Schreibwettbewerb April - Juni 2018 - Thema: "Verloren"

  • Thema April - Juni 2018:


    "Verloren"


    Vom 01. April bis 31. Mai 2018 - 18:00 Uhr könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb April/Juni 2018 zu o.g. Thema per Email an schreibwettbewerb@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 1. Juni eingestellt. Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen: Regeln Schreibwettbewerb.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!



    Achtung: Achtet bitte auf die Änderungen! Annahmeschluß ist ab sofort immer am Monatsletzten um 18:00 Uhr.

  • Allein von Serendipity8


    Der Himmel wurde schon langsam dunkel, als Ted die Augen öffnete und stöhnte, als er ein Stechen an der Stirn spürte. Diese Kopfschmerzen waren unerträglich, aber er konnte sich nur noch schemenhaft erinnern, wie er gestürzt war. Verwirrt versuchte er, seine Umgebung deutlicher wahrzunehmen. Irgendwie war sein Körper zu schwach, um sich aufrecht zu setzen, so dass er erstmal beschloss, auf dem Boden liegenzubleiben – aufstehen konnte er sowieso erstmal nicht.


    Der Spielplatz, auf dem er vorhin noch fröhlich herumgetobt war, glich nun einem düsteren Ort. Die leichte Brise des Sommerabends lies die Schaukel, die im Abendlicht ihre feuerrote Farbe gegen ein müdes Grau getauscht hatte, leicht vor- und zurück schwingen. Neben den Bänken, die den Sandkasten umgaben, lagen noch einzelne Taschentücher und Brötchentüten, die entweder von gehetzten Müttern in der Eile, rechtzeitig nach Hause zu kommen, vergessen wurden, oder aus dem überfüllten Mülleimer neben dem Klettergerüst herausgeweht waren. Erst jetzt wurde Ted bewusst, dass er ganz allein war. Keine Pippa, kein Finn, keine Mama. Niemand war zu sehen. Wie hatten sie ihn einfach vergessen können? Und wie sollte er jetzt zu ihnen zurück finden?


    Nein, sagte sich Ted. Mama, Pippa und Finn werden es sicher bald merken. Spätestens, wenn sie aus dem Auto aussteigen oder den Abendessenstisch decken. Schließlich wäre dann ja ein Teller zu viel gedeckt. Auch wenn er noch nicht lange bei seiner neuen Familie wohnte – gerade mal eine Woche – sie würden sich ja wohl erinnern, dass es ein neues Familienmitglied gab. Nur im Auto war er eben immer still gewesen, da konnte er es ihnen sogar verzeihen, dass seine Abwesenheit nicht bemerkt wurde. Er hoffte nur, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit zurückkommen würden – ohne Abendessen könnte er es schließlich ohne Probleme aushalten, aber die Nacht machte ihm Angst. Deswegen war er auch so froh, dass es in seinem neuen Zimmer, das er mit Finn teilte, ein Nachtlicht in Form eines Schmetterlings neben der Tür gab, welches er nachts betrachten konnte.


    Da! War das nicht eine Autotür gewesen? Er war sich ziemlich sicher! Kurz darauf hörte er eilige, schwere Schritte auf dem Kiesweg. Ein Schatten fiel auf ihn und er brauchte ein wenig, um die große Gestalt zu erkennen, die sich über ihn beugte. Seine Rettung war gekommen.


    „Herrje, da bist du ja!“ Papa schien mehr mit sich selbst zu reden und wirkte sehr erleichtert. „Marianne hat gar nicht gemerkt, dass du nicht dabei bist, als sie die Kinder eingepackt hat. Dann hat sie mich von zu Hause im Büro angerufen und ich bin sofort hierher geeilt – Finn kann doch auf gar keinen Fall ohne seinen Teddy einschlafen!“

  • Das Gegenteil von Verloren von R. Bote


    Sie sah verloren aus, allein auf dem Flur vor dem Lehrerzimmer. Das Blut hatte sie abgewaschen, aber der Arm tat ihr immer noch weh, das sah er genau. Es tat ihm leid, sie konnte nichts dafür, dass es ein blöder Tag gewesen war, er hatte die Nerven verloren.


    Sie sah, wie er sich zögernd näherte. Seine Selbstsicherheit war ihm verloren gegangen. Dabei hatte sie sich alles selbst zuzuschreiben: Was hatte sie an seinen Sachen verloren? Sie hatte nur wissen wollen, ob er... Egal, sie hätte es nicht tun dürfen, und dass sie sich verletzt hatte, als er sie geschubst hatte... Er hatte sie überrascht mit seiner Heftigkeit, nur deshalb hatte sie das Gleichgewicht verloren.


    Er war froh, dass sie ihn ansprach und ihm sagte, er sollte sich zu ihr setzen. Sie würde sich nicht über ihn beschweren, versprach sie, sie würde auch zugeben, dass sie ungefragt an seine Sachen gegangen war. Alles andere war einfach Pech gewesen, und noch war nicht alles verloren. Sie glaubte nicht, dass er fliegen würde, sie würde beitragen, was sie konnte, um es zu verhindern.


    „Übrigens, das hast du vorhin verloren“, sagte er. Überrascht nahm sie das Halskettchen, das er ihr hinhielt. Sie musste es selbst abgerissen haben, als sie vergeblich versucht hatte, sich festzuhalten. Er hatte es sogar geschafft, das gerissene Glied zu reparieren. „Und noch was:“, sagte er. „Ich bin ich echt froh, dass ich dich nicht als Freundin verloren hab.“


    „Ich hätte es dir lieber anders gesagt als ausgerechnet so“, sagte sie. „Aber jetzt weißt du es.“ Noch hatte sie die Hoffnung nicht verloren. „Naja, sag‘s wenigstens nicht weiter.“


    Dass er sie nicht lächerlich machen würde, verstand sich von selbst. Selbst wenn sie ihn nicht eigens darum gebeten hätte, hätte er kein Wort darüber verloren. Plötzlich fühlte er sich befreit, und er begriff: Auch wenn es anders ausgesehen hatte, er hatte gar nichts verloren. Im Gegenteil, er hatte etwas gewonnen.

  • Nie darf ich dich verlieren von breumel


    Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sie noch spüren: Die kleine Hand in ihrer, so vertraut. Warm, weich und leicht klebrig von dem Vanilleeis, das Maja halb über die Hand gelaufen war.


    „Jetzt erzählen sie noch einmal genau, was passiert ist.“

    Der Security-Mitarbeiter schaute sie auffordernd an.


    „Ich war mit meiner Tochter im Aufzug. Sie hielt meine Hand. Wir stiegen im zweiten Stock aus. Als wir an dem Schaufenster mit den Spielwaren vorbei liefen, war Majaplötzlich weg und ich konnte sie nicht mehr sehen. Ich weiß nicht, ob sie weggerannt ist oder fortgerissen wurde. Sie ist doch erst vier!“


    Sie versuchte, nicht hysterisch zu klingen, aber ihre Stimme zitterte. Wo war Maja? Sie hatte ihre Tochter verloren, inmitten eines vollen Einkaufszentrums. Die Menschenmassen waren so schon erdrückend, aber heute hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.


    „Wir brauchen eine Personenbeschreibung für die Suchmeldung. Wie groß ist ihre Tochter?“

    „Ungefähr einen Meter.“

    „Welche Haarfarbe?“

    „Dunkelblond.“

    „Und was hat sie an?“

    Sie überlegte. „Dunkelblaue Jeans und ein rosa Sweatshirt. Die Regenjacke habe ich im Auto gelassen.“


    Beim Umsehen zog sich ihr Herz noch mehr zusammen. Jeans, rosa Oberteil, dunkelblond – jedes dritte kleine Mädchen passte auf die Beschreibung.


    „Hatte Maja noch etwas dabei? Eine Einkaufstüte, eine Puppe?“


    Ele! Wie hatte sie nur Ele vergessen können!

    „Ja, sie hatte ihren Stoffelefanten dabei. Ungefähr so groß“, sie hielt ihre Hände auseinander, „grau, mit blauer Hose und rotem Oberteil.“


    Der Mann nickte ihr zu und sprach dann in sein Handy. Kurz darauf hörte sie eine Durchsage: „Die vierjährige Maja wird vermisst. Maja ist einen Meter groß, hat dunkelblonde Haare, trägt Jeans und ein rosa Sweatshirt und hat einen Stoffelefanten bei sich. Wenn sie Maja sehen, bringen sie sie bitte zur Information oder geben dem Kassenpersonal Bescheid.“


    Dann geschah – nichts.


    Nach einigen Minuten näherte sich ein weiterer Sicherheitsdienst-Mitarbeiter. Er hielt etwas in der Hand.


    „Ist dies das Stofftier ihrer Tochter?“

    Sie nickte. Das war Ele– sie hatte diesen Stoffelefanten schon so oft geflickt, dass sie jede Naht kannte.


    „Wir haben ihn im Aufzug gefunden.“

    Panik stieg in ihr auf.Nie würde Maja ihren Ele allein lassen! Es musste etwas passiert sein…


    „Mama!“


    Verwirrt blickte sie auf. Da war Maja! Sie rannte auf sie zu, die kleinen Arme weit ausgestreckt, mit Tränen in den Augen. Die Kassiererin hinter Maja lächelte sie an.


    Stürmisch zog sie ihre Tochter an sich.


    „Wo warst du nur?“

    „Mama, ich habe Ele verloren.“, brach es schluchzend aus Maja heraus. „Da waren die Stofftiere, in dem Schaufenster, und da habe ich gemerkt, dass Ele nicht mehr da ist, und ich bin zurückgerannt zum Aufzug, weil der doch sonst weg ist, aber da war Ele auch nicht, und dann habe ich dich nicht mehr gefunden, und Ele war weg …“


    Mit zitternden Fingern zog sie den Stoffelefanten aus ihrer Handtasche. Überglücklich umarmte Maja ihren Ele, und sie drückte beide ganz fest an sich.


    „Ich darf doch Ele nicht verlieren.“

    „Und ich darf dich doch nie verlieren!“

  • 30 Jahre von Voltaire


    Fast 30 Jahre sind seitdem vergangen – 30 Jahre die wie ein zweites Leben sind; ein Leben das gelebt aber nicht geliebt wurde.

    Ein Leben das keine Gnade kannte, dass die Jahrestage wie bösartige Monster schickte, wahrscheinlich höhnisch grinsend, der Wehrlosigkeit bewusst.

    30 Jahre immer wieder neue Versuche unternommen zu verdrängen, aber die Gummiwand der Erinnerung ließ sich nicht beeindrucken und schleuderte mitleidlos alles wieder in den Ursprung zurück.

    Hoffen auf Hilfe, hoffen auf Trost – das Warten dauert an.

    Ihr Kameraden Bücher habt euer Beste getan, dafür danke ich euch – aber auch eure unzähligen Seiten konnten nur zeitweise lindern, heilen oder gar ersetzen konnten sie nicht. Aber ohne euch wäre ich wohl schon im Nirgendwo.


    Glaube versagt. Erlischt wie eine Kerze die niedergebrannt ist.


    Beim Erwachen immer dieselben Gedanken, dieselben Erinnerungen – derselbe Schmerz – aber ich weiß, dass diese Empfindungen endlich sind; eine Ende ist abzusehen. Zeit zu gehen, dahin wo sie auch ist.

  • Real-Mann von Tante Li


    „Hey, was war los? Warum hast du diese Leute nicht gerettet?“

    „Tut mir echt leid. Ich konnte nicht.“

    „Du konntest nicht! Was soll das heißen?“

    „Ich fürchte, ich habe meine Kräfte verloren.“

    „Wirklich? Etwa alle?“

    „Ja, ich konnte leider gar nichts tun. Noch nicht einmal fliegen – was bisher immer noch das einfachste war.“

    „Verdammt! Wie ist das denn passiert?“

    „Ich bin mir nicht sicher. Ich habe nachgedacht.“

    „Wie nachgedacht? Über deine Kräfte?“

    „Nein, mehr allgemein – über meine Existenz.“

    „Und davon sind deine Kräfte verschwunden?“

    „Irgendwie schon.“

    „Dann denk künftig nicht mehr darüber nach. Die Stadt verlässt sich auf deine Hilfe.“

    „So einfach ist das nicht.“

    „Wie ist es denn?“

    „Es hat etwas mit der Realität zu tun.“

    „Realität? Was soll das sein?“

    „Ich bin mir nicht sicher. Ich habe irgendwie das Gefühl, nicht wirklich zu sein.“

    „So ein Unsinn! Du bist so wirklich wie ich.“

    „Kannst du fliegen?“

    „Nein, aber ich heiße auch nicht Supermann.“

    „Ich muss mir wohl einen neuen Namen suchen – oder es wird mir ein neuer Name gegeben werden.“

    „Keiner will dir einen neuen Namen geben. Wir brauchen dich als Supermann. Das ist deine Existenz.“

    „Nicht, wenn ich darüber nachdenke.“

    „Dann denk nicht nach.“

    „Das funktioniert nicht. Irgendwer will, dass ich darüber nachdenke.“

    „Wer soll das sein?“

    „Einer aus der Realität.“

    „Wieder dieses Wort. Hör auf damit! Das klingt nicht gut. Es macht mir Angst.“

    „Ja, mir auch.“

    „Du musst dich dagegen wehren!“

    „Wie denn?“

    „Darüber solltest du nachdenken. Vergiss die Realität. Was auch immer damit gemeint sein soll. Denk daran, wie du Supermann bleiben kannst.“

    „Vielleicht ist meine Zeit einfach um.“

    „Dieser Gedanke geht in die falsche Richtung.“

    „Die Richtung ist vorbestimmt.“

    „Von wem?“

    „Kann ich nicht sagen.“

    „Was soll das Ganze dann?“

    „Es ist wichtig für den Zeitgewinn.“

    „Zeitgewinn? Wer gewinnt Zeit?“

    „Die Welt.“

    „Also rettest du doch wieder?“

    „Nur ein klein wenig noch.“

    „Wie denn?“

    „In dem ich die Leser wenigstens ein paar Minuten davon abhalte, etwas Böses, Gefährliches oder Klimaschädliches zu tun.“

    „Was!? Welche Leser?“

    „Die Leser dieser Zeilen.“

    „Zeilen? Du redest, als würde hier etwas geschrieben stehen.“

    „Richtig!“

    „Das ist Unsinn. Wir unterhalten uns doch bloß.“

    „Eben – und das ist aufgeschrieben.“

    „Glaube ich nicht.“

    „Nur, weil du dich nicht selber lesen kannst.“

    „Du doch auch nicht.“

    „Ja, aber ich weiß, dass es so ist.“

    „Woher?“

    „Von der Realität her.“

    „Ich verstehe diese Realität nicht.“

    „Das musst du auch nicht. Sie ist sowieso für jeden anders.“

    „Klingt kompliziert.“

    „So ist das Leben.“

    „Leben? Welches Leben?“

    „Das, was die echten Menschen tun.“

    „Echte Menschen? Sind die etwa anders als wir.“

    „Oh ja, sehr viel anders.“

    „Kann ich mir nicht vorstellen.“

    „Du bist eben beschränkt.“

    „Kein Grund gleich beleidigend zu werden. Was kann ich denn dafür, dass nur du das ganze Wissen abbekommen hast.“

    „Stimmt. Aber tröste dich, du bist trotzdem wichtig.“

    „Wofür bin ich denn wichtig?“

    „Für den Dialog.“

  • Verzückter Moment von Marlowe


    Karl saß in seinem Rollstuhl auf der schattigen Terrasse. „Frische Luft ist gesund und die Sonne wirkt auch im Schatten positiv“. Schwester Bärbel sagte immer so Sachen mit einem fröhlichen Kichern und er nickte dann immer.

    In seinem Schoß lagen auf einem Tablett große Fotos, schwarzweiße und farbige. Sie waren auf extrastarken Fotopapier gedruckt, denn manchmal war er versucht, einen Papierflieger zu bauen. Ganz automatisch, ohne nachzudenken. Das hatte immer geklappt. Zum Leidwesen von Schwester Bärbel.

    Den Kopf nach unten gesenkt sah er auf eines der großen Fotos. Zu sehen war darauf ein schönes Haus mit einem großen Vorgarten, in dem Garten stand eine Frau neben einem Baum.

    Sein rechter Zeigefinger fuhr die Konturen des Hauses entlang, dann über den Gartenzaun bis hin zu dem Baum, neben dem die Frau stand. Sie war nicht zu erkennen, so sehr er sich auch bemühte, gerne hätte er den Zeigefinger auf ihr Gesicht gelegt, aber etwas hielt ihn davon ab.

    Nach einer kleinen Weile schob er das Bild zur Seite und betrachtete das nächste.

    Er wurde ganz aufgeregt. Er erkannte das Haus wieder vom ersten Foto, auch wenn es auf diesem hier von einem anderen Blickwinkel her aufgenommen worden war.

    Abwechselnd sah er auf das linke erste, dann wieder auf das zweite Foto rechts. Er nickte, das gleiche Haus, der Garten, der Baum. Aber keine Frau darauf.

    Unwirsch legte er das Foto nach links, auf dem nächsten war nur der Baumstamm mit der Frau zu sehen, die sich an den Baum lehnte.

    Er nahm das Bild in die Hand und hob es näher an seine Augen. Der Mund der Frau lächelte, die Augen blickten ihn direkt an. Noch ein wenig höher sah er nur noch das Gesicht und ihm war, als hörte er ein fröhliches Lachen und die Augen wurden plötzlich lebendig und blitzten ihn an und die leicht geöffneten Lippen wurden immer voller und plötzlich wusste er…

    Bärbels Stimme riss ihn aus dem erkennenden Strudel. „Na Karl, guckst Du wieder Fotos an?“

    Er nickte, wie immer. Eine Träne lief ihm über die Wange, aber er wusste nicht mehr wieso.

  • Seidenfäden von Inkslinger


    Ihr Blick streift mein rechtes Ohr und erfasst jemanden hinter mir. Diesmal hat sie ganze drei Minuten zugehört. Neuer Rekord.


    Paula ist seit zwanzig Jahren meine beste Freundin, aber manchmal wünsche ich mir, ich wäre geselliger. Dann hätte ich vielleicht Freunde, die sich für mich interessieren. Doch es ist halt so, wie der Volksmund sagt: Introvertierte haben keine Freunde, sie werden von einem Extrovertierten adoptiert.


    Paula stört es nicht, dass ich mitten im Satz aufhöre zu reden. Sie nimmt es als willkommenen Einstieg für ihren Auftritt.

    “Der Kellner da hinten ist echt süß! Und der geiert mich die ganze Zeit an.”

    Ich drehe mich um und inspiziere das Gesprächsobjekt. “Der ist nichts für dich.”

    Paula starrt mich an. “Wieso? Denkst du, ich bin nicht hübsch genug? Oder zu fett?!”

    “Er ist viel zu jung.”

    Sie schnalzt empört. “Du bist viel älter als ich-”

    “Drei Monate.”

    “-und vollkommen unscheinbar. Du bist doch nur eifersüchtig!”

    “Bin ich nicht. Das ist mein Cousin Felix. Er ist 17.”

    Paula mustert ihn sehnsüchtig. “Was kriegen die denn heutzutage zu essen? Der sieht aus wie Anfang 20.”

    Ich finde ja, dass das ‘Abi 2019‘-Shirt ein Hinweis hätte sein können, aber anscheinend bin ich nicht die Einzige, die von Paula nicht für voll genommen wird.


    Sie wendet sich vom Kleinen ab und nimmt mich ins Visier. “Ich habe trotzdem Recht. Du könntest mehr aus dir machen. Schminke, ein hübsches Kleid, Ohrlöcher, zwei bis drei Diäten - dann wärst du eine Traumfrau.”

    “Kein Interesse.”

    “Willst du nicht endlich deinen Traumtypen finden?”

    “Hab ich schon.”

    “Ach, stimmt ja. André.”

    “Thorsten.”

    “Dann verschönere dich für ihn.”

    “Ich fühl mich wohl so, und das ist auch gut für ihn.”

    “Schönheit hat doch nichts mit Wohlfühlen zu tun! Es geht ums Auffallen und in Erinnerung bleiben! Und, so lieb ich dich habe, Schätzchen, mit deinem Totenteint und den fetten Augenringen wird das nix.”

    “Ich will auch gar nicht schön sein. Ich wollte nur mit dir reden.”

    “Wir reden doch.”

    “Du redest.”

    “Du hast ja nix zu sagen. Warst doch fertig, oder?”

    “Nein! Ich habe noch viel auf dem Herzen. Es geht mir echt nicht gut. Ich vermisse meinen-”

    “Kellner! Einen Cappuccino! Und zwar pronto!”

    Das reicht. Wortlos stehe ich auf und gehe.

    Paulas Stimme schallt durchs ganze Café. “Hey! Wo willst du hin? Komm zurück!”

    Ich gehe wieder zum Tisch. “Du egoistische, eingebildete Puderquaste! Ich habe keine Ahnung, wie wir zwei Freunde geworden sind, aber ich weiß, wie es endet!”

    “Was ist denn los? Hast du deine Tage oder kannst du die Wahrheit nicht ertragen?”

    “Ich kann dich nicht ertragen! Ich wollte mit dir über den Tod meines Vaters reden und du ziehst wieder nur die Paula-Show ab.”

    “Tut mir leid, dass dein Daddy übern Jordan ist, aber das hat ja nichts mit mir zu tun.”

    “Weißt du, was ab sofort auch nichts mehr mit dir zu tun hat? Ich!”

    Beim Verlassen des Lokals höre ich Paula hinter mir schreien: “Und wer bezahlt jetzt die Rechnung?!”

  • Voll - Endung von churchill


    Sie lieben nur Gedichte, die sich reimen.

    Sobald die Zeilen unerwartet enden,

    die Verse plötzlich ihre Richtung wenden,

    vermuten sie, der Dichter wollt sie leimen.


    Gereimte Verse aber freuen jeden,

    wobei wir reimend große Vielfalt hätten:

    Von Paarreim, Kreuzreim bis zu Kunstsonetten -

    doch was sie wollen, sind nur Büttenreden.


    Drum gilt es, geistreich das Niveau zu wahren,

    die Leser weiter mühsam zu erziehen,

    das habe bei Apollon ich geschworen!


    Verachten will ich jene großen Scharen,

    die jeden Anspruch fürchten, feige fliehen,

    die Kunst der Musen scheint komplett ...

  • Und nun? von sasaornifee


    „Mir geht es nicht gut“, mehr konnte ich nicht sagen. Ein langsames Beben ging durch meinen Körper; von der Mitte nach außen in meine Arme, Hände und Beine. Ich konnte nichts mehr sehen, weil meine Augen mit meinen vielen Tränen verdeckt wurden. Mein Gesicht verzerrte sich, ich heulte kurz laut auf, worüber ich mich selbst erschrak. Es krümmte mich zusammen und ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich hatte Angst. Einfach nur Angst. Ich wurde festgehalten und umarmt. Dann nahm man mich zur Seite. Ich wurde gefragt, was los sei. Aber ich konnte nicht reden. Nur weinen und ein falsches Lächeln zeigen. Wieder wurde ich gedrückt. Schon fast zerdrückt vom fremden Busen. Das war irgendwie lustig und komisch zugleich. Dann wurde ich wieder lieb gefragt, was denn los sei. Ich konnte schließlich etwas sagen. Die Worte „Ich weiß es nicht“ erstickten allerdings unter meinem erneuten Weinen.


    Eigentlich hatte ich Ahnung darüber, was mit mir los war. Nur reden konnte und wollte ich nicht. Es war mir peinlich. Aber ich brauchte dringend Hilfe, das wusste ich. Ich stand mir selbst im Weg. Irgendwie gewollt und nicht gewollt.


    So schlecht ging es mir, dass ich schon zusammenbrach, wenn ich sagte „Mir geht es nicht gut“, wenn es mir gerade nicht gut ging. Es sollte gut tun, sich mitzuteilen. Und dann das. So tief verloren war ich in mir. Schon seit Wochen ging es mir nicht gut. Und irgendwie tat dieses Nicht-gut-gehen wiederum gut. Es fühlte sich so vertraut an. Es gehörte schon sehr lange zu mir. Und als es wieder da war, hielt ich mich daran fest, weil es mich irgendwie tröstete. Es war mir vertraut. Doch gleichzeitig tat es so weh. So weh, dass ich verschwinden wollte. So wie meine Eltern damals. Erst mein Vater, dann meine Mutter, dann wieder mein Vater, dann wieder meine Mutter. Sie waren zwar geblieben. Aber in meinem Kopf verschwanden sie immer wieder.


    Ich saß vor den beiden Personen, die mich zur Seite genommen hatten, und war gefangen in der Vergangenheit. Ich fing dann doch an, etwas davon zu erzählen, um mir selbst zu helfen. Um damit indirekt zu sagen, dass das gleiche mir zurzeit erneut drohte; dass ich manchmal nicht mehr sein wollte. Es war mir peinlich. Und sie taten mir leid, dass sie mir zuhören mussten.


    Ich stimmte der zweiten Person zu, dass man sich für mich an einen Psychiater wandte. Selbst konnte ich es nicht.


    Am Wochenende, nach dem Termin beim Psychiater, ging es mir immer schlechter. Ich wandte mich schließlich widerstrebend an den psychiatrischen Notdienst. Ich ließ mich in der Klinik aufnehmen. Ich hatte verloren.


    Erst später konnte ich erkennen, dass ich eigentlich gewonnen hatte. Ich hatte über mich selbst gesiegt. Als die Hilfe mich gefunden hatte, war ich ihr nachgegangen.


    Verloren war ich trotzdem. Allerdings hatte ich nun Zeit, mich wiederzufinden und auch neu zu entdecken.