELT-Literaturpreis. Pat Barker lebt in Durham.

  • Ich habe im laufe des letzten Jahres eine Vorliebe entwickelt für Romane, die vor, während oder kurz nach dem 1. Weltkrieg spielen. Diese Zeit war durch diesen Krieg, der auf eine neue und furchtbare Weise geführt wurde, ein Zeit des Umbruchs in der Gesellschaft. Pat Barkers Roman passt da wunderbar in mein Beuteschema. Es schildert kaum Kriegshandlungen, dafür um so mehr die Gefühle der Menschen, die in dieser Zeit leben mussten. Pat Barker schreibt wunderbar und einfühlsam, man kann mit den Figuren mitfühlen. Ich habe das das Buch sehr gerne und mit großer Anteilnahme gelesen. Zudem erhält man einen guten Einblick in eine der fruchtbarsten Verletzungsarten, die der Krieg wohl hervorgebracht hat, die Gesichtsverletzungen.
    Von mir volle Punktzahl.


    Ich habe das englische Original gelesen