Charles Frazier: Ins Dunkel hinein

  • Charles Frazier: Ins Dunkel hinein
    Paul Zsolnay Verlag 2014. 352 Seiten
    ISBN-13: 978-3552056916. 19,90€
    Originaltitel: Nightwoods
    Übersetzerin: Annette Grube


    Verlagstext
    Verstört, sprachlos, irgendwie zurückgeblieben – so kommen die Zwillinge Dolores und Frank bei Tante Luce an. Vermutlich waren sie dabei, als ihre Mutter starb, ermordet von Bud, einem brutalen Gelegenheitsgauner und ehemaligen Lebensgefährten der Mutter. Luce gewinnt langsam das Vertrauen der Zwillinge, und auch sie selbst, die Außenseiterin, die in einem verfallenden Sommerhaus in North Carolina lebt, scheint zur Ruhe zu kommen. Auf eine leichte, aufregend unspektakuläre Weise gelingt es Charles Frazier, eine Handvoll fragiler Menschen vor den Gefahren zu retten, die sie immer enger zu umschließen drohen.


    Der Autor
    Charles Frazier, geboren 1950, studierte und lehrte Literaturwissenschaft, bevor er mit seiner Frau und seiner Tochter auf eine Farm in der Nähe von Raleigh, North Carolina, zog, wo er eine Pferdezucht betreibt. "Unterwegs nach Cold Mountain" war sein erster Roman und ein Überraschungserfolg auch in Deutschland.


    Inhalt
    Der Mann von der Behörde stellt Luce die Kinder ihrer Schwester einfach vor die Tür, zusammen mit ein paar Pappkartons. Luce ist die einzige leibliche Verwandte der Zwillinge. Luce’s Schwester Lily war von ihrem Mann vor den Augen der Kinder ermordet worden. Bud war nicht der leibliche Vater der Kinder, er hatte die verwitwete Lily geheiratet. Es war das alte Lied mit dem Paar: Bud verdient nicht genug und will trotzdem nicht, dass seine Frau arbeitet. Er schlägt Lily. Luce haust als Hausmeisterin in einer leer stehenden Lodge in idyllischer Lage. Niemand weiß so genau, was Luce dort draußen am See so treibt, außer ihren Gemüsegarten zu pflegen. Der Weg in die Stadt ist weit, und das Boot, mit dem Luce die Abkürzung über den See nehmen könnte, hat sie verbrannt, anstatt es abzudichten.


    Luce muss keine Pädagogin zu sein um zu bemerken, dass die Zwillinge Dolores und Frank traumatisiert und in ihrer Entwicklung gestört sind. Die Kinder sind circa fünf Jahre alt und sprechen nur miteinander ein für andere unverständliches Kauderwelsch. Sie verhalten sich aggressiv gegen einander und gegenüber anderen, sie zündeln, sowie man sie einen Moment aus den Augen lässt. Bei all den schwarzen Gedanken in ihrem Kopf ist es vielleicht sogar besser, dass sie nicht sprechen. Doch Luce und Lily sind selbst geschlagen und vernachlässigt worden. Luce überlegt sich, wie sie den bösartigen kleinen Wesen beibringen kann, dass der Mensch säen und pflegen muss, wenn er ernten und essen möchte. Luce muss sich mit gesundem Menschenverstand dagegen zur Wehr setzen, dass die Kinder sich gegenseitig umbringen oder ihr das Haus über dem Kopf anzünden. Für ihr Erziehungsprogramm setzt Luce auf die Kraft von Geschichten, den Einfluss der Natur und sie hat ein Pferd eingeplant. Unbelastet von pädagogischen und therapeutischen Ansätzen verlässt sie sich allein auf konsequente Durchsetzung einfacher Regeln.


    Bud, Lilys Mörder, kommt schon bald auf freien Fuß. Der Mann ist nicht schwer einzuschätzen. Er will die Zeugen seiner Tat aus seinem Weg räumen und er will an „seine“ Beute aus einem Raub, die verschwunden ist, seit die Kinder zu Luce gebracht wurden. Der dritte Erwachsene im Bunde ist Stubblefield, der die Lodge und das Land drum herum von seinem Großvater geerbt hat und sich Luce und den sonderbaren Kindern vorsichtig nähert. Buds Suche nach den Kindern wird auf sehr amerikanische Weise eskalieren, niemand kann einschätzen, wie die Kinder reagieren werden. Wer wird die Kraftprobe gewinnen – Bud, die Kinder, die Natur, niemand?


    Fazit
    Charles Frazier hat mich in seinem Roman einfach mit seinen Figuren gefesselt. Seine Sprache ist nüchtern, scheint aus achtlos hingeworfenen Sätzen zu bestehen. Vor großartiger Landschaft lässt er eine ganze Truppe von Sonderlingen aufeinander treffen: Schwarzbrenner, Schmuggler, Hillbillys, seltsame Käuze, die sich höchst raffiniert durchschlagen, ohne dazu besondere Intelligenz zu benötigen. Luce, die früher in der Telefonvermittlung arbeitete, hat sich weitgehend von anderen Menschen und der Konsumgesellschaft zurückgezogen. Sie braucht kaum Geld und ist zu den Anbaumethoden der Ureinwohner zurückgekehrt, die an ihren Maisstauden die Bohnen entlang ranken ließen. Luce möchte nicht besitzen, sondern Fertigkeiten beherrschen, beispielsweise Vogelstimmen erkennen und imitieren. Für den Überlebenspakt, den sie mit den Kindern schließt, muss man sich nicht lieben, aber ein Minimum an Respekt füreinander aufbringen. Wer essen will, muss im Garten arbeiten, wer einen Schlafplatz möchte, sollte besser das Haus nicht anzünden, und wer das Pferd der Nachbarin mag, muss den Kopf heben und der Frau beim Sprechen ins Gesicht sehen. Mir hat der Gedanke gefallen, dass Luce winzige Fortschritte mit diesen traumatisierten Kindern erreichen kann, obwohl sie dafür nicht ausgebildet wurde und nicht die Interessen irgendeines Amtes zu vertreten hat.


    9 von 10 Punkten