Der Büchereulen-Adventskalender 2014

  • 21. Dezember 2014 von Holle



    Wintersonnenwende


    Falke überm Tal
    Spielt mit den jungen Elstern
    Sturzflug zur Erde

    Fall kommt zum Stillstand
    Wagemut dieses Jägers
    Kennt den Wendepunkt

    Menschen schauen zu
    Richten die Blicke empor
    Dem Aufstieg folgend

    Hoch in den Lüften
    Rüttelt er im Sonnenschein
    Über Schneefeldern

    Dunkel muss weichen
    Winterwende lockt das Licht
    Wiederzukehren

  • 22. Dezember 2014 von imandra777



    Zeit


    Klausuren, Schule, Unterricht,
    alles läuft wie immer,
    oder nicht?
    Fragen über Fragen,
    Hausaufgaben, Langeweile.
    Rrrrring, die Schulglocke.


    Weiter geht es: Seminare,
    Unterrichtsentwürfe, Unterrichtsbesuche,
    Konferenzen, Materialsuche,
    E-mails, Fortbildungen.
    Langeweile Fehlanzeige.


    Rrrrring, die Schulglocke.
    Waffelduft und Schülerscharen,
    Pausenaufsicht, Toilettengänge,
    Kollegengespräche.
    Nie genügend Zeit.
    Die nächste Stunde naht.


    Rrrrring, die Schulglocke.
    Hoffnungen und Ängste,
    erste Noten, erste Klausuren,
    dazwischen noch Referate
    und der Stoff? Viel zu wenig Zeit.
    Fragezeichen, Hektik, Stress.


    Rrrrring, die Schulglocke.
    Freitag, drei Uhr. Ferien?
    Unterricht. Letzte Absprachen,
    Beruhigungen. Keksduft, Kerzenlicht,
    Vorlesebuch. Adventskonzert vorbei.
    Der Weihnachtsduft naht.
    Ruhige Stunde, letzte Stunde 2014.


    Bim bam, die Weihnachtsglocken läuten.
    Endlich Zeit für Weihnachten und Ruhe.
    Endlich Zeit für Weihnachtseinkäufe,
    Geschenke, Weihnachtsmarkt und
    Innenstadtgedrängel.

  • 23. Dezember 2014 von churchill



    Herbergssuche


    Mittwoch, 19. November. Noch 35 Tage bis zum Heiligen Abend.


    Eine Klassen- oder Kursarbeit nach der anderen. Das wird so bis Weihnachten gehen. Langweilig wird es mir in den nächsten Wochen sicher nicht werden. Weder als Lehrer noch als Ehemann und Papa. Und dann dies. Das Smartphone vibriert.


    10:54 Sandra: Jugendamt hat angerufen.
    10:54 ich: Bereitschaft?
    10:56 Sandra: Ja.
    10:58 ich: Und nun?
    11:02 Sandra: Vier Wochen alter Junge
    11:16 ich: Was hast du gesagt?
    11:27 ich: ?????
    12:01 Sandra sendet ein Foto eines Säuglings


    Damit ist diese Frage auch beantwortet. Im Laufe des Tages erfahre ich mehr. Es ist ja keine Premiere für uns. Joshua ist also vier Wochen alt. Die Polizei half dabei, die Aktion des Jugendamtes abzusichern. Die Herausnahme. Die leiblichen Eltern waren dagegen. Jetzt ist Joshua bei uns. Solange, bis wir er wieder gehen wird. Zurück zu seinen Eltern. Oder in eine Dauerpflege. Das ist nicht unsere Sache. Wir sind für den Augenblick da. Einen Augenblick, der durchaus ein paar Monate andauern kann …


    Joshua ist ein zarter kleiner Junge. Seine Augen sind lebhaft und irgendwohin gerichtet. Er trinkt hastig und verschluckt sich. Schläft unruhig, lässt sich aber immer wieder beruhigen.



    Freitag, 28. November. Noch 26 Tage bis zum Heiligen Abend.


    Zeitungen berichten über ein neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts. „Die Gerichte nehmen Kinder allzu leichtfertig aus ihren Familien“, heißt es da. Und weiter: „Die Verfassungsrichter betonen das Elternrecht und sagen, dass der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen stellen darf. Ein Kind dürfe seinen Eltern nur weggenommen werden, wenn deren Fehlverhalten massiv sei und das körperliche, geistige und seelische Wohl des Kindes nachhaltig gefährdet sei.“


    Lobende Kommentare in den sozialen Netzwerken. Lob für eine Selbstverständlichkeit. Die Problematik bleibt: Wer entscheidet, in welchem Augenblick diese Gefährdung vorliegt?


    Joshua hat zugelegt. Er trinkt ruhiger. Und schläft besser.



    Dienstag, 2. Dezember. Noch 22 Tage bis zum Heiligen Abend.


    Fast schon zwei Wochen ist Joshua bei uns. Die Logistik ist problemlos. Kinderwagen, Kindersitz, Kleidung etc. sind immer vorhanden. Der erste Besuchskontakt in den Räumen des Jugendamtes ist gelaufen. Die Eltern sind sehr jung. Heute berät das Familiengericht darüber, wie es mit Joshua weitergehen soll. Wir warten auf einen Anruf der Sozialarbeiterin. Es wird hektisch. Der Richter hat in der Sitzung empfohlen, die Mutter solle mit Joshua zusammen in einer Mutter-Kind-Einrichtung untergebracht werden. Der Vater findet das nicht so toll. Zuhause schärft er Hieb- und Stichwaffen, um sie bei der Sozialarbeiterin anzuwenden. Man stoppt ihn, bevor es passieren kann.


    Joshua schaut uns gezielt an. Er ist ja auch schon fast sechs Wochen alt. Und wird jetzt bis auf weiteres bei uns bleiben.



    Dienstag, 16. Dezember. Noch acht Tage bis zum Heiligen Abend.


    Der Familienrichter am Amtsgericht startet den nächsten Versuch. Er empfiehlt, die Mutter solle mit Joshua zusammen in einer Mutter-Kind-Einrichtung untergebracht werden. Die Mutter stimmt zu. Der Vater findet das jetzt auch gut.


    Joshua lächelt. Vor allem, wenn der sonst so wilde fünfjährige Tobias mit ihm schmust. Tobias wird sich darauf einstellen müssen, dass Joshua nicht mehr lange bei uns sein wird.
    Joshua hat zugenommen, nimmt sich Zeit zum Trinken und schläft durch.



    Dienstag 23. Dezember. Noch einen Tag bis zum Heiligen Abend.


    Heute wird Joshua gehen. Sandra bringt ihn zum Jugendamt, von dort aus wird er mit seiner Mutter und einer Sozialarbeiterin in die Einrichtung fahren. Es ist eine andere Sozialarbeiterin als vor fünf Wochen. Ich werde mich alleine kurz von Joshua verabschieden. Bis ja quasi ein Profi und halte natürlich professionelle Distanz. Und außerdem gibt es jede Menge zu tun. Morgen ist schließlich Heiliger Abend. Ich könnte jetzt den Baum aufstellen. Und außerdem hat heute meine Große Geburtstag.


    Gleich wird Sandra mit Joshua losfahren. Ich gehe noch einmal zu ihm.
    Mach‘s gut, kleiner Junge. Du warst nur fünf Wochen bei uns. Aber das ist mehr als die Hälfte deines Lebens. Wenn ich mir zu Weihnachten etwas wünschen darf, dann bitte einen Engel, der dich beschützt und auf dich aufpasst.


    Auf Wiedersehen, Joshua.
    Oder vielleicht besser nicht.
    Aber, wenn doch: Immer willkommen!


    Behüte dich Gott, Joshua.
    Und: Frohe Weihnachten …

  • 24. Dezember 2014 von Dieter Neumann



    KOTELLA


    Die Firma kennt jeder. Ohne das Produkt, das die dort herstellen, ist unsere Zivilisation gar nicht vorstellbar. Kinder verweigern den Schul- oder Kindergartenbesuch, wenn ihnen der süße braune Kitt morgens nicht aufs Brot gestrichen wird. Aber auch in Seniorenresidenzen und Pflegeheimen erfreut sich die Paste großen Zuspruchs. Nicht allein, weil ihre cremige Süße so wohlig den altersschlaffen Mundschleimhäuten schmeichelt, sondern vor allem wegen der beglückenden Leichtigkeit, mit der verschlissene Kauwerkzeuge durch rindenloses Butterbrot fahren, das mit Kotella verführerisch beschmiert ist.


    Hildegard arbeitet dort, wo man die braune Masse tonnenweise produziert. Lustvoll berauscht sie sich täglich am süßlichen Duft, der von den Werkshallen in ihr Büro wabert.

    Hildegard hat übrigens auch ein Buch geschrieben. Seither träumt sie davon, der Abteilung Rechnungswesen bei Kotella zu entfliehen und sich vollends zur Schriftstellerin zu häuten. Ein paar Mal hat sie sogar schon vor Publikum aus ihrem Werk gelesen. Im Bücherbus zum Beispiel und auch beim Altenkaffee des Roten Kreuzes. Ach ja, und im Jugendheim der katholischen Gemeinde. Da hat sie fast sieben Besucher gehabt. (‚Fast‘, weil man den Pfarrer mit seinen beiden Lieblingsministranten vielleicht nicht voll mitzählen konnte ...)



    An jenem denkwürdigen Tag im letzten Dezember aber sollte sie endlich eine ‚richtige‘ Lesung halten, ihre erste bezahlte. Hildegard konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hegte zwar den leisen Verdacht, Herberts verlockendes Angebot könne etwas mit ihrer Weigerung zu tun haben, seinem langjährigen Werben nachzugeben. „Und nach dem Fest vielleicht noch in eine nette Bar, nur wir beide, ganz intim und so …“, hatte er allzu beiläufig genuschelt. Nun, sie war bereit, für ihre Kunst fast jedes Opfer zu bringen. Und außerdem hatte er ja recht: Ein wenig Kultur auf der Weihnachtsfeier der Belegschaft konnte nicht schaden.


    Herbert war nicht nur Hildegards glühender Verehrer, sondern auch Betriebsratsvorsitzender in der örtlichen Filiale der Kotella-Werke. Wie in jedem Jahr hatte er die Organisation des weihnachtlichen Betriebsfestes übernommen. Er sehe ja, schmeichelte er, wie schwer es sei – selbst für eine so meisterhafte Künstlerin wie Hildegard –, als Autorin Fuß zu fassen. Und da wolle er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits könne das häufig etwas derb verlaufende Fest von der Besinnlichkeit einer Autorenlesung nur profitieren, andererseits würde die Firma Hildegard dafür ein anständiges Honorar zahlen – und selbstverständlich gäbe es auch einen Karton mit Kotella.


    Familiengläser natürlich.



    Verstohlen sah sie sich im Saal um. So viele Menschen! Vor lauter Aufregung konnte sie kaum etwas zu sich nehmen, obwohl die erlesensten Köstlichkeiten serviert wurden. Wie immer fand die Feier im Ersten Haus am Platze statt, und selbstverständlich übernahm die Firma sämtliche Kosten. Über den festlich gedeckten Tischen schimmerten die Kristalllüster, weihnachtliche Musik säuselte dezent durch den Raum, und die Kellner lasen den Gästen jeden Wunsch von den Augen ab. Das war auch sinnvoll, denn spätestens beim Erreichen des Desserts – ‚Mousse au Kotella‘ – herrschte ein solcher Lärm im Saal, dass keine verbale Verständigung mehr möglich war.


    „Noch ´n paar Flaschen vom Roten!“, „Vier Jubi!“, „Bring´ Se mal noch ´n Tablett Korn!“ …


    Nach dem Dessert trat die Autorin ans Pult – die Herren des Vorstandes hatten sich bereits verabschiedet, was niemand zur Kenntnis und also auch nicht übel nahm – und begann mit der Lesung. Herbert drehte das Mikrofon vorsorglich auf volle Lautstärke. Hildegards erste Sätze wurden folgerichtig von einem derart grellen metallischen Pfeifen begleitet, dass die Leute aus der Betriebsschlosserei, die gerade ihre Maßkrüge ergreifen wollten, um sie auf Befehl des Vorabreiters „auf Ex“‘ zu leeren, heftig zusammenschraken. Sogleich floss literweise Gerstensaft über den Tisch und auf das Kleid der rothaarigen Senta. Senta, als Mitarbeiterin der Personalabteilung mit den Feinheiten der Sprache wohlvertraut, äußerte ein paar handfeste Flüche und sprang hysterisch auf. Ihre Tischnachbarin, Frau Kattengrill vom Empfang, ergriff beherzt eine Serviette, um Sentas Kleid abzutupfen, fiel jedoch beim Versuch, sich aus ihrem Stuhl hochzustemmen – auch sie ein ausgewiesener Kotella-Fan – hilflos auf die Sitzfläche zurück.


    Hildegard aber las.


    Inzwischen hatte Herbert die Lautstärke reguliert, und die Autorin bewältigte soeben den zweiten Absatz ihres Kurzkrimis „Mord in der Leichenhalle“ mit viel Betonung und ein paar vorab einstudierten Gesten, ohne dass dies als besonders störend empfunden wurde, da ihr sowieso kein Mensch zuhörte. Vielmehr steigerte sich der Tumult von Minute zu Minute zu einem beglückenden Gemeinschaftserlebnis, das alle sozialen Schwellen mühelos überwand und zu vielen neuen Duz-Freundschaften führte, was wiederum stets umfängliche Getränkebestellungen auslöste.


    Und Hildegard las mit der Verzweiflung eines Rufers in der Wüste, wohl wissend, dass ihre Worte ungehört im Getöse verhallten. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass die rote Senta sich mittlerweile ihres bierdurchtränkten Kleides entledigt hatte und – ihre Blößen von ein paar Servietten nur mäßig bedeckt – hemmungslos mit einem Lehrling aus der Betriebsschlosserei knutschte, der auf ihrem Schoß saß. Frau Kattengrill starrte angestrengt in eine andere Richtung und forderte lautstark lallend dazu auf, doch endlich der „lieben Kollegin Hillllegaaad sssuusssuuuhörn“, die sich so viel Mühe gäbe.


    Als ihr Ruf unbeachtet verhallte, entschloss die dicke Dame sich trotzig, wenigstens durch das Anstimmen eines Weihnachtsliedes das schwer gefährdete kulturelle Niveau des Abends zu heben, und sie intonierte: „Am Weihnachtsbaume …“, was von den Umsitzenden sofort dankbar aufgenommen und mit einem schmetternden „da hängt ´ne Pflaume“ fortgeführt wurde. Das wiederum löste einen Heiterkeitsanfall von solcher Heftigkeit aus, dass sich der alte Pförtner Theo bemüßigt fühlte, der Kattengrill anerkennend in die fleischige Hüfte zu knuffen.


    Verzweifelt schielte Hildegard über den Brillenrand auf das Getümmel – und las weiter.


    Das Inferno steigerte sich minütlich, und der stimmungsvolle Abend näherte sich seinem vorläufigen Höhepunkt, als – wie in jedem Jahr – plötzlich wie von Zauberhand ein paar Kotella-Gläser auf den Tisch kamen. Schnaps wurde in Bierkrüge gefüllt, ein großer Löffel des süßen Brotaufstrichs hineingeklatscht und alles so lange und heftig gerührt, bis eine bräunliche Flüssigkeit entstand.


    Mit dem ersten Schlachtruf „Kot, Kot, Kot – Kotella schmeckt auch ohne Brot!“ gab Hildegard auf. Während die Belegschaft unter großem Gejohle gewaltige Mengen der süßen Aufschlämmung in sich hineingoss, schlich die Autorin an ihren Platz.


    „Du warst wunderbar!“, rief Herbert ihr entgegen. „Ganz vorzüglich, meine Liebe!“, hauchte er Hildegard ins Ohr, als sie sich setzte. Sie aber nickte nur, griff nach einem der auf dem Tisch stehenden Humpen und leerte ihn bis auf den Boden. Vertraulich lehnte sich der Betriebsratsvorsitzende an sie und flüsterte: „Wir können eigentlich auch gleich gehen, was meinst du? Ich kenn da eine kleine Bar, ganz intim, du weißt schon …“


    „Mein Lesungshonorar bitte!“, forderte Hildegard, während sie entschlossen nach dem nächsten Kotella-Trunk griff.


    „O ja, natürlich!“ Herbert griff in sein Jackett und übergab ihr den Umschlag. Verstört sah er, dass Hildegard auch das zweite Glas zügig leerte.


    „Wir … äh, wir wollten doch noch …“, wagte er sich vor, verstummte jedoch unter dem flammenden Blick seiner Angebeteten, die bereits nach dem nächsten Humpen griff.


    Herbert versuchte es noch ein paar Mal, bot all seinen Charme auf – vergeblich. Frustriert verließ er das Fest, nachdem ihm Hildegard mit schwerer Zunge, aber unmissverständlich die ultimative Abfuhr erteilt hatte.



    An den weiteren Verlauf des Abends kann sich niemand mehr erinnern. Aber alle sind sich sicher: Auch in diesem Jahr wird es eine festliche Kotella-Weihnachtsfeier geben - diesmal aber wieder ganz traditionell.


    Auf kulturelle Zwänge aller Art wolle man diesmal verzichten, sagt Herbert. Irgendwie habe das doch zu sehr gestört.