John Harvey: Unter Tage

  • John Harvey: Unter Tage
    ars vivendi verlag 2016. 308 Seiten
    ISBN-13: 978-3869137230. 20€
    Originaltitel: Darkness, Darkness
    Übersetzer: Gottfried Röckelein


    Verlagstext
    England, 1984: Der Bergarbeiterstreik spaltet das ganze Land. Die Gewerkschaft und die Thatcher-Regierung stehen sich unversöhnlich gegenüber, und in Bledwell Vale verläuft der Riss mitten durch die Familie Hardwick. Vater Barry lässt sich als Streikbrecher beschimpfen, doch er braucht das Geld, um die Familie durchzubringen. Mutter Jenny ist Aktivistin im Streikkomitee - bis sie kurz vor Weihnachten spurlos verschwindet. Dreißig Jahre später wird im Dorf eine einbetonierte Leiche gefunden. Charlie Resnick ist zwar schon im Ruhestand, wird aber der Ermittlerin Catherine Njoroge als Berater zur Seite gestellt; schließlich war er damals mit dem Auftrag vor Ort, die Streikszene auszuspionieren. Alles verdammt lang her, aber jetzt muss die Wahrheit auf den Tisch: Ausgrenzung, Hass, Korruption, Liebe in Zeiten bitterster Not. Und es gibt noch zwei weitere Cold Cases aus jener Zeit ...


    Der Autor
    John Harvey, 1938 in London geboren, wurde durch Drehbücher für britische Krimiserien, vor allem aber durch seine Krimis, Erzählungen und seine Lyrik bekannt. Er erhielt eine Vielzahl von Auszeichnungen, zuletzt u. a. den »Diamond Dagger« für sein Lebenswerk. Harvey lebt in Nottingham.


    Die Serie
    Unter Tage ist der 12. Band der Charlie Resnick-Serie. (bei dtv)


    Inhalt
    Als in Nottinghamshire bei Bauarbeiten Jenny Hardwicks Leiche gefunden wird, müssen die zuständigen Ermittler sich 30 Jahre zurück in die Zeit des britischen Bergarbeiterstreiks versetzen. Mit dem Leichenfund ist geklärt, dass die Frau sich 1984 nicht abgesetzt hat, sondern dass der Täter von damals noch in Freiheit lebt. Es wird höchste Zeit, noch einmal Zeugen zu befragen, ehe sie wegsterben. Die Frau war damals von einem Tag auf den anderen verschwunden. Die Erklärungen reichten von „Ihr Mann war ja schon immer gewalttätig“ bis zu „Sie war schon immer aufmüpfig und wird einfach abgehauen sein“. Durch die Familie Hardwick ging der Riss, der damals die ganze Region spaltete. Jennys Mann arbeitet auch während des Streiks weiter, aus Sicht der Bergarbeiter-Gewerkschaft ein Streikbrecher. Jenny engagiert sich für den Streik und die Unterstützung der Familien der Streikenden. Ihr Mann, der seine Familie ernährt, beharrt darauf, dass Haushalt und Kinder Jennys Haushalt und Jennys Kinder sind und er ihr soziales Engagement nicht unterstützen wird.


    Der frisch pensionierte Charlie Resnick wird zu den Ermittlungen hinzugezogen, weil Bledwell Vale sein erstes Revier als junger Polizist war und er damals über exzellente Kontakte und Informanten verfügte. Das Team um die schwarze Ermittlerin Catherine Njoroge wird auch mit dem Hintergedanken gebildet, dass Charlie Resnick als erfahrener Kollege die temperamentvolle Catherine bremsen soll. Der Fall soll zwar aufgeklärt werden, aber bitte keinen Staub aufwirbeln.


    Auf zwei Zeitebenen lassen sich abwechselnd die Ereignisse zur Zeit des Streiks und die Ermittlungen der Gegenwart verfolgen. Resnick und Njoroge durchdenken Szenarien von der Beziehungstat bis zum Serienmord. Bei ihren Zeugenbefragungen wird deutlich, dass es während des Streiks nicht nur zwei mauernde Fronten gab, sondern dass zusätzlich auswärtige Aktivisten, Aufwiegler u. a. Interessengruppen ihr persönliches Süppchen kochten. John Harvey skizziert den historischen Hintergrund nur knapp, der größte Teil seines Romans fand beim Lesen in meinem Kopf statt. Ich schätze es sehr, wenn die Fakten nicht plakativ vor mir aufgebaut werden, sondern ich meine eigenen Schlüsse ziehen kann. Hier waren es die Auswirkungen der Strukturkrise einer ganzen Region auf das Privatleben Einzelner. Catherine Njoroge kann sich endlos darüber aufregen, wie gleichmütig – beinahe schadenfroh – Jennys Umfeld damals ihr Verschwinden hinnahm. Die Nachbarn meinten, sie wäre aus der ihr zugeteilten Rolle ausgebrochen, und jeder hatte damals andere Sorgen, als darüber nachzudenken, ob eine Frau ihre Kinder einfach im Stich lässt.


    Fazit
    Die Verknüpfung zeitgeschichtlicher Ereignisse der 80er mit einem ungelösten Altfall gewinnt zusätzlich durch Harveys differenzierte Personenzeichnung (z. B. der Ermittler McBride). Durch die Persönlichkeit des erfahrenen Ermittlers Charlie Resnick vermittelt die Wiederaufnahme des Falls eine sehr ruhige Atmosphäre. Harvey zeigt sich hier als erfolgreicher Serienautor, den ich völlig zu Unrecht bisher übersehen habe.


    10 von 10 Punkten