Beiträge von Tom Löwenherz

    Tom
    Habe deinen Bericht mit großem Interesse gelesen. :lesend Dies nicht nur, weil durch deine sehr anschaulichen Schilderungen ganz alltäglicher Dinge in mir eigene Paris-Erfahrungen wachgerufen wurden.
    In einem kleineren Rahmen schreibe ich auch manchmal Erlebnisberichte. Habe deshalb beim Lesen mit einem Auge genau darauf geachtet, was du auf welche Weise herausgestellt hast. :-)


    Bei der Schilderung deines Besuchs in der klebrigen Pizzeria "Marco Polo" habe ich so gedacht: "Hatten die Beiden keine Angst, sich eine Lebensmittelvergiftung zuzuziehen?":uebel
    Wenn ich in Paris bin und aus essen gehen möchte, denke ich als erstes immer an den Louvre. Dort sind auf einer großen Fläche (tja, was soll ich schätzen wieviele es sind?) vielleicht zwanzig verschiedene "Fressstellen", wobei man hier mit Sicherheit auch als Vegetarier gut auf seine Kosten kommt. ;-)

    Zitat

    Original von Tom
    Abgesehen von der sehr hilfreichen Anmerkung, die Verhältnismäßigkeit müsse gewahrt sein, um glaubwürdig zu bleiben, geht es um eine Abwägung zwischen Überspitzung und Originalität - insofern eines von beiden oder gar beides überhaupt nötig ist. Konflikte müssen nicht übergroß oder gar menschheitserschütternd sein, um das Lebensgebäude der Protagonisten zu gefährden. Eine Keule zerschlägt auch viel abseits ihres eigentlichen Ziels. Ein Nadelstich kann viel schmerzhafter ausfallen - ohne Kollateralschaden (z.B. bezogen auf die Glaubwürdigkeit der Geschichte) zu erzeugen.


    Aber der Fiktionsraum, den ein Roman bietet, verdichtet auch, weshalb man nicht versuchen sollte, zu authentisch zu werden - das wird nämlich schnell langweilig. Die richtige Dosierung macht's. Und die hat man im Gefühl - oder eben nicht. Originalität ist gut, fast zwingend.


    Danke für deine aufschlussreichen Ausführungen.


    Wie siehst du diesbezüglich Fjodor M. Dostojewsky? Nehmen wir einmal an, er würde seine Romane heute schreiben. Würde seine geniale Einfühlungsfähigkeit kombiniert mit der ebenso genialen Gabe, die Gefühlslage seiner Protagonisten in Worte zu kleiden, in der heutigen Zeit ausreichen für einen guten Roman? Wäre ein Roman wie "Der Idiot" in einer Zeit, in der wir mit Fernsehfilmen überflutet werden, in denen ganz ähnliche Konflikte dargestellt werden, überhaupt noch etwas, das die Leute vom Hocker reißt? Oder müsste man sich da von Vornherein Gedanken machen, wie man einen solchen Roman aufpeppen kann, damit er von potentiellen Lesern angenommen wird?

    Danke an alle für die aufschlussreichen Antworten.


    Googol
    Sehr interessant,die Überlegungen Ian McEwan´s in Verbindung mit seinem Roman "Liebeswahn" zu lesen.Dieses Beispiel geht schon sehr genau in die Richtung, in welche meine Frage abzielte...


    agu
    Was du ausführst, klingt vernünftig, ist gut nachzuvollziehen und entspricht auch meinen persönlichen Erwartungen an einen guten Roman (obwohl ich es nicht so gut auf den Punkt hätte bringen können wie du).
    Klar, ich stimme dem zu, aber tun potentielle Leser das auch?
    Etwas unsicher wurde ich, nachdem ich am Wochenende an meinem Roman geschrieben habe und mir kurz darauf im Fernsehen Doku-Soaps angeschaut habe (Mitten im Leben, Verdachtsfälle, Familien im Brennpunkt, usw, auf RTL). In meiner dialoglastigen Erzählung streiten sich die Protagonisten nur, in den Doku-Soaps werden sie fast immer handgreiflich. Die Handlung bekommt dort eine im realen Leben eher unwahrscheinliche Richtung,die dann auch noch auf die Spitze getrieben wird.
    Zudem kam mir ein Beitrag aus einer Leserunde (3096 Tage von Natascha Kampusch) in den Sinn, in dem eine Userin schrieb, dass in den einleitenden Kapiteln für ihren Geschmack zu viel Alltägliches geschrieben worden ist...

    Zitat

    Original von tweedy39
    Was hätte der Außerirdische in diesem Konflikt zu suchen?


    Das ist es eben. Gar nichts hätte er in diesem Konflikt zu suchen. Das Beispiel war natürlich etwas überzogen. Aber in vielen Romanen und besonders in vielen amerikanischen Filmen bemerkt man überspitzte oder gar völlig unrealistische Elemente, die in eine Geschichte eingebaut sind, in der es um so etwas Alltägliches, wie einen Vater/Sohn-Konflikt geht. Anscheinend wollen sehr viele Leute so gerade so etwas lesen, bzw, sich ansehen...


    Wenn ich mir da angucke, was ich so schreibe, kommt mir das im Vergleich fast etwas bieder oder langweilig vor. In meiner Geschichte streiten sich die Leute, verprügeln sich aber nicht. Haut es aber heutzutage noch irgendwem vom Hocker, wenn man ganz auf Zuspitzungen oder effekthascherische Bestandteile verzichtet (selbst wenn die Geschichte interessant und mit Tiefgang geschrieben wäre)?

    Hallo liebe Autoren und andere Büchereulen!


    Würde gerne etwas eure Erfahrung anzapfen.Was kommt beim Leser besser an: Etwas Alltägliches so authentisch wie möglich mit allen Gefühlen, Reflektionen und Schwierigkeiten der Protagonisten, zu erzählen oder dieses Alltägliche aufzupeppen, bzw. auf die Spitze zu treiben?
    Ein Beispiel: Es geht um einen Vater/Sohn-Konflikt, der sich bei einer Party in einem heftigenStreit entlädt. Käme es da besser an, wenn sich die beiden Protagonisten an die Gurgel gingen, einer dabei vielleicht krankenhausreif verletzt würde (oder wenn man es bis zum Äußersten treiben wollte, dass einer sogar stirbt) oder käme es besser an, wenn ich es - weil ich peinlich genau die Authenzität der Erzählung im Sinn behalte - bei einem heftigen Wortgefecht belassen würde?
    Würde ich diesselbe Geschichte der Wirkung wegen besser mit einem Transsexuellen (oder einem Außerirdischem?)aufpeppen oder der Authenzität wegen bewusst darauf verzichten?


    Klar, dass es immer etwas auf die einzelne Geschichte ankommt. Aber habt ihr den Kern von dem, was ich gerne wissen möchte, verstanden? Würdet ihr sagen, dass man es grundsätzlich mit alltäglichen Geschichten, die naturgetreu wiedergegeben werden, schwieriger hat, oder sind sie gerade weil der Leser sich damit identifizieren kann, sogar interessanter als aufgepeppte Erzählungen? Was sind eure Erfahrungen?

    Habe am Wochenende im n-tv Videotext gelesen, dass die Arbeiten an dem Film über die Entführung Natascha Kampuschs, fortgesetzt werden. Nach dem Tod des Produzenten Bernd Eichhinger am 24.1. war ja zunächst unklar, ob das Projekt wie geplant umgesetzt wird...

    Weil Natascha so extremen Belastungen ausgesetzt war, habe ich mich auch gefragt, ob ein Mensch sowas überstehen kann, ohne Schäden davonzutragen.


    Was man auf jeden Fall sagen kann: Sie geht äußerst reflektiert mit ihrer Vergangenheit um (ich glaube nicht, dass ich jede Situation, die ich persönlich durchlebt habe, im Nachhinein so gut durchleuchten könnte), scheint eine gute psychologische Betreuung an ihrer Seite gehabt zu haben.

    Zitat

    Original von melanie
    Und doch distanziert sich mein Verstand davon und sieht es irgendwie als "Geschichte". Ich weiß nicht wie ich es erklärten soll, es soll auch keine Abwertung sein.


    Das liegt vielleicht auch daran, dass wir schon beim Lesen den glimpflichen Ausgang der Geschichte im Hinterkopf haben. Man muss sich klar machen, dass es alles andere als selbstverständlich war, dass Natascha aus dieser Nummer noch mal rausgekommen ist...


    ...wobei natürlich die Frage bleibt, ob die Polizei - wenn sie der entscheidenden Zeugenaussage sorgfältig nachgegangen wäre - das Verlies mit Natascha entdeckt hätte...

    Beatrix
    Hervorragend geschriebene Rezension der "3096 Tage".
    Wollte mich auch gerade drangeben, hätte das aber nicht so gut hinbekommen wie du.


    Finde nicht unbedingt, dass man den Text hätte editieren sollen, um Längen und Wiederholungen zu vermeiden. Auf Anhieb fielen mir auch keine überflüssige Stellen ein.


    Zu Nataschas Bewertung des Menschen Wolfgang Prikopil möchte ich folgendes anmerken:
    Ein Hauptgrund dafür, dass Natascha mein Interesse auf sich gezogen hat, war ihre differenzierte Darstellung des Täters und ihres Verhältnisses zu ihm - dass sie eben der vorgegebenen Schwarzweiß-Sichtweise, welche man von einem Opfer dem Täter gegenüber erwartet, nicht entsprochen hat. Das war stark, Natascha!
    Dennoch bin ich von dem überzeugt, was der Psychoanalytiker Arno Gruen ("Der Verrat am Selbst" und "Der Wahnsinn der Normalität", erschienen bei dtv) über Psychopathen wie Prikopil ausführt. Ganz knapp zusammengefasst räumt er ein, dass die Anlage zu Mitgefühl, Liebe, Empathie usw, in jedem Menschen vorhanden ist. Durch frühkindliche Fehlentwicklungen entwickeln sich manche aber zu einer nichtauthentischen "Persönlichkeit" ohne inneren Kern, welche echte zwischenmenschliche Gefühle in extremer Weise abspalten und verdrängen muss. Dieser Zwang, Dinge zu verdrängen, führt dazu, dass sich selber und anderen "angemessene" Gefühle vorgespielt werden, welche gar nicht vorhanden sind.
    In diesem Sinne sehe ich die "zwischenmenschlichen Gefühle", die Natascha manchmal bei Wolfgang Prikopil festzustellen glaubte, eher als unecht an, als psychologisches Manöver des Täters, um frühkindliche Fehlentwicklungen von seinem Bewusstsein fern zu halten und sich selber als Mensch mit angemessenen Gefühlen wahrnehmen zu können.
    Sehr gut kann man in den "3096 Tagen" auch erkennen, wie sich der Selbsthass, der in einem solchen Menschen latent vorhanden ist, steigert, wenn er durch ein im buchstäblichen Sinne hilfloses, misshandeltes Opfer (Natascha) mit dem Spiegelbild des Opfers, das er selber ist, konfrontiert wird.


    Das sind nur mal zwei Punkte herausgegriffen, weswegen ich Beatrix´ Fazit zustimme: Ein besonderes psychologisches Lehrbuch, wenn man so will, und eins das wirklich sehr empfehlenswert ist.

    Zitat

    Original von Lesehest


    Ja, das hat mir auch gut gefallen. Die faktischen Berichte machen es dem Leser leichter, alles im Kontext zu sehen.


    Mir ist auch aufgefallen, wie gut das Buch geschrieben ist. Fand es auch sinnvoll, die faktischen Berichte einzuschieben. Der erste Gedanke, der mir kam: Merkt man nicht spätestens bei diesen eingeschobenen faktischen Berichten, dass die Schreibhilfe, die Natascha zur Seite stand, großen Anteil an den "3096 Tagen" hatte? Dann habe ich weiter überlegt und mir kam in den Sinn, wie präzise Natascha ihre Erlebnisse in den Talkshows (Beckmann, Markus Lanz) artikuliert hat...

    Zitat

    Original von ladystyle
    Mal ne Frage an alle welche Stelle des Buches hat auch am meisten gefallen oder eher schockiert? Würde mich sehr interessieren was ihr dazu denkt.


    Am Bewegendsten ist für mich die Stelle, an der sie ihre Flucht beschreibt; als sie blitzschnell entscheiden muss, in welche Richtung sie am besten läuft (wo sind Menschen, Bahnlinie, S.263); als sie dann die drei Menschen auf der Straße anspricht und von ihnen nicht die gewünschte schnelle Hilfe bekommt (S.264); als sie von Garten zu Garten läuft und es eine gefühlte Ewigkeit, nicht schafft, auch nur einen Menschen an die Türe zu bekommen.
    Die Situation war auf des Messers Schneide, es bestand kein Grund für die sichere Annahme,dass ihre Flucht erfolgreich beendet werden würde. Die Tragweite, wie diese Minuten enden würden, war einfach immens hoch.
    Was für ein Glück, dass es ein Happyend gab!

    Das stimmt schon so wie du das schreibst, Beatrix. Was mich nur anspricht, ist, wie präzise sie artikulieren kann, wie sie als Kind gefühlt hat. Es wirkt kein bißchen idealisiert oder verdrängt, wenn sie über ihre Lebensjahre bis 10 schreibt. Ich hätte das Buch von Nataschas Kinder- und Jugendzeit auch dann gerne weiter gelesen, wenn da keine Entführung stattgefunden hätte.

    Kann das natürlich nicht gänzlich ausschließen, gehe aber davon aus, dass keine sexuellen Übergriffe stattgefunden haben (wenn das Nackt-in-seiner- Gegenwart-sich-bewegen-müssen nicht bereits als ein solcher anzusehen ist) . Einige typische Symptome von Missbrauchsopfern fehlen meiner Meinung nach bei ihr.

    Jedenfalls sind mir die Momente, in denen sie kurz mit Dritten in Berührung gekommen ist (Baumarkt/Polizeikontrolle/ Toilette beim Skifahren) sehr, sehr nahe gegangen. Sie musste ja nach jeder dieser Gelegenheiten davon ausgehen, dass sich so eine Chance nie wieder ergibt. Und der Täter war ja unberechenbar, es hätte im Alltag jederzeit leicht etwas passieren können, das den Tod für Natascha bedeutet hätte.
    Es ist mir emotional sehr nahe gegangen, als sie die Frau auf der Toilette angesprochen hatte, und es nur an der Sprache lag, dass sie sich ihr nicht mitteilen konnte...oder bei der Polizeikontrolle...Mann o Mann...

    Ja Juli und Lesehest, das ist so wie ihr schreibt. In das, was Natascha mitmachen musste, kann man sich als Außenstehender nicht richtig reinversetzen.


    Versuche, wenn ich das lese, anhand von eigenen Erlebnissen wenigstens im Ansatz nachzuempfinden, wie das für Natascha gewesen sein könnte. Natürlich habe ich da nicht viel zu bieten. Kann mich daran erinnern, dass ich mal mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus lag, ein paar Tage nur still liegen durfte. Ich durfte nicht lesen, es gab keinen Fernseher. Daher weiß ich: Ein paar Tage nur liegen und nichts anderes machen können, ist sehr unangenehm,eine echte Geduldsprobe.


    Aber das ist auch schon alles, was ich diesbezüglich aus eigener Erfahrung nachempfinden kann. Das Krankenzimmer war nicht beklemmend klein, es wurde kein Licht ausgeschaltet, das ich nicht wieder einschalten konnte, es waren nur ein paar Tage in diesem Krankenhaus, ich wusste genau, dass ich in kurzer Zeit wieder entlassen werden würde, ich brauchte keine Angst zu haben, dass man mich im Zimmer vergessen würde...