Mini-LR: ab 12.04. B. Vanderbeke - Die Frau mit Hund

  • Nachdem die Rezension von Andrea Martini zu diesem Buch so ansprechend war, sind wir schon vier, die mitmachen wollen.
    Da das Buch schmal ist, dazu in angenehm großer Schrift und ohne Kapiteleinteilung, lesen wir es unabhängig voneinander, ohne Einteilung in Kapitel/Abschnitte und tauschen uns anschließend aus. (Sich beim Lesen Notizen zu machen wäre vllt. ganz gut)


    Ich freue mich schon sehr und bin gespannt.


    Start des Austausches: Freitag, 12.04.2013



    Dabei sind bisher:


    Herr Palomar
    ginger ale
    Lesebär
    Andrea Martini

  • Huhu, ihr Lieben :wave


    Da dieses meine erste LR ist, fände ich es gut, wenn jemand Erfahreneres beginnen würde. Auch bin ich viel zu groggy heute Abend und möchte erst mein aktuelles Buch möglichst heute Abend zu Ende lesen, damit ich morgen den Kopf frei habe für Die Frau mit dem Hund.

  • Als ich das Buch vor ein paar Wochen gelesen hatte, war ich zufrieden, da das Buch gut zu lesen und unterhaltsam war und mit jeder Menge Ideen spielte. So etwas finde ich immer reizvoll.


    Wenn ich jetzt aber ein wenig über das Buch nachdenke, schleichen sich auch ein paar Zweifel ein.
    Die Figuren funktionieren nicht alle wirklich gut. Zum Beispiel Jule Tenbrock, am Anfang eine zögerliche Person mit wenig Selbstwertgefühl, die in einer sterilen Umgebung eine scheinbar gesicherte Existenz lebt.
    Immerhin ein interessanter Ansatz, aber die Figur wird zu wenig weiterentwickelt und gerade das hätte ich aufgrund der Handlungsansätze erwartet.
    Erst ganz am Schluß gibt es ein Szenen, die ein Umdenken bei ihr andeuten. Für mein Leseempfinden ist das aber zu verhalten.


    Pola, die Frau mit dem Hund halte ich auch für eine schwach enttwickelte Figur, aber das ist OK, denn sie steht mehr symbolisch für einen Bruch mit dem Leben in einer nur scheinbar gesicherten Welt, die mehr Probleme hat als als ihr bewusst ist.
    Richtig gut fand ich Timon Abramowski, mit dem ich mich sogar identifizieren konnte, zum Beispiel seine Leidenschaft für alte Filme, die ich teile. Er steht damit auch für Werte, die in Birgit Vanderbekes kühl entworfener Welt weniger anerkannt sind. Daher halte ich den Roman für sozialkritisch.


    Birgit Vanderbeke hat sich viel Mühe mit dem Worldbuilding gegeben, das macht nicht jeder Autor. Daher finde ich es schade, dass der Roman so kurz ist. Man hätte noch mehr aus diesem Szenario machen können.

  • Ich schaffe es nicht mehr, heute noch alles zu schreiben, was mir im Kopf herumging, aber ich beginne einfach mal mit ein paar Gedanken.
    Mir ging es während des Lesens so, dass ich fasziniert war von der Sprache, den stark verdichteten Bildern und meine Neugierde war so groß, dass ich mich nur einmal unterbrechen konnte, weil ich Hunger hatte, dann aber weiterlesen musste bis zum Schluss.


    Mir ist einiges in Erinnerung, das mir besonders gut gefallen hat. Die Schlüsselszene, in der Jule Tenbrok Pola und den Hund auf der Treppe vor ihrer Wohnung vorfindet, zeigt in pointierter bildhafter und sinnlicher Form, wie es sich anfühlt, in einem dieser Distrikte in dieser Zukunftswelt zu leben. Ich finde es sehr geschickt, die Angst Jule Tenbroks vor den Gerüchen eines ganz normalen Hundes als Anlass zu nehmen, die Sterilität und Künstlichkeit dieser abgeschirmten Welt zu zeigen. Gut gemacht ist es auch, dass die eher unsympathische Figur Jule Tenbrok uns Lesern zeigt, wie das Leben der registrierten (!) Menschen in den Distrikten aussieht: einsam, sinnentleert, aufgepeppt mit einigen kleinen Gewinnchancen. Wunderbar dieser Sammeltick, der mich an all die Klebe- und Treuepunkte erinnert, mit denen Supermärkten und Getränkehandel usw. versuchen, Kunden an sich zu binden.


    So, das für's Erste. Morgen oder später schreibe ich noch mehr.

  • So, weiter geht's.


    Auch gut gefallen hat mir, dass durch die Erwartung, die anderen Hausbewohner würden den Hunde- und Essensgeruch bemerken, Spannung erzeugt wird - und wie unerwartet das Ganze schließlich endet, hat mir ein breites Grinsen ins Gesicht gezaubert. Damit hätte ich überhaupt nicht gerechnet.


    Sehr schön fand ich, wie Abramowski auf den Hundegeruch ganz anders reagiert, als Jule T. erwartete. Dass er von guten Erinnerungen und Gefühlen durchströmt wird, ist eine Überraschung. In diesem Moment, innerhalb der unangenehmen, öden und angsteinflößenden Atmosphäre, die zuvor deutlich wurde, wirkt dieses Sich-Erinnern sehr warm und erleichternd - ein schöner Effekt, den Birgit Vanderbeke mit ihren Bildern und Szenen in aller Kürze geschaffen hat.
    Sehr gut gelungen finde ich die Art der Behausung, die auf dem Dachboden entsteht. Dass man Prospekte (die mich ungeheuer nerven) so einsetzen kann, dass daraus ein gemütliches kleines Zimmer wird, ist ein mir sehr sympathischer Wink mit dem Zaunpfahl. Man nehme sich, was stört und verwandle es in das, was man braucht.
    Dies zeigt exemplarisch, wie Menschen aus allem, was sie vorfinden, etwas machen können, was in ihrem Sinne ist, wenn sie es nur wagen, ein bisschen Fantasie zu entwickeln und nicht ganz so brav zu sein.
    Insofern sehe ich genau wie Herr Palomar Ähnlichkeiten zu "Das lässt sich ändern".
    Auch sehr gerne mochte ich, wie das Leben draußen, welches ja anfangs in Polas Erinnerungen als bedrohlich und sehr düster auftaucht, immer deutlicher an Farbe gewinnt, wie immer mehr die Möglichkeiten wachsen, sich ein einfaches, aber echtes und lebendiges, natürliches Leben da draußen vorzustellen. Dies beinhaltet den Gedanken, dass kein noch so autoritäres und faschistisches System in der Lage ist, ALLES unter Kontrolle zu bringen.


    Dies besonders im Vergleich zu 1984, in dem die Figuren zwar eine ähnliche Entwicklung durchlaufen, die jedoch in einer so grauenhaften Art zerstört wird, das uns, den Lesern, jede Illusion oder Hoffnung genommen wird. Die Entwicklung, die das Leben der beiden Hauptfiguren Pola und Abramowski nimmt, ist hingegen ermutigend, auch wenn man nicht weiß, ob sie in der Wildnis tatsächlich überleben werden. Zumindest wird aber ihr Leben, selbst wenn es nur kurz und auch hart werden sollte, lebendiger, bunter und aufregender sein als das blutleere Leben der Menschen in den kontrollierten Distrikten, die ja sogar auf chemischem Wege manipuliert und kontrolliert werden.


    Die Figur der Jule Tenbrok finde ich sehr gelungen, weil sie dazu dient, zu zeigen, wie man überangepasste Mitmenschen mit Blockwart-Mentalität auf behutsame, einfache und charmante Art so beeinflussen kann, dass sie "schmelzen", also menschlicher und damit auch wieder lebendiger werden. Dass eine Person wie Jule, die ja völlig von ihren Gefühlen abgeschnitten war, sich darauf einlassen würde, in die risikoreiche Welt außerhalb des Distriktes zu mitzugehen, wäre nicht glaubhaft gewesen. Dass sie aber so viel normal-menschliches Mitgefühl entwickelt, die beiden nicht zu verraten, ist schon großartig und durchaus nachvollziehbar.

  • Viuelen Dank für Deine Eindrücke, ginger ale.
    Einige (viele) teile ich, doch bleibt dennoch ein Zweifel, ob das Buch für mich persönlich wirklich gelungen ist. Irgendwie habe ich es inzwischen auch schon abgehakt. Mal sehen, was von Birgit Vanderbeke als nächstes kommt!

  • Ihr Lieben,


    leider muss ich mich aus der Leserunde ausklinken. Meinen Eindruck kennt ihr ja schon. Es wäre schön gewesen, mich mit euch über eure Eindrücke auszutauschen, aber ich komme einfach nicht dazu, mir die Stellen im Buch noch einmal anzuschauen, über die ihr schreibt, und mich dazu selbst zu äußern.


    Seid bitte nicht enttäuscht. Bei mir häufen sich gerade die Krankenhausgeschichten. Erst mein Mann, am Montag ich selbst. Das wird mir einfach zu viel.


    Euch noch einen fruchtbaren Austausch über die "Frau mit dem Hund".


    Herzliche Grüße,
    Andrea

  • Von Birgit Vanderbeke gibt es, ganz frisch erschienen, einen neuen Roman:


    Der Sommer der Wildschweine


    Hat da schon jemand einen Eindruck zu?
    Ich überlege noch, ob ich es sofort kaufe oder noch warte.



    Kurzbeschreibung:
    Milan und Leo machen Ferien. Zum ersten Mal seit ewig. Durch die Wirtschaftskrise sind sie mit einem blauen Auge gekommen, und allmählich haben sie sich wieder daran gewöhnt, »am Leben zu sein« – eine trügerische Gewohnheit, das wird ihnen im Languedoc bald klar. Die ersten Ferientage verbringen Milan und Leo mit ihren Jobs im Netz. Doch nach einem heftigen Sommergewitter gibt es keins mehr: Der Strom ist weg, das Wasser ist weg, die Straßen sind überflutet. Ein Nachbar versorgt sie mit dem Nötigsten und schickt sie zu einem alten Ehepaar, das ein bisschen Landwirtschaft betreibt und Angorakaninchen züchtet. Ihre Wolle, davon versteht Leo was, ist fantastisch. Man kann nur hoffen, dass die beiden Alten nicht auch von den Wildschweinen heimgesucht werden, die in diesem Sommer die Gegend verwüsten. Scharenweise kommen sie aus den Cevennen bis hinunter in die Dörfer und Gärten. In den Bergen wird nach Schiefergas gebohrt. Und die Tiere sind die ersten, für die das Konsequenzen hat. – Milan und Leo wird klar, dass die Krise, die sie im idyllischen Languedoc hinter sich lassen wollten, noch lange nicht zu Ende ist. Und es stellt sich die Frage, ob sie je in ihr altes Leben zurückkehren werden.