Joyce Carol Oates: Die Verfluchten

  • Joyce Carol Oates: Die Verfluchten
    S. FISCHER 2014. 752 Seiten
    ISBN-13: 978-3100540218. 26,99€
    Originaltitel: The Accursed
    Übersetzerin: Silvia Morawetz


    Verlagstext:
    VAMPIRE UND DÄMONEN IN PRINCETON - Joyce Carol Oates überrascht als Meisterin des Schauerromans! Princeton 1905 – das Jahr des Fluches. Die beschauliche Universitätsstadt wird in ihren Grundfesten erschüttert, als Annabel auf der Schwelle zum Altar von einer dämonischen Gestalt entführt wird. Ihr Bruder Josiah macht sich auf die Suche und entdeckt das Grauen. Vampire treiben ihr Unwesen und reißen Princetons intellektueller Elite die Maske herunter. Woodrow Wilson, der Präsident der Universität, entpuppt sich als bekennender Rassist mit beachtlichem Drogenkonsum, und der Sozialist Upton Sinclair predigt die Gleichheit der Menschen, erniedrigt aber seine eigene Frau. Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Gewalt gegen jeden, der anders ist: Das ist das wahre Gesicht der Dichter und Denker. Joyce Carol Oates zeigt sich in Höchstform, scharfzüngig und witzig.


    Die Autorin
    Schon vor 30 Jahren begann Joyce Carol Oates ›Die Verfluchten‹ zu schreiben. Die bedeutendste amerikanische Autorin zeigt in ihrem Meisterwerk, dass sie die Kunst der Gothic Novel beherrscht. Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport (NY) geboren. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. Oates lebt in Princeton, New Jersey, wo sie Literatur unterrichtet.


    Inhalt
    Ein Historiker, M. W. van Dyck II (angeblich 1906 geboren und Absolvent des Abschlussjahrgangs der Universität Princeton von 1927), grub sich durch Tausende von Seiten Tagebuchaufzeichnungen und andere Quellen, um die unheimlichen Ereignisse der Jahre 1905/06 zu dokumentieren. Seine Verdichtung der Ereignisse auf 14 Monate ergibt immerhin noch 750 Seiten! Betroffen sind zwei angesehene Familienclans der Princetoner Oberschicht, die van Dycks und die Strachans. Der skandalöse Vorgang: Annabel wird während ihrer Trauung von einer sonderbaren Gestalt aus der Kirche gelockt, von der man munkelt, sie wäre ein Vampir. Annabel kehrt allein und schwanger ins Elternhaus zurück und bringt ein missgebildetes Kind zur Welt. Mutter und Kind überleben nicht. Die Tagebücher der Zeitzeugen sind kaum verlässliche Quellen; zu sonderbar klingen die Vermutungen und Erklärungsversuche zu den unheimlichen Vorgängen. So soll ähnlich einem Archäopteryx der Neuzeit ein fliegender New-Jersey-Teufel als Echse-Vogel-Mischwesen über Princeton gesichtet worden sein, der angeblich in den Everglades lebte. Herr van Dyck behauptet zwar wissenschaftlich korrekt gearbeitet zu haben, Misstrauen ihm gegenüber scheint jedoch angeraten. So lässt Oates Berichterstatter seine Figuren schon 1905 Papiertaschentücher benutzen, die in den USA erst seit 1924 produziert wurden. ;-)


    Als historische Personen treten der spätere US-Präsident (Amtszeit 1913 bis 1921) Woodrow Wilson als Präsident der Universität auf und Upton Sinclair, der die historischen Archive der Universität für die Recherche zu seinem nächsten Roman nutzt. Die männlichen, weißen & protestantischen Führungspersönlichkeiten jener Zeit waren überzeugt von der gottgegebenen Überlegenheit männlicher Weißer über die Frauen und die Schwarzen. Ehrenmänner, die direkt von der Kirchenbank in die weiße Kutte des Ku-Klux-Clans schlüpften, um mit Lynchmorden für Ordnung zu sorgen, sind nicht schwer vorstellbar. Frauen und Schwarze haben zu jener Zeit keine Bürgerrechte. Frauen aus besseren Verhältnissen werden für die Ehe erzogen, arme Frauen müssen schwer für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Das Schönheitsideal sieht bei Frauen einen Taillenumfang von 45cm vor, andererseits sollen sie gesunde Söhne gebären. In Korsetts eingeschnürte Frauen pflegten leicht in Ohnmacht zu fallen, eine weitere Bestätigung des Klischees ihrer körperlichen und geistigen Unterlegenheit. Die Modediagnose Neurasthenie konnten sich damals nur jene Schichten leisten, die Arzt und Stärkungselixiere finanzieren konnten. Annabels unkonventionelle Freundin Wilhelmina opponiert gegen die gottgegebene Ordnung, sie will Kunst studieren und das auch noch in Manhattan. Eine Laufbahn als Künstlerin war für Frauen natürlich ebensowenig vorgesehen wie ein Studium oder die finanzielle Unabhängigkeit vom Ehemann.


    Upton Sinclairs Frau Meta lebt das Leben einer einfachen Bäuerin, die allein den riesigen Garten zur Selbstversorgung bearbeitet (das einfache Leben als revolutionäre Einstellung) und ihr Kind versorgt, während ihr Mann sich mit revolutionären Luftschlössern beschäftigt. Wirklich revolutionär hätte Sinclair sich zeigen können, wenn er seiner körperlich völlig erschöpften Frau bei der Arbeit geholfen hätte. Woodrow Wilson wird als ewig kränklicher Mann gezeichnet, der regelmäßig Opium in Form obskurer Stärkungstränke konsumiert. Die herrschenden Männerbünde leben nach eigenen Normen und Gesetzen und kümmern sich erst gar nicht um die staatliche Gesetzgebung, die z. B. zur Zeit der Handlung Duelle längst verbietet. Unter dem selbst verordneten Männlichkeitskult leidet wiederum Wilson, weil er keinen Sohn hat, andere Väter haben an der mangelnden Männlichkeit ihrer Söhne zu nörgeln. Eine der beiden prominenten historischen Männerfiguren wird mit beißendem Sarkasmus als gesundheitlich angeschlagen dargestellt, die andere als weltfremd und mit den einfachsten Alltagsproblemen überfordert. Die Frage liegt nahe, wie diese Männer ihren Überlegenheitsanspruch bewahren konnten, und natürlich schweiften meine Gedanken ab zu amerikanischen Präsidenten der Gegenwart, an deren Zurechnungsfähigkeit Zweifel angebracht waren.


    Joyce Carol Oates ist eine sorgfältige Rechercheurin von Milieus. Ihre überschäumende Freude an Details sollte man würdigen können, um Freude an diesem Roman zu haben. Ich finde die Lektüre eher anstrengend als unterhaltend. Die Empfindlichkeiten des Ostküstenadels liegen mir zu fern, um mich damit gut unterhalten zu können. Einer erstarrten, überaus prüden Gesellschaft, die sich nicht verändern kann und will und die weltfremde Ansichten über den menschlichen Körper pflegt, traue ich den Glauben an Vampire jedoch ohne Zögern zu. Über Woodrow Wilson und Upton Sinclair weiß ich zu wenig, um Oates zutiefst sarkastisches Gesellschaftspanorama historisch einordnen zu können. Tiefere Vorkenntnisse der amerikanischen Geschichte können das Abwägen erleichtern, wie weit die Autorin übers Ziel hinaus schießt in ihrer bitterbösen Abrechnung mit ihrer Heimatstadt, der Universität, an der sie bis heute lehrt, und den Männerbünden amerikanischer Eliteuniversitäten.


    7 von 10 Punkten