Gänsehaut – Ross Macdonald

  • OT: The Chill 1964; 1. Aufl. 1966, übers. von Gretel Friedmann. Neu 2014, übers. von Karsten Singelmann


    Archer muß noch eine letzte Gerichtsverhandlung im Zusammenhang mit einem gerade abgeschlossenen Fall überstehen, dann kann er endlich tun, worauf er sich seit langer Zeit schon freut: für ein paar Tage zum Angeln fahren. Es klappt auch dieses Mal nicht mit dem Urlaub. Noch im Gerichtssaal spricht ihn ein junger Mann an. Natürlich will Archer ihn abwimmeln, natürlich gelingt es ihm nicht. Der junge Mann ist zu verletzt, seine Geschichte zu eigenartig. Archers Beschützerinstinkt für die sehr Jungen, so Verletzlichen, gewinnt Überhand.


    So macht er sich auf die Suche nach der verschwundenen Ehefrau von Alex Kincaid, Dolly. Die beiden waren nur einen knappen Tag verheiratet, dann verschwand sie. Archer findet Dolly recht schnell, aber die Geschichte ist damit nicht abgeschlossen. Hinter ihrem Verschwinden steckt ein Mord, der zehn Jahre zurückliegt. Er hat diese Geschichte noch nicht recht entwirrt, als ein weiterer Mord geschieht. Der wiederum führt zu einem dritten, der ebenfalls in der Vergangenheit geschah. Die Täter wurden nie gefaßt, sie können durchaus ein und dieselbe Person sein. Archer ermittelt zielstrebig, er findet Lösungen. Diese erweisen sich trotz ihrer Schlüssigkeit immer wieder als falsch oder als nur als Teile eines viel größeren Puzzles. Erst als Archer das Bild, das er von den beteiligten Personen und von ihren Beziehungen untereinander hat, neu zeichnet, stößt er auf das häßliche Motiv für die Morde und damit auch auf die Schuldigen.


    ‚Chill‘ – Gänsehaut – ist Macdonalds elfter Krimi mit seinem verschlossenen Detektiv Lew Archer. Wie gewohnt, bringt Macdonald sein Thema gleich am Anfang auf den Punkt.


    Die schweren roten Vorhänge vor den Fenstern des Gerichtssaals waren nicht vollständig zugezogen. Goldenes Sonnenlicht drang herein und überstrahlte die elektrische Deckenbeleuchtung …
    Das bestimmt Archers Motiv und zugleich die Atmosphäre. Etwas war verdeckt, aber unvermutet fällt Licht herein und mit einem Mal sieht alles anders aus. Allerdings braucht das Licht seine Zeit. Die Orte, an denen Archer ermittelt, scheinen nebelverhüllt, die Lügen, die ihm erzählt werden, umnebeln die Wahrheit, Archers Denken ist vernebelt, er stochert im Nebel. Erst zum Ende hin, als ihm die Sache klar ist, klärt sich auch das Wetter.
    ‚Wetter ist wichtig‘ behauptet Hemingway und Macdonald hält sich daran. Er baut seine Geschichten damit und die Stimmung, die in ihnen herrscht.


    ‚Gänsehaut‘ handelt von fehlgeleiteter Liebe. Liebe, die zu Besitzgier wird. Unter dem Vorwand, jemanden zu lieben, werden andere manipuliert, gebunden, erpreßt. Liebe ist hier eine einzige Perversion. Sie macht egoistisch und aus nicht wenigen der Beteiligten Monster. Sie auch eine einsame Angelegenheit, wer liebt, erfährt im Gegenzug keine Liebe. So manche Liebe bleibt unbemerkt, weil sie sich nicht ausdrücken kann. Ihre Zeichen werden mißverstanden.


    Die Folgen treffen vor allem die Jüngeren. Die nachkommende Generation vor den Fehlern der Eltern zu schützen ist immer ein Anliegen Archers. Er bemüht sich um die Jungen, selbst wenn sie sich als Versager entpuppen. Die wenigsten Figuren in dieser Geschichte sind sympathisch, nicht einmal Alex in seiner echten Treue zu Dolly. Viele sind feige, auf sich bezogen, herrschsüchtig, geltungssüchtig. Was sie in die Hand bekommen, wird schmutzig. Es gibt nur wenig Glück hier, keine glückliche Familie und kaum ein glückliches Paar.


    Archer selbst ist in diesem Roman ein müder Held, auffallend erschöpft führt er seine Ermittlungen. Der Plot ist raffiniert, die Überraschung am Ende gelingt. Die Geschichte erzeugt Gänsehaut, selbst wenn man sie mehrfach liest und die Zusammenhänge kennt. Erträglich wird sie nur durch Archers Empathie, der sich gegen alle Widerstände für die, die unter anderen zu leiden haben, einsetzt. Für eine Zukunft, die von den Schatten der Vergangenheit nicht zerstört werden kann.


    Fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen liegt jetzt eine Neuübersetzung vor. Welche Ausgabe man auch liest, man bekommt einen Kriminalroman erster Güte.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Im Regal - und gerade wieder gelesen - habe ich die schöne Ausgabe Vibtage/Black Lizard, die es seit den späten 1990ern gibt.
    Allerdinsg sind nicht mehr alle Bände erhältlich.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus