Beiträge von rumble-bee

    Biographien gehören für mich mit zu den am schwersten zu rezensierenden Büchern. Denn man bewegt sich auf einem unglaublich schmalen Grat, wenn man über solche Bücher spricht. Gefallen sie einem, liegt das nicht selten daran, dass die Person schlicht ein interessantes Leben geführt hat. Da kann der Schreibstil noch so flüchtig oder stümperhaft sein. Gefallen sie einem nicht, gilt im Umkehrschluss ähnliches.


    Bei Hannelore Elsner wird die Lage zusätzlich dadurch kompliziert, dass ich sie schon vor dem Lesen des Buches als Person und Schauspielerin sehr mochte. Ich musste mich sehr anstrengen, das Buch wirklich "als Buch" zu lesen, um zu wissen, ob es nun ein gutes Buch ist oder nicht. Damit ich mich sachlich dazu äußern kann. Sagen wir es vorneweg mal so: Ich habe es, auch "als Buch", gerne gelesen, habe Stil und Wärme genossen. Dennoch verleihe ich "nur" vier Sterne, weil ich mich eben auch zu sagen traue, dass mir einige Dinge aufgefallen sind, die ich mir als Leser anders gewünscht hätte.


    Ich habe es so empfunden, dass das Buch im wesentlichen in zwei Teile zerfällt. Oder anders gesagt, dass sich die Schreibweise nach der Hälfte ändert. Kindheit und Jugend, bis hin zu den ersten Rollen in Filmen, empfand ich als ein "organisches Ganzes". Die Autorin vermittelt hier ein kontinuierlich gewachsenes Bild ihrer selbst. Alles strahlt eine unmittelbare Sinnlichkeit und Freude am Leben aus, und einen starken Bezug zu "ihren" Menschen, wie sie selber auch sagt. Natur, Klosterschule, Verlusterfahrungen, Einsamkeit - durch diese ganze Zeit hindurch blieb sie doch "sie selbst", und entwickelte ihre Persönlichkeit.


    Mehr oder weniger durch Zufall wurde sie Schauspielschülerin, und bekam ihre ersten Rollen. Die sie im Prinzip auch nur annahm, um erstmal was zu verdienen. Und genau hier beginnt die erzählerische Kontinuität zu bröckeln. Sie erklärt eigentlich nie genau, warum sie nun doch Schauspielerin blieb. Es werden einfach nur noch bekannte Rollen aufgezählt, Filme, Projekte. Und wichtige Menschen, die ihr begegneten, und die wichtig für ihre Karriere waren. Spätestens mit der Geburt ihres Sohnes wird das Buch dann nur noch anekdotisch, und das fand ich halt schade.


    Sicher ist es schwierig, "alles" aus einem Leben zu erzählen - ja wenn nicht gar unmöglich. Dennoch, ich fand, sie hat ab der Mitte des Buches nur noch Rosinen herausgepickt, und jeweils ein wenig kommentiert. Besonders bei ihren Männergeschichten hatte ich den Eindruck, dass sie viel weggelassen hat, vieles nur angerissen. Das mag natürlich auch daran liegen, dass ich persönlich grundsätzlich andere Vorstellungen habe, was "Beziehungen" angeht. Aber merkwürdig ist es schon: Männer, mit denen sie eine lebenslange Freundschaft verband oder verbindet, werden ausführlich porträtiert, wohingegen diejenigen, mit denen sie sogar verheiratet war, nur am Rande erscheinen. Und der Vater ihres Sohnes, der Regisseur Dieter Wedel, wird sogar beinahe vollkommen verheimlicht. Nur in gefühlten zwei Sätzen taucht er auf. Namentlich sogar nur ein einziges Mal, ich habe gezählt! Nun, und es wird erlaubt sein, sich darüber zu wundern.


    Mir fiel auch auf, dass die Kapitel über ihre späteren Rollen im Prinzip nur für diejenigen Leser wirklich verständlich sind, die Hannelore Elsner in diesen Rollen auch gesehen haben. Jemandem, der sie als "Die Unberührbare" oder als Gräfin Rostova in "Krieg und Frieden" nie gesehen hat, wird nicht wirklich erklärt, worum es in diesen Rollen eigentlich geht, wie sie an die Rollen kam, wer diese Personen waren. Das muss man sich alles aus dem Kontext zusammenreimen. Ein Film-Lexikon ist dieser Teil des Buches also sicher nicht! Es wirkt eher wie Auszüge aus ihrem persönlichen Tagebuch. Und als vollkommen verquast und vergeistigt empfand ich schließlich ein Gespräch, ein Interview, das gegen Ende des Buches wiedergegeben wird, und das sie mit ihrer persönlichen Assistentin über ihr Herangehen an die Schauspielerei führte. Das kann man getrost weglassen, und verpasst nichts wesentliches.

    Ich verleihe dennoch ein "Gut". Und das liegt einfach an der Sprache, und an der Persönlichkeit, die durch diese Zeilen hindurchschimmert. Authentisch wirkt das, was sie da von sich gibt, allemal, stilistisch sehr ansprechend, und durch und durch sinnlich. Halt nur gegen Ende recht "auszugsweise". Als echter Fan kann man bedenkenlos zu diesem Buch greifen. Als Laie, der sich über die Person Hannelore Elsner grundsätzlich informieren möchte, nur bedingt.

    Dies ist ein Buch, von dem ich nicht sagen kann, ich hätte es "durchgelesen". Klingt merkwürdig? Nein, ist nur logisch. Denn dieses Buch versteht sich selbst ja nicht als ein in sich geschlossenes Etwas, sondern eher als eine (längst überfällige) und eher kompakt ausgerichtete Einführung. Man soll nicht aus der Lektüre hervorgehen und denken, "nun wüsste man endlich Bescheid". Nein, dieses Buch öffnet lauter Türen, hinter denen oft genug weitere Fragen lauern.


    Viele haben schon von etlichen Einzelaspekten chinesischer Kultur, Medizin oder Weltanschauung gehört. Qi-Gong, Tai-Chi, chinesische Medizin, die Verehrung von Weisen, ruhige Unerschütterlichkeit - all das mag einem schon begegnet sein. Aber nur in den seltensten Fällen wird man wissen, dass dahinter tatsächlich etwas viel Umfassenderes steht. Chinesen sind nicht einfach nur "anders", sondern ihre Weltsicht ist über die Jahrtausende hinweg gewachsen, und fußt auf einem Glaubenssystem, das bis heute lebendig erhalten und in zahlreichem Schrifttum verehrt wird. Denn der Daoismus ist neben dem Konfuzianismus und dem Buddhismus eine der drei Säulen chinesischer Religiosität.


    Martina Darga ist Sinologin, und hat sich mit diesem Buch vorgenommen, dem interessierten Leser die Augen zu öffnen, und ihm den weiten Horizont, der sich hinter dem im Westen noch viel zu unbekannten Wort "Daoismus" verbirgt, zumindest zu zeigen- wenngleich auch nicht in allen Ansätzen zu "erklären". Denn einerseits ist es ein Kennzeichen dieser uralten Weisheitstradition, dass sie sich eben nicht handlich "erklären" lässt. Man lebt sie, man praktiziert sie. Andererseits hat der Daoismus nicht die eine Wurzel, oder den einen heiligen Text zur Grundlage, wie das Christentum beispielsweise. Der Daoismus schöpft aus einer Vielzahl von Quellen und Autoren, deren wichtigste Vertreter in diesem Buch zu Wort kommen.


    In einem Vorwort, geschrieben von einem berühmten praktizierenden Daoisten und Weisen, und in einer Einführung der Autorin wird der Leser auf genau diese Sachverhalte hingewiesen. Er wird vorbereitet darauf, dass er sich mit diesem Buch intensiv wird beschäftigen müssen, und dass es ihm nicht abgenommen wird, sich bei Interesse und weiteren Fragen an der beigefügten Literaturliste und einem Sachverzeichnis "entlangzuarbeiten".


    Es folgen drei große Abschnitte, die beinahe schon chinesisch betitelt sind: "Die Welt", "Der Mensch", und "Der Mensch in der Welt". Hier werden eine Fülle an teils durchaus praktischen Themen behandelt, wie eben Weltsicht, die Sicht des Körpers, religiöse Praktiken und Riten, oder die Einstellung zu Leben und Tod. Jeder dieser drei ist gleich strukturiert: Zuerst fasst die Autorin in leicht lesbarer und doch poetisch angehauchter Sprache, gut portioniert, das Wesentliche zusammen, und verschweigt dabei weder abweichende Ansichten, noch Querverweise. Daran schließen sich ausführliche Auszüge aus den verschiedensten, teils weltberühmten Werken chinesischer Weisheit an. Das ist eben nicht nur das "Tao-Te-King", sondern z.B. auch das "Zhuangzi" ("Meister Zhuang"), das "Neiye" ("Inneres Arbeiten") oder das "Neiguan Jing" (wunderschön: "die Schrift der Innenschau"!). Besonders gelungen finde ich, dass die Literaturauszüge auf grauem Papier gedruckt wurden, ein sanfter, unaufdringlicher Farbton, der sich dennoch vom Rest des Buches in normalem Buch-Weiß abhebt! Eine große Hilfe ist auch das Lesebändchen.


    Ich mag mich nun nicht in inhaltlichen Einzelheiten verlieren. Denn, wie bereits oben gesagt, wirkt das Buch in mir noch nach. Ich werde sicherlich noch öfters dazu greifen. Ich möchte nur kurz anmerken, dass mich der Inhalt sehr berührt und "wachgerüttelt" hat. Mir ist klargeworden, dass Chinesen eben keine "kulturlosen Barbaren" sind, für die sie seit Mao leider allzu oft gehalten werden. Nein, der Daoismus ist eine ganz umfassende Weltsicht, die dem Einzelnen, so er sie denn ernst nimmt, eine Menge an Selbstdisziplin, aber auch an ruhiger Hinnahme abverlangt. Sicher mag das manche moderne Entwicklungen begünstigt haben - so mancher Schuss ist im modernen China ja leider nach hinten losgegangen. Aber in seinem Kern, seiner Absicht, ist Daoismus, ganz wie der Buddhismus auch, darauf ausgerichtet, den Einzelnen zu persönlicher Vervollkommnung und zur Harmonie mit dem Weltall zu führen. Daoismus ist nichts, was man, wie leider häufig den christlichen Kirchgang, an einem bestimmten Wochentag "abhakt". Daoismus zielt darauf ab, die ganze Person zu wandeln. Und das bedeutet in erster Linie Arbeit an sich selbst.


    Dies ist ein wunderschönes Buch, auch von der Aufmachung her, was ich einmal ausdrücklich betonen möchte! Allerdings ist es wohl nicht für jeden Leser gleichermaßen geeignet. Es hilft sicherlich, sich ein wenig mit China befasst zu haben. Oder mit asiatischer Religion überhaupt. Und man darf keine dieser ach so typisch westlichen Haltungen haben, wie etwa "erklär mir China in 200 Seiten". Das kann nur schiefgehen. ist man jedoch offen für einen Einblick in eine faszinierende Gedankenwelt, dann ist dieses Buch eine wahre Offenbarung.

    Ja, ich kann verstehen, warum dieses Buch zum Klassiker wurde. Und ja, ich weiß jetzt auch, warum es Eingang in das "Buch der 1000 Bücher " gefunden hat. Und ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viel Arbeit der Autor in dieses Buch gesteckt haben muss, damit es sich auch tatsächlich wie ein Roman liest, und nicht wie eine Reportage - die es ja eigentlich ist. Aber gefällt es mir auch? Habe ich es gerne gelesen? Das ist für mich schwierig zu beantworten.


    Mein Unbehagen rührt wohl daher, dass zwei Leser-Herzen in meiner Brust schlagen. Einerseits halte ich mich schon für ziemlich analytisch, und erfahren im Deuten literarischer Stilmittel. Andererseits bin ich aber auch ein Kind meiner Zeit, und kann nicht leugnen, dass ich von Romanen, zumal solchen, in denen es um Verbrechen geht, eben auch Unterhaltung und einen gefälligen Stil erwarte. Doch dieser heute ach so moderne Aspekt der Unterhaltung durch "Crime" wird dem Leser dieses Buches von Truman Capote konsequent verwehrt. Er hat sein Projekt wohl vordergründig als literarische Herausforderung verstanden, und weniger als ein Buch, das sich auch an Leser richtet.


    Das sieht man schon daran, dass der Autor im ganzen Buch als solcher nicht zu erkennen ist. Nur durch den Klappentext und ein recht dünnes Vorwort erfährt der Leser, dass sich Capote Mitte des letzten Jahrhunderts auf nach Kansas machte, um zwei Schwerverbrecher zu interviewen, und den Tathergang eines Vierfachmordes zu rekonstruieren. Doch an keiner einzigen Stelle im eigentlichen Text erfährt man, wie lange, wann und wo Capote an dem Text gearbeitet und gefeilt hat. Wann - und ob - er persönlich die Täter traf, wer wann was aussagte, in welchen Archiven er stöberte, welche Einheimischen er kennenlernte. Nichts von alledem. Nicht ein einziges "ich". Insofern hat Capote hier eine perfekte Illusion geschaffen - er hat eine ganze Kleinstadt, und den Schrecken, der dort herrschte, wiederauferstehen lassen.


    Dabei muss ich schon zugeben, dass sich manches arg in die Länge zog. Das Buch ist in vier Abschnitte unterteilt, wovon ich nur den allerersten, "die sie als Letzte sahen", wirklich spannend nennen würde. Hier wird, zwar in epischer Breite, aber sehr detailgetreu, der letzte Tag der Familie Clutter nacherzählt. Dieser Tag ist natürlich auch ein Tag im Leben der beiden späteren Täter, Richard Eugene Hickock, genannt Dick, und Perry Smith, zwei ehemaligen Sträflingen. Beide "Tage" werden abwechselnd erzählt und miteinander verschränkt, und so ergibt sich ein dramatischer, weil unaufhaltsam wirkender Eindruck. Man bekommt hier außerdem einen außerordentlich lebendigen Eindruck einer Kleinstadt im Mittelwesten.


    Doch die folgenden drei Teile, "Täter unbekannt", "Antwort" und "Die Ecke" sind dann im Wesentlichen nur noch Porträt. Für das heutige Verständnis dessen, was einen "Roman" ausmacht, hätte man da sicher einiges raffen können. Sicher ist das kunstvoll gemacht, wie der Leser sozusagen in die Tage "danach" eintaucht, und wie er an der Hysterie eines ganzen Landstriches teilnimmt. Sehr im Gedächtnis geblieben sind mir zum Beispiel diverse Thekengespräche! Doch das waren seltene Glanzlichter.


    Ich wurde den Verdacht teilweise nicht los, Capote habe Mitleid für die Täter erwecken wollen. Wirklich jedes noch so kleine Manöver, jede Station ihrer Flucht und Reise durch die USA und Mexiko, ihre Querelen untereinander, sowie ihre jeweilige Kindheit und Jugend werden - ich muss es leider so sagen - vor dem Leser ausgewalzt. Man muss schon viel Wohlwollen mitbringen, um das noch als spannend zu bezeichnen. Erst im allerletzten Abschnitt entwickelt sich wieder so etwas wie Dramatik, als nämlich die Hinrichtung über Jahre hinweg immer wieder aufgeschoben wird. Und auch die Haftbedingungen im Todestrakt spielen eine gewisse Rolle, sowie die Reaktion der Öffentlichkeit.


    Wenn ich nun doch nur eine mittlere Wertung verleihe, soll das aber keine Abwertung bedeuten. Ich lüfte durchaus meinen Hut vor den schriftstellerischen Fähigkeiten des Autors, vor seiner Kunst. Vor seiner Fähigkeit, sich über Jahre in ein Projekt zu werfen, und sich dann am Ende im Text völlig zurückzunehmen. Vor seiner Menschenkenntnis, und vor seinem Blick für emotionale Details. Nur ist mir diese Vorgehensweise für die Schilderung eines grausamen Verbrechens wohl einfach zu fremd. Einem hartgesottenen Krimileser würde ich das Buch jedenfalls nicht empfehlen.

    Dies ist für mich ein Buch, nein, ein Lese-Erlebnis gewesen, dass sämtliche Schubladen und Kategorien sprengte, in die ich es gerne gesteckt hätte. Es hat in meinem „Oberstübchen“ gründlich für Unruhe gesorgt – etliche Fenster wurden zum Lüften aufgerissen, und Vorstellungs-Gerümpel kam zum Vorschein, dass ich schon längst vergessen hatte. Ich bleibe ein wenig baff, aber dennoch bereichert zurück; und ich schließe auch nicht aus, dass ich dieses Buch, zwecks tieferen Verständnisses, irgendwann ein zweites Mal lesen werde.


    Woran liegt das? Zum Teil schon daran, dass das Buch formal unglaublich „eigen“ ist, und zwar im positiven Sinne. Bis zur Hälfte hätte ich es gar nicht als „Thriller“ bezeichnet, sondern eher als gesellschaftspolitischen Roman. Das moderne Berlin mitsamt all seinen Bevölkerungsschichten, Vierteln und eben auch Problemen wird unglaublich plastisch zum Leben erweckt, was eine mehr als nur hübsche Kulisse für die Handlung abgibt. Die startet ab der Mitte dann so richtig durch: hier geschieht das im Klappentext angekündigte Attentat auf einen muslimischen Abgeordneten der „Grünen“. Etliche Personen, die mit dem Opfer zu tun hatten, werden durch dieses schockierende Ereignis aus ihrem emotionalen Winterschlaf gerissen, und machen sich daran, der Sache nachzugehen.


    Doch auch im zweiten Teil des Buches, den ich dann wirklich als „Thriller“ bezeichnen würde, wird die epische und romanhafte Qualität der ersten Hälfte beibehalten. Keine einzige Figur wird aus den Augen verloren, jeder spielt irgendeine Rolle in diesem undurchsichtigen Spiel. Sei es der muslimische Betreiber eines Internet-Cafés, sei es ein missratener Jugendlicher, sei es ein Personenschützer, seien es die Journalisten, die Büro-Angestellten des Opfers, WG-Mitglieder… Es tauchen unglaublich viele Personen auf, doch der Autor behandelt sie sorgfältig, und gestaltet das Buch so, dass man es auch als reinen Roman noch mit Genuss lesen könnte.


    Als besonderer Pluspunkt muss unbedingt die authentische Atmosphäre sämtlicher geschilderter Milieus angeführt werden. Der Autor muss Jahre für dieses Buch recherchiert haben – anders ist mir nicht erklärlich, wie er sowohl die Vorgänge in einer Zeitungsredaktion, einem Abgeordnetenbüro, einer Polizeibehörde und in der muslimischen Gemeinde derart lebensnah und überzeugend schildern konnte.


    Was mich jedoch vollends überzeugt und begeistert hat, ist die Tatsache, dass es zwar eine Aufklärung gibt – aber keine Beweise, keine überführten Verbrecher, keine Schubladen, kein Gut und kein Böse, kein Schwarz und kein Weiß. Als Leser hat man es wirklich schwer, auf wessen Seite man sich schlagen soll. Ich persönlich habe mir neu überlegen müssen, was für mich eigentlich „radikal“ bedeutet. Kann man das überhaupt so sagen? Nach der Lektüre dieses Buches bin ich eher geneigt zu sagen, dass Radikalität auch ein Phänomen ist, das „gemacht“ und herbeigeredet wird. Manche Leute brauchen scheinbar einfach Feindbilder, in die sie ihre überschüssigen emotionalen Energien investieren können. Wohlgemerkt, ich will Anschläge und Terroristen nicht entschuldigen. Aber der Autor zeigt uns hier ganz deutlich, dass Terrorismus sehr wohl auch eine emotionale Haltung sein kann – die im Westen den Minderheiten gegenüber nur allzu oft vertreten wird.


    Es gibt noch so vieles, das ich an diesem Buch faszinierend fand. Die emotionale Balance zum Beispiel. Es gibt durchaus ein Augenmerk auf Mann-/Frau-Beziehungen, und den deutlichen Ansatz zu einer Liebesgeschichte. Es gibt Kritik am Zeitungswesen, an der alltäglichen Medienschlacht. Es gibt einen hohen Anteil von Dialogen, die sich vom sprachlichen Niveau her angenehm zwischen Alltags- und Literatursprache bewegen. Es gibt liebevolle und detailreiche Schilderungen von Umgebungen. Es gibt eine kunstvolle Verschränkung von Handlungssträngen und –elementen. Und es gibt trickreich über das Buch verstreute falsche Hinweise, die oft beim Leser für Verblüffung sorgen –wenn sie nämlich widerlegt werden.


    Ich habe wirklich nur einen einzigen, winzigen Kritikpunkt. Der Autor verwendet öfters englische (!) Redewendungen oder andere sprachliche Formeln, die es so im Deutschen nicht gibt. Nur ein Beispiel möchte ich hier aufzählen. In der englischen Sprache bedeutet „dyed in the wool“, eine durchaus geläufige Formulierung, so etwas wie „durch und durch, eingefleischt“ – oder auch „radikal“… Es hat mich sehr verwundert, hier die wörtliche deutsche Übertragung lesen zu müssen. Ich kenne keinen „in der Wolle gefärbten“ Dschihadisten! Meiner Meinung nach hätte es heißen müssen „ein hartgesottener oder eingefleischter Dschihadist“.


    Mein Resümee kann insgesamt aber nur mehr als positiv ausfallen! Ich wüsste in der Tat kaum einen Leser, dem ich dieses Buch nicht empfehlen würde. Vor allem auch jüngeren Menschen wird hier Politik auf eine begreifbare Weise nahe gebracht. Jeglichem politischen Schubladendenken wird hier eine klare Absage erteilt. Und das ist etwas, das Deutschland im Moment mehr als brauchen kann.

    Eigentlich bin ich Biographien gegenüber skeptisch, die nicht von der jeweiligen Person selber geschrieben wurden. Doch in diesem Falle macht das durchaus Sinn. Vicki Mackenzie, die Journalistin, begegnete Tenzin Palmo, der mittlerweile legendären einsiedlerischen Nonne, auf einem Retreat in der Toskana, und war spontan so fasziniert von ihrer Persönlichkeit, dass sie sich einige Zeit später dazu entschloss, diese Geschichte aufzuschreiben. Erst recht, als sie hörte, dass Tenzin Palmo 12 Jahre in einer einsamen Höhle in den Bergen des Himalaya verbracht hatte! Tenzin Palmo wäre selber viel zu bescheiden gewesen, um solch ein Aufhebens von sich zu machen. Doch die Journalistin erkannte mit viel Gespür, dass dieses Leben allen Interessierten viel mitzuteilen hat.


    Tenzin Palmo, mit bürgerlichem Namen Diane Perry, wurde in England in eher einfachen Verhältnissen geboren. Doch schon von Anfang an war sie irgendwie anders, und entwickelte sich mit ungeheurer Zielstrebigkeit in die spirituelle Richtung hin. Schon früh häuften sich die Anzeichen, dass sie dort, wo sie geboren wurde, eigentlich nicht wirklich "hingehörte". Die Autorin versteht es, alle diese Fäden aufzunehmen und zu einer geradezu spannenden Erzählung zu verweben.


    Die junge Diane war dabei keineswegs immer eine Heilige, und auch das wird nicht unerwähnt gelassen. Doch gerade das macht die Lebensgeschichte so menschlich, und die letztliche Entscheidung für das spirituelle Leben so eindringlich und glaubhaft. Sie hatte durchaus heftige Liebesgeschichten, und ihr wurden etliche Heiratsanträge von jungen Männern gemacht. Einmal sogar drei gleichzeitig! Und auch den sexuellen Avancen eines berühmten tibetischen Lamas (jawohl!) musste sie erst einmal ihre pure Willenskraft, sprich: die hohen Absätze ihrer Stilettos, entgegenstellen... Auf etlichen Photos wird deutlich, dass Diane, hätte sie sich anders entschieden, durchaus eine weltliche "Karriere" hätte machen können. Hübsch war sie, was besonders an ihren zahlreichen blonden Locken lag.


    Durch die Lektüre diverser Bücher, und den Kontakt mit der British Buddhist Society, stellte Diane schließlich fest, dass sie Buddhistin war, ja, wahrscheinlich immer schon, ohne es zu wissen. Von nun an war die Entwicklung wohl nicht mehr aufzuhalten. Sie besuchte Kurse, traf Lamas und Lehrer, und erspürte immer mehr und dringlicher, dass sie eigentlich nach Asien gehörte. Genauer: dass sie in der tibetischen Tradition praktizieren wollte, und zwar als Nonne. Sie war auf der Suche nach "ihrem" Guru. Dies kann ein uninformierter Laie/Leser nur schwer verstehen: der Guru ist traditionell ungeheuer wichtig, er ist viel mehr als nur ein Lehrer. All diese Nebeninformationen werden grandios von der Autorin in den Text eingearbeitet, so dass man fast wie nebenbei noch einen "Grundkurs tibetischer Buddhismus" erhält.


    Ihren Guru trifft Diane schließlich in der Gestalt von Khamtrul Rinpoche, der sie ihr ganzes weiteres Leben begleiten wird - auch über seinen Tod hinaus. Diese Kapitel gehören für mich zu den schönsten des ganzen Buches! Ich könnte mir durchaus vorstellen, sie später gesondert noch einmal zu lesen. Was es bedeutet, einem Menschen auf dieser tiefen, karmischen und spirituellen Ebene wirklich verbunden zu sein, sich ihm vorhaltlos anzuvertrauen, fand ich tief berührend und inspirierend. Auch ich als Westler bin der ganzen "Guru-Mania" gegenüber eher skeptisch eingestellt. Doch die Geschichte Tenzin Palmos hat mich dies zum ersten Mal aus einer anderen Perspektive überdenken lassen. Ein Guru kann ein wirklicher Seelengefährte sein, der wichtiger ist als ein Liebhaber oder Vater und Mutter. Der Gedanke an ihn war es, der Tenzin Palmo hat durchhalten lassen, auch als sie in ihrer Höhle eingeschneit war! Doch dazu gleich mehr.


    Denn es geht in diesem Buch, anders als es der Titel vermuten lässt, bei weitem nicht nur um das Leben Tenzin Palmos in der Höhle. In der Tat machten diese Kapitel nur etwa ein Viertel bis ein Drittel des Buches aus. Die bloße Lebensgeschichte gleicht einem Abenteuer-Roman erster Güte. Die ersten sprituellen Anfänge in England werden gefolgt von einem frühzeitigen Verzicht auf Beruf und Karriere. Sie arbeitet nur deshalb, um Geld zu sparen für ihre Überfahrt nach Indien, welche sie in den frühen 60er Jahren tatsächlich antreten kann.


    Nun folgt eine bewegte und teils aufreibende spirituelle Achterbahnfahrt. Zuerst unterrichtet Diane junge Lamas an einer tibetischen Schule, wird auf verschiedenen Umwegen endlich Nonne, und darf endlich auch in einem Kloster residieren. Als einzige Frau unter Mönchen! Und in dieser Zeit erwacht auch ihr Kampfgeist für die Rechte der Frauen, genauer gesagt derjenigen, die sich ebenfalls um Ordination und spirituelle Gleichberechtigung bemühen. Das war zu jener Zeit noch keinesfalls ein Thema, und die junge Nonne, jetzt Tenzin Palmo, muss es schmerzlich erfahren.


    Sieben Jahre verbringt sie so, bevor sie erkennt, dass sie wohl eher für ein Leben der stillen Kontemplation geeignet ist. Mit Hilfe ihres Gurus und etlicher Bekannter aus dem indischen Dorf Dalhousie sucht sie nach einem geeigneten Ort. Es ist Zufall (?), dass sich schließlich jemand an die seit langem leer stehende Höhle erinnert. Man weiß als Leser oft nicht, ob man sich mit ihr freuen oder doch lieber die Hände über dem Kopf zusammenschlagen soll. Denn die Bedingungen sind anfangs wirklich haarsträubend. Doch alles geht Tenzin Palmo mit der ihr eigenen eisernen Zielstrebigkeit an. Sie macht die Höhle zu ihrem Heim, baut sie ein wenig aus, und legt auch einen Gemüsegarten an.


    An dieser Stelle beginnen meine Kritikpunkte an dem Buch, und sie sind es auch, weshalb ich nur vier und nicht fünf Sterne verleihe. Der Aufenthalt Tenzin Palmos in der Höhle wird eher vom Standpunkt eines Abenteuers her geschildert, und weniger von seiner spirituellen Bedeutung her. Man erfährt also vieles über die Lebensbedingungen, über dramatische Störungen und lebensbedrohliche Situationen. Aber wenig über den Tagesablauf, oder die Intention Tenzin Palmos. Die ganzen 12 Jahre dauern etwa drei Kapitel, und nur gegen Ende, als Tenzin Palmo die Bedingungen noch einmal verschärft und tatsächlich drei Jahre lang keinen Kontakt zur Außenwelt hat (das traditionelle 3-Jahres-Retreat), wird einmal (kurz) ein Tagesablauf und die konkrete Praxis geschildert.


    Der totale Rückzug wird ausgesprochen banal und weltlich unterbrochen; weil nämlich ein Polizist wegen eines abgelaufenen Visums an ihre Höhlentür klopft. Damit ist das Retreat, die Ungestörtheit, unwiderruflich dahin. Doch Tenzin Palmo lässt sich nicht lange grämen. Sie ergreift die Gelegenheit beim Schopfe, und fragt sich, was sie aus der neuen Situation lernen und wie sie sie nutzen kann. Es beginnt ein Leben auf Reisen im Westen. Sie hält Vorträge und gibt Kurse und Belehrungen - alles aber wiederum mit einem bestimmten Ziel: Geld zu sammeln für die Errichtung "ihres" Klosters. Immer aber weiß man als Leser, dass dies nicht ihr eigentlicher Lebensstil ist. Irgendwann will sie wieder zurück in die Einsamkeit, zwar nicht mehr in dieselbe Höhle, weil ihr mittlerweile fortgeschrittenes Alter dies nicht mehr zulässt. Aber zurück in eine einsame Klause auf jeden Fall.


    Hier liegt mein zweiter Kritikpunkt an dem Buch. Die Autorin hat in den letzten Kapiteln versucht, das Leben Tenzin Palmos "allgemeingültig" zu machen, und sie mit verschiedenen modernen Debatten, und auch mit bekannten Figuren aus der modernen buddhistischen Frauenbewegung, zu verbinden. Es geht um die Rolle der Frau im Buddhismus, um die Geschichte des Buddhismus im Westen, um spirituelle Praxis. Und um die Frage, "ob es denn immer eine Höhle sein müsse". Ich kann nur vermuten, dass man damit das Buch für die Allgemeinheit lesbarer und interessanter hat machen wollen. Denn schließlich erschien das Buch bei Bloomsbury, einem weltlichen und keinem rein spirituellen Verlag. (Ich weiß nicht, wie das im Deutschen ist.) Das kann man nun beurteilen, wie man will. Ich finde, es nimmt dem Buch ein wenig die Spitze, die Verve. Mir hätte das Leben Tenzin Palmos völlig genügt. Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass es für mich niemals eine Höhle sein wird, und dass diese extreme Praxis nur für einige wenige Menschen geeignet ist. Auch finde ich, dass man Tenzin Palmo nicht so einfach einer Tsültrim Allione gegenüberstellen kann. Das ist ein völlig anderer Typ Frau! Nun ja. Doch dies mag auch verlagsinterne Gründe haben.


    Insgesamt ist das Buch aber immer noch hoch beeindruckend! Es liest sich ausgesprochen flott weg, wobei ich persönlich aber, wie gesagt, mehr aus dem Leben Tenzin Palmos VOR ihrem Rückzug in die Höhle gezogen habe. Ich habe viel über Tibet und seine Religiosität erfahren. Und ich bin mir bewusst geworden, wie sehr doch die eigene Entschlusskraft, und auch die richtige spirituelle Betreuung, zum persönlichen Fortschritt beiträgt. Ich empfehle das Buch, auch und gerade in der gut lesbaren Originalfassung, allen denen, die sich für Tibet interessieren, und die sich von packenden Lebensgeschichten inspirieren lassen.

    Dieses Buch ist - wieder einmal - ein klassisches Beispiel dafür, wie ein deutscher Titel (oder: ein nachträglich eingefügter Untertitel) ein teilweise falsches Bild erzeugen kann. Das Original des Buches heißt nämlich schlicht "Shadows on the Path", und erspart sich den etwas dramatisierenden Untertitel ["Wie uns die Suche nach Erleuchtung hinters Licht führen kann"] Und das ist auch ganz richtig so.


    Eine sehr spirituell orientierte Freundin hatte mich auf dieses Buch hingewiesen. Und zusammen mit dem Untertitel hatte ich eine doch leicht andere Vorstellung gewonnen. Dies ist weder ein Erste-Hilfe-Paket für Buddhisten, noch geht es im engeren Sinne um Erleuchtung. Sehr grob formuliert, geht es in diesem Buch einfach um die zahlreichen Fallen, in die jeder Mensch tappen kann, der sich persönlich weiterentwickeln will - spirituell, oder auch "nur" psychologisch.


    Der Autor ist allerdings ein sehr spirituell orientierter Mensch. Er ist als Heiler, Akupunkteur und allgemein als Persönlichkeits-Coach tätig, und verarbeitet in diesem Werk zahlreiche Fallgeschichten, als auch allgemeine Hinweise, zu denen er selber im Laufe seiner lebenslangen Arbeit an sich selbst gelangt ist. Er holt Spiritualität von ihrem Sockel, und demontiert so einige Mythen, die sich um dieses weit gefasste Thema ranken.


    Manche Kapitel sind dabei wirklich zupackend, und geradezu drastisch in ihrer Aussage. Dazu gehören z.B. die Kapitel über "Gurus" und den "Tod als Lebensberater", sowie der Abschnitt über Menschen, die hinter ihrer dauernden Suche nach spirituellen Erlebnissen nur ihr eigenes zwanghaftes Verhalten und ihr Sucht-Potenzial verstecken. Abdi Assadi beschreibt ungeschönt und in direkten Worten, dennoch gut lesbar, wie vielen Missverständnissen man als Suchender aufsitzen kann, und in wie vielen Bereichen man sich allzu gern etwas vormacht.


    Nur ganz am Rande taucht der Begriff "Erleuchtung" auf. Viel eher spricht Assadi von "spiritueller Reise" und persönlicher Vervollkommnung. Und er mahnt immer wieder; er zeigt auf, dass im Namen dieser hehren Begriffe schon so mancher Mensch in die Irre gegangen ist. Wenn man sich selbst nicht gut genug kennt, nicht bereit ist, seinen eigenen Unvollkommenheiten ins Gesicht zu sehen, hält man sich nur allzu schnell für "heilig" - oder man greift blindlings zu manipulativen Instant-Praktiken, hängt seinen Glauben unhinterfragt an einen Guru, gibt sehr viel Geld für alle möglichen Kurse aus, ohne auch nur einen einzigen Schritt weiter zu kommen, bildet sich etwas auf die eigenen Anfangs-Erfolge ein, verfällt der Sexualität, idealisiert die Partnerschaft, und und und.


    Das Buch ist insgesamt nicht sehr dick, es hat nur gut 180 Seiten, und ist mit recht großen Schrifttypen auf robustem Papier gesetzt. Zudem ist jedes Kapitel im Grunde eigenständig, und man kann sich gut vorstellen, dass das eine oder andere davon auch gesondert in einer Zeitschrift erscheint. Die Sprache ist erfreulich alltagstauglich, bisweilen auch drastisch und mahnend. Das wird jedoch durch einen großen Alltagsbezug wieder wett gemacht. Immer wieder berichtet Assadi von Fällen aus seiner eigenen Praxis, oder aus seinem eigenen Leben.


    Nur eines tut er gewiss nicht: er löst nichts, er nimmt dem Leser die eigene Entscheidung sowie die Suche nach den "richtigen" Hilfsmitteln und Praktiken nicht ab. So gibt es kein "Programm", keinen 4-Punkte-Plan, und auch keine Liste zu lesender, weiterführender Literatur. Das ist ein wenig schade, und mit ein Grund dafür, warum ich diesem Buch keine vollen 5 Sterne verleihen kann. Man sollte wirklich wissen, warum man dieses Buch liest. Es ist gut geeignet, wenn man selber bereits einige Erfahrung auf spirituellem Sektor mitbringt, und in der Lage ist, die hier dargereichten Erkenntnisse eigenständig zu verarbeiten. Gefährlich wird es nur dann, wenn man sich von diesem Buch "Erlösung" oder schnelle Hilfe verspricht. Denn, und das ist die eigentliche Botschaft Assadis: was wir wirklich suchen, können wir letztlich immer nur in uns selber finden.

    Das macht mich ja nun doch nachdenklich, hasewue...


    Ich habe, vielen Urteilen verschiedener Leute zufolge, Charlotte Roche bislang immer für absoluten Schund gehalten. Und ich wusste auch gar nicht, dass es da einen autobiographischen Hintergrund gibt.


    Mal schauen. kaufen werde ich es mir aber sicher erstmal nicht. Eher ausleihen.

    Ein Licht ganz am Ende des Tunnels


    Ich habe Barbara Pachl-Eberhart, die Autorin dieses zutiefst ergreifenden Buches, im Fernsehen zum ersten Mal kennen gelernt. Sie wurde im Rahmen eines Themenabends zu „Tod und Sterben“ interviewt, und was sie dort sagte und ausstrahlte, hat mich ins Innerste getroffen. Nach der Sendung wusste ich, ich musste mich nach diesem Buch umsehen.


    Barbara Pachl-Eberhart ist Österreicherin, und von Berufs wegen beileibe keine Autorin. Bevor der traurige Anlass, dieses Buch zu schreiben, überhaupt entstand, war sie als Klinik-Clown tätig, der todkranke Kinder im Spital besucht, und ihnen Mut macht. Auch ihr Mann Helmut, genannt Heli, war Clown, und die Fröhlichkeit und Zuversicht dieses Berufsstandes scheinen beide geteilt zu haben. Sicher hat sie auch aus dieser Quelle die unglaubliche Kraft bezogen, die sie zu diesem Buch inspirierte.


    Was war geschehen? Sicherlich das Fürchterlichste, das sich eine Mutter und Ehefrau vorstellen kann. Am Gründonnerstag 2008 verlor Barbara Pachl-Eberhart bei einem tragischen Verkehrsunfall ihre gesamte Familie. Ihr Mann Heli war mit den Kindern Thimo (7) und Fini (2) im familieneigenen Clownbus unterwegs, und gerade mit diesem für Fröhlichkeit stehenden Fahrzeug überfuhr er einen unbeschrankten Bahnübergang... den Rest kann man sich vorstellen. Heli war sofort tot; Fini verstarb drei Tage später im Spital, und Thimo, der sowieso schwerstverletzt und hirntot war, hat Barbara dann voller Liebe und Akzeptanz gehen lassen, indem sie alle Schläuche entfernen ließ.


    Das ist allein noch kein Grund, ein Buch zu schreiben. Aber bereits aus dem oben Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass Barbara Pachl-Eberhart eine äußerst ungewöhnliche Frau ist. 5 Tage nach dem Unglück setzte sie sich an ihren Schreibtisch, um halb aus Pragmatismus, halb aus Verzweiflung eine Rundmail an sämtliche Kontakte und Freunde zu schreiben. Darin rekapitulierte sie das Geschehene, schilderte ihre Trauer, aber auch ihre Zuversicht, und warb um Verständnis und Hilfe. Diese Mail hat ihr selber Kraft gegeben, und sie sorgte auch in Österreich für einiges Aufsehen – da sie schließlich auch an berufliche Kontakte, wie Zeitungen, ging. Binnen kürzester Zeit war Barbara Pachl-Eberhart so etwas wie eine lokale Berühmtheit, und sie beschloss, diesen Heimvorteil zu verwenden, um noch mehr Menschen mit ihren Gedanken Mut zum Thema Tod und Sterben zu machen. Ungefähr ein Jahr lang beobachtete sie sich, und schrieb alles (oder so gut wie alles) nieder, was sie erlebte, durchlitt und aufarbeitete. Das Ergebnis ist nun ein Buch, knapp 400 Seiten stark, voller Emotionen, voller Tragik, aber auch paradoxerweise voller Poesie und Einsicht.


    Eine so persönliche und dramatische Geschichte hat man eigentlich nicht zu bewerten. Daher will ich meine Rezension auch nur als meinen persönlichen Versuch verstanden wissen, mich mit dem Gelesenen auseinander zu setzen. Wenn ich überhaupt etwas „bewerte“, dann nur das Buch „als Buch“, als in Sprache gekleidetes Produkt. Nicht das hier Geschilderte!


    Da wäre zunächst einmal die Struktur des ganzen Buches. Die ist nicht geradlinig, nicht auf Spannung oder Tränendrüsen getrimmt (obwohl man natürlich mehr als einmal zu Tränen gerührt wird, aber das kommt ganz von selbst). Sie folgt auch keinem offensichtlichen Plan. Alles erwächst eher organisch aus dem Trauerprozess, den Barbara Pachl-Eberhart durchlebt hat. Eine grobe Chronologie ist erkennbar. Sie beginnt, sehr flüchtig, damit, wie sie ihren Mann kennenlernte, und wie sie eine Familie gründeten. Gerade genug Worte, um einen Einblick in beide Charaktere zu erhalten, und gerade wenig genug, um keine Intimsphäre zu verletzen.


    Es folgt, natürlich, der Unglückstag, die Geschehnisse darum herum, und die besagte und mittlerweile berühmte Rundmail, die in vollem Wortlaut abgedruckt ist. Schon allein dafür gebührt der Autorin meine persönliche Hochachtung! Doch nach diesem Punkt lässt sie sich beim Schreiben völlig von ihren Gefühlen leiten, und das wirkt auf den Leser sehr organisch und natürlich. Sie gruppiert immer wieder etliche Texte zu einem Kapitel, und gibt ihm einen aussagekräftigen, teils auch poetischen Titel. Innerhalb der Kapitel wechseln die Textsorten; es sind teils Tagebuchauszüge, Briefe, Mails, Reflexionen, Träume, aber auch Rückblicke, was damals geschah.


    Ich möchte nur einige Geschehnisse beispielhaft erwähnen. Mit zum Eindrücklichsten, was ich je gelesen habe, gehört sicherlich die Schilderung der Beerdigung, der Planung und Durchführung. Barbara Pachl-Eberhart hatte den Mut, gänzlich ihren eigenen Vorstellungen zu folgen, und sich von klassischen Vorgaben zu lösen. Sie nennt es ein „Seelenfest“, und macht daraus eine bunte und fröhliche Feier für drei großartige Menschen, mit denen sie leben durfte. (Hier habe ich zum ersten Mal wirklich geheult!) Ferner erwähnenswert ist die eindringliche Schilderung ihres Weges zurück ins Leben, der sowohl Perioden von Glückseligkeit und Nachdenklichkeit, als auch Depressionen umfasste. Und, letzten Endes, auch eine neue Partnerschaft. Hier habe ich zum zweiten Mal geweint – weil sie nämlich, bevor sie diese neue Partnerschaft einging, ihren Mann Heli mehrfach in ihren Tagebucheinträgen um „Erlaubnis“ bat...


    Aber man wird diesem Buch sicher nicht gerecht, wenn man es nacherzählt. Ich möchte lieber darauf hinweisen, was dieses Buch für mich so einzigartig macht. Das sind zum Einen der unglaubliche Mut der Autorin, die Zuversicht, dass alles im Leben einen Sinn hat. Es ist die unverbrüchliche Liebe zu ihrer Familie, die sie nie verlassen hat, und die ihr Kraft über den Tod hinaus gibt. Und es ist der Durchbruch zu einer persönlichen, spirituellen Weltsicht, der – vielleicht – erst durch dieses Unglück möglich wurde. Die Autorin reflektiert gründlich und sensibel über so wesentliche Dinge wie Schicksal, den Sinn des Lebens, die Reise der Seele, und Reinkarnation. Und auch über die Schuldfrage! Sie schreibt sogar einen Brief an den Lokführer, um ihn von allen Vorwürfen zu entlasten! (Tränenquelle Nr. 3 für mich)


    Ich habe schon Stimmen von Lesern gehört, die sagten, das Buch sei ihnen stellen weise „arg spirituell“ gewesen. Aber das spricht ja nicht grundsätzlich gegen das Buch! Es schildert eben, so wie es war, den Weg einer Frau, die unvermindert an den Sinn ihrer Existenz glaubt, auch unter widrigsten Umständen. Und wenn eben Spiritualität dazu gehört – wer bin ich denn, das zu bewerten? Im Gegenteil, mich hat das sehr berührt. Alles wirkt authentisch, und unmittelbar aus dem Leben gegriffen.


    Die einzige Einschränkung, die ich wirklich machen würde, ist die, dass man das Buch vielleicht besser nicht „verschlingen“ sollte. Es liest sich zwar leicht, und sicher verführt die Dramatik der Ereignisse dazu, schnell ans Ende gelangen zu wollen. Aber damit tut man sich als Leser letztlich keinen Gefallen. Es ist wie bei reichhaltigen Speisen: zu viel und zu schnell verursacht oft Bauchweh. Doch das sind ja die Speisen nicht schuld! Und hier liegt auch der Grund, warum ich doch 5 Sterne vergebe, und nicht, wie im ersten Moment der Selbstbefragung, nur 4. Denn genau das war mein Fehler. Ich hatte es eben verschlungen, und fühlte mich danach ein wenig überfahren, vielleicht auch übersättigt. Aber nun, einige Tage danach, kann ich nur sagen, dass dies eines der Bücher ist, die ich nie, niemals, in meinem Leben vergessen werde. Es wird bei mir bleiben, und wird mich weiter mit Hochachtung erfüllen für eine Frau, die aus ihrem Unglück ein großes Glück gemacht hat – nämlich das Glück für uns Leser, an ihrer Weisheit teilhaben zu dürfen.
    ***


    ich möchte noch einmal betonen, dass ich diese Rezension im Wesentlichen für mich geschrieben habe. Sicher mag sie mancher zu lang finden. Aber für mich war es eine Verarbeitungshilfe.

    "Fictions are lies that tell the truth" - Zum ersten Mal fiel dieser Satz meines Wissens in einem Gespräch zwischen Salman Rushdie und Günter Grass aus dem Jahre 1985. Rushdie bezeichnete darin die Aufgabe eines Schriftstellers als ein Paradoxon; er müsse lügen, um die Wahrheit zu sagen. Wie sehr er mit dieser Aussage ins Schwarze getroffen hatte, beweist das Buch von Emma Donoghue eindrücklich aufs Neue. Denn man darf wohl davon ausgehen und hoffen, dass sie selber all die unfassbaren Geschehnisse, die in diesem Buch geschildert werden, nicht durchmachen musste. Dennoch ist der Ton ihres Buches von einer so tief gehenden Weisheit und Wahrheit, dass es mich bis ins Mark getroffen hat.


    Worum es hier geht, ist aus der Wirklichkeit nur leider allzu bekannt. Eine junge Frau wurde entführt, und jahrelang in einem geheimen Raum versteckt gehalten. Aus dieser Situation entstand sogar ein Kind - in diesem Fall ein kleiner Junge, Jack, der zum Zeitpunkt der Handlung 5 Jahre alt ist. Die Autorin bedient sich nun des besonderen Kunstgriffes, das Buch konsequent aus der Perspektive des Fünfjährigen zu schreiben. Das führt zwar aus sprachlicher Sicht dazu, dass sich der Leser an einige Besonderheiten gewöhnen muss - dafür gewinnt das Buch aber umso mehr an Dramatik und Eindringlichkeit.


    Erfreulicherweise führt es ebenso dazu, dass dem Leser blutrünstige oder voyeuristische Schilderungen erspart bleiben. Denn das Kind kann ja nur das berichten, was es sieht und versteht. Und das ist, gemessen an unserer Sicht der Dinge, wenig genug - aber doch ausreichend, um uns so manchen Kloß im Hals zu bescheren. Der Fokus liegt fast ausschließlich auf der Psychologie der Figuren, und auf der Dramatik der fortlaufenden Ereignisse, welche die beiden schließlich aus "Raum" heraus und ins wahre Leben zurück führen.


    Das Buch ist in fünf Abschnitte unterteilt, und jeder trägt einen Titel, der direkt aus einem der Spiele von Jack und seiner "Ma" zu entstammen scheint. Jeder dieser Abschnitte ist durch ein bestimmtes Thema gekennzeichnet: die Situation, wie sie ist, und die Jack als völlig normal erlebt. Das langsame, von der Mutter gewollte Einbrechen der Realität in Jacks Vorstellungskraft. Fluchtpläne und deren Durchführung. Und schließlich das schwierige "Danach". Das baut sich quälend langsam, aber unausweichlich und erschreckend auf.


    Man muss den Inhalt gar nicht weiter zerreden, um zu begreifen, wie hoch emotional und aktuell dieses Buch ist. Ich kann mich im Nachhinein nur wundern, wie die Autorin dieses Buch wohl geplant haben muss! Entweder hat sie jahrelang recherchiert, oder hat mindestens ein Psychologie-Studium hinter sich. Nichts, aber auch gar nichts, was man sich als Problem anhand einer solchen Konstellation ausdenken könnte, wird ausgelassen. Da geht es z.B. um die fehlende Sozialisation, den räumlichen Orientierungssinn, fehlende Abgrenzung, Ängste, Zwangsverhalten, ein labiles Immunsystem, die Gier der Medien, und und und. Und all das auf dem sprachlichen Niveau eines Fünfjährigen unterzubringen, ohne an Gehalt zu verlieren, ist eine schriftstellerische Glanzleistung, die ihresgleichen sucht!


    Selten habe ich es erlebt, dass ich wirklich keinen einzigen Kritikpunkt an einem Buch entdecken konnte. Doch das ist hier eindeutig der Fall! Ich habe mit Jack gelitten und gelebt, habe geweint, und im "Danach" auch oft gelacht. Dieses Kind hält uns Erwachsenen ganz schön den Spiegel vor. Und es zeigt uns, dass selbst in schwierigen Situationen die Liebe letztlich das Einzige ist, das uns retten kann. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Wenn ich könnte, würde ich sechs Sterne vergeben. Doch da ich das leider nicht kann, bleibt mir nur eines: Ich wünsche dem Buch, dass es seinen wohlverdienten Platz in der Weltliteratur findet. Und nicht nur im diesjährigen Sommerprogramm des Piper-Verlages.
    *****


    P.S.:
    Was andere Leser hier sagen, von wegen "schwieriger Schreibstil" und "frühreifes Kind"... hm, ich kann das schon nachvollziehen. In der ersten Millisekunde hatte ich solche Gedanken auch. Aber dann wurde mir klar, unter welch ungewöhnlichen Umständen dieser Jack heranwachsen musste. Und schwups fiel mir das Lesen wesentlich leichter. Man kann ihn einfach nicht mir "normalen literarischen Erzählern", geschweige denn normalen Kindern, vergleichen. Vielleicht solltet ihr die Lektüre doch noch einmal wagen?

    Und es hatte doch alles so schön angefangen... Ich kannte weder den Autor, noch den Protagonisten, also ging ich gänzlich unvorbelastet an die Lektüre. Dementsprechend ließ ich mich die ersten zwei oder auch noch drei Kapitel von dem ungewöhnlichen Schreibstil, der flapsige Dialoge und Situationskomik vereint, gefangennehmen, und tauchte ein die Atmosphäre der italienischen Großstadt Mailand. Doch allzubald erlahmte dieser positive erste Eindruck, und das Buch wurde für mich mehr und mehr zum Ärgernis.


    Zunächst einmal: den Sinn des Titel habe ich überhaupt nicht verstanden. Tödliches Requiem? Der erste Tote tauchte während einer Opern(!)Premiere auf, und nicht bei einem Requiem. Der Titel steht für mich in überhaupt keinem Verhältnis zum Buch. Der Originaltitel ist da schon viel aussagekräftiger: "niente baci alla franchese", was so viel heißt wie "no more french kisses" = "Schluss mit der Liebe auf Französisch". Das ist herrlich doppelbödig, und beschreibt auch wesentlich genauer, worum es in diesem Buch hauptsächlich geht: um die erotischen Wirrungen eines charakterlich unreifen, sexbesessenen Alkoholikers, des Journalisten Enrico Radeschi. Für mich ein Unsympath erster Güte.


    Ich werde mich nicht mit der Schilderung des Inhalts aufhalten, da der "Kriminalfall" in diesem Buch wenig mehr ist als eine nette Zutat. Die Kriminalhandlung wird, nach den besagten ersten Kapiteln, völlig in den Hintergrund gedrängt. Was man bekommt, ist vielmehr eine Gesellschaftsreportage aus Polizei- oder auch Autonomen-Szene, mit viel Großstadt-Kolorit - zuerst Mailand, dann Paris. Die Handlung ergeht sich in flapsigen Dialogen, etlichen Zufällen, und verwirrend vielen und teils zusammenhanglos hingeworfenen Ortsbeschreibungen. Dem Leser werden Straßennamen und dergleichen mehr nur so um die Ohren gehauen, und wer beide Städte nicht kennt, verliert schnell den Faden. Dazu kommt noch, dass unverschämt viele Original-Zitate aus dem Italienischen und Französischen ohne Übersetzung (!) eingestreut werden. Das soll wohl bei Italienern den einen oder anderen Schenkelklopfer erzeugen, lässt aber unkundige Leser vollends im Regen stehen.


    Ach ja, der Kriminalfall... wie man sieht, habe auch ich ihn beim Schreiben nahezu vergessen. Erst in den allerletzten Kapiteln rückt er wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es wird eine Lösung herbeifabriziert, die ich wirklich nur haarsträubend nennen kann, weil sie nicht, ich wiederhole, überhaupt nicht organisch aus dem Geschehen hervorgeht. Zudem fühlte ich mich als Leser verschaukelt, weil sich plötzlich herausstellt, dass alle Verbrechen völlig verschiedene Motive und Täter hatten, wovon höchstens zwei miteinander zusammenhängen. Alles mehr oder weniger Zufall also. Dann hätte man sich meiner Meinung nach die Kriminalhandlung gleich ganz sparen können.


    Doch das allergrößte Ärgernis ist für mich dieser Radeschi. Mir fällt es sehr, sehr schwer, hier objektiv und sachlich zu bleiben. Das Buch hat in mir größte Aggressionen hervorgerufen, weil hier ein Bild entworfen wird, das ich nur abstoßend finden kann, und das auch meiner Meinung nach in einem Buch, das eigentlich unterhalten (!) soll, nichts zu suchen hat. Es ist schlimm genug, dass es solche Menschen gibt, die weder ein stabiles Verhältnis zu Frauen aufbauen können, noch ihre Libido unter Kontrolle haben. Vom Alkohol- und Drogenkonsum mal ganz zu schweigen. Davon muss ich aber nicht auch noch lesen!


    Und erst das Bild, das von Frauen hier entworfen wird...! Und nun will ich mich nicht mehr beherrschen, nein, es will gesagt sein: ich hätte dem Autor am liebsten mein Geh- in sein Ess-Werkzeug gerammt, oder besser gleich noch woanders hin. Frauen sind in diesem Buch entweder dümmlich, sexbesessen, oder zugekifft, und das ist einfach unverschämt! Ich hatte teilweise eine solche Wut im Bauch, dass es kaum zu ertragen war. Also bitte, eine junge Frau, die einem Mann nur deshalb einen runterholt, weil "Sperma so toll für die Haut ist" ??? Und eine französische Studentin, mit der der Journalist eine heiße Nacht verbringt - die aber daheim in Paris eine Partnerin (!) hat...? Wohlgemerkt, die gleichgeschlechtliche Partnerschaft ist hier nicht das Problem. Sehr wohl aber die Reaktion des Protagonisten darauf. Er ist beleidigt!! In seiner männlichen Eitelkeit gekränkt!! Und will die junge Dame am liebsten nie wieder sehen. Aha, das heißt dann wohl, das Männer sich alles erlauben dürfen, Frauen aber nicht??! Dreist, unmöglich, unverschämt.


    Schade, am Anfang hatte das Buch gute Ansätze. Man bekam einen Einblick in die politische Stimmung in einer italienischen Großstadt, und auch die Dialoge waren erfrischend anders. Daraus hätte man viel mehr machen können. Ach ja, und auch die Kapitelüberschriften waren originell. Jeder Abschnitt wird mit einem Musik-Titel überschrieben, das Buch hat also sozusagen einen "Soundtrack". Ansatzweise konnte ich erahnen, dass die Musiktitel jeweils auch mit der Handlung zu tun hatten. Ärgerlich ist hier nur, dass viele entweder hierzulande unbekannt, oder eben italienische oder französische Titel waren. Auch hier standen der jeweiligen Sprachen unkundige Leser wieder im Regen.


    Mein Fazit? Ich glaube, dass das Buch außerhalb Italiens ganz einfach nicht "funktioniert". Und es ist so durch und durch "männlich" und machohaft geschrieben, dass ich dem Autor am liebsten ins Gesicht springen würde. Meine Empfehlung: entweder die komplette deutsche Auflage einstampfen. Oder alle Exemplare kaufen, und jeweils einem Mann schenken, den man noch nie leiden konnte.

    Wie gut, dass nicht alle Klassiker der Weltliteratur "dicke Schinken" sind... Ich habe spontan zu diesem Büchlein gegriffen, da ich zwischen zwei Rezensionsexemplaren stecke - wovon das eine noch nicht angekommen ist. Und was soll ich sagen - ich bin überrascht, begeistert, angetan, berührt. Ich mag gar nicht glauben, dass dies das erste (!) veröffentliche Werk von Hesse gewesen sein soll. Denn es ist in sich schon völlig schlüssig, sowohl von Aussage, Stil und Absicht her. Noch dazu hat es eine ganz eigene Frische, einen jugendlichen Witz, der manchen späteren Werken von Hesse abgeht.


    Doch der Reihe nach. Dieser Text, den ich mich irgendwie scheue, "Roman" zu nennen, bewegt sich stilistisch auf einem ganz eigenen Gebiet, und man merkt von Anfang an, auch wenn man Hesse noch nicht kennen sollte, dass hier ein Schriftsteller versucht, seine eigene Stimme zu finden, sich nicht irgendwelchen gängigen Strömungen anzupassen. Wie Hesse ja selber später bestätigte, steht der "Peter Camenzind" im Großen und Ganzen für ihn selber, für seine Ansichten über Kunst und Künstler.


    Ich würde das Buch irgendwo zwischen "Entwicklungsroman", Lebensbeichte und Novelle ansiedeln. Denn von allen dreien hat es Charakterzüge. Es ist durchgehend geschrieben in der ersten Person, von Peter Camenzind selber, der sein Leben im Rückblick beschreibt. Doch wird dabei nicht ganz klar, an wen er sich eigentlich richtet. Oft hat man das Gefühl, da säße ein unsichtbarer Gesprächspartner, da sich Camenzind oft auch rechtfertigt, entschuldigt, sich selbst zu deuten versucht. Gleichzeitig rafft er aber auch an manchen Stellen, sagt, dies sei nun nicht so wichtig, oder solle ein andermal erzählt werden. Dann wiederum gibt es wundervoll ausschweifende Passagen der Naturbeschreibung, oder der schicksalhaften Deutung von Ereignissen oder Charakteren. Und schließlich redet Camenzind die ganze Zeit davon, dass er eigentlich eine "große Dichtung" verfassen wolle - sollte damit genau DIESES Buch gemeint sein? Doch man erfährt es nicht. Das ganze Buch verbleibt in einer Art kunstvollen Schwebe, und das verleiht ihm einen eigenen Reiz.


    Es ist in acht Abschnitte aufgeteilt, was auch inhaltlich sehr logisch ist. Jeder Abschnitt ist einem bestimmten Entwicklungsschritt gewidmet, den Peter Camenzind zu gehen hatte. Oft, ja meist ist dies mit seelischem Ringen, mit Schmerzen verbunden - aber aus nahezu jedem Erleben kann Peter etwas Lehrreiches schöpfen, immer nimmt er etwas Neues in seinen nächsten Lebensabschnitt mit. Da ist die Kindheit in der ländlichen Schweiz - hier hat er eine erste Ahnung davon, dass es ihn nach "mehr" zieht. Wundervoll beschrieben, wie es gerade der Anblick der Natur ist, der ihm die Augen öffnet! Danach folgen Schul- und Studienzeit, erste unglückliche Lieben, Schicksalsschläge, beginnende Trunksucht, Berufsleben als Journalist, Erlebnisse mit der gehobenen (und leider oberflächlichen und versnobten) Gesellschaft, bis hin zu den Wander- und Freundschaftsjahren sowie der letztendlichen Rückkehr in die Heimat. Der Kreis schließt sich, obwohl das nicht geplant war. Das Ende bleibt angenehm offen, da die Erzählung endet, bevor Peter sich entschieden hat, ob er nun den alten Dorfgasthof übernehmen soll oder nicht...


    Es sind zwar "nur" 150 Seiten, doch man fühlt sich, als habe man sein halbes Leben an der Seite Peter Camenzinds verbracht. Diese Sprache, dieser Stil sind so gehaltvoll, so inhaltsreich, wie man es sonst selten bei Schriftstellern erlebt. Erst recht nicht in Erstlingswerken! Und noch dazu werden Themenkreise behandelt, die man bei einem so jungen Schriftsteller nicht vermutet hätte. Diverse Dinge sind mir sehr im Gedächtnis geblieben. Peter Camenzind hat einen sehr scharfen Blick für seine Mitmenschen, und in teils wirklich drolligen und komischen Passagen beschreibt er Marotten und Eigenheiten . Sehr lebendig wurde mir auch die damalige Schriftsteller- und Künstler-Szene , und hier geizte er nun wirklich nicht mit manch bissigen Kommentaren. Was Peter Camenzind zum Thema "Freundschaft" zu sagen hat, gehört mit zum Schönsten, was ich je gelesen habe! Auch und gerade die Freundschaft unter Männern wird hier rehabilititert. Was Liebe anrichten kann, wissen wir alle - doch was einem vor allem unerfüllte Liebe an Lektionen zu erteilen hat, das macht uns Peter Camenzind mehr als deutlich. Und schließlich hat mich an diesem Buch die Haltung zu Tod und Sterben sehr beeindruckt. Mehr als eine Person muss Peter Camenzind bis zum Grabe begleiten, doch alles erfüllt ihn mit einer Art stillen Heiterkeit. Der Tod schreckt ihn nicht, vielmehr findet er zu einer tröstlichen Gesamthaltung dem Leben gegenüber, in der auch der Tod seinen Platz hat.


    Dennoch würde ich dieses Buch nicht uneingeschränkt jedem Leser empfehlen. Man sollte vermutlich schon eine gewisse Reife und Lebenserfahrung mitbringen, sonst findet man sich in diesem Buch nicht wieder. Man sollte ein eher gemächlicher Leser sein, der sich auch an beschreibungsreicher Sprache ergötzen kann. Und man sollte Erfahrung mit etlichen Formen von Kurzprosa haben, wie eben Novellen und Kurzgeschichten. Dann wird man sich diesem Buch sicher herzlich zugetan fühlen.

    Stellen wir uns mal vor, vier verschiedene Leute würden mich fragen, um was es bei diesem Buch geht. Dem Ersten würde ich vielleicht antworten: Es ist ein Erfahrungsbericht, die Beschreibung eines Jahres, in dem jemand seine Essgewohnheiten ändert und hinterfragt. Dem Zweiten jedoch würde ich sagen: es ist ein Sachbuch, in dem viele Tatsachen zu Tierhaltung und Lebensmittelindustrie zusammengetragen werden. Der Dritte würde zu hören bekommen, es ist ein humorvolles Buch, ein Schwank voller witziger Anekdoten, bissiger Kommentare und haarsträubender Einsichten. Und der Vierte würde mit dem Kommentar von mir nach Hause gehen, dieses Buch biete einen packenden und oft unerwarteten Einblick in das Privatleben einer Schriftstellerin. Wenn diese vier Personen nun zusammenträfen, würden sie sich wohl erstmal streiten - doch jeder hätte Recht!


    Natürlich konnte Karen Duve zu dem Zeitpunkt, als sie sich zu diesem Experiment entschloss, nicht wissen, dass ausgerechnet im selben Jahr ein sehr ähnlich gelagertes Sachbuch eines noch viel berühmteren Kollegen erscheinen würde - "Tiere essen" von Jonathan Safran Foer. Und ich finde es auch verfehlt, Karen Duve an diesem Buch zu messen - was ich aber leider aus vielen Kommentaren und Besprechungen herauslese. Sie ist keine kühle Analytikerin, und sie stand auch vor keiner Lebensentscheidung wie Foer, bevor sie das Buch schrieb. Der wurde nämlich Vater, und musste sich grundsätzliche Fragen über sein weiteres Leben stellen. Nein, bei ihr war es - geradezu grotesk banal - die "Grillhähnchenpfanne für 2,99 Euro", die ihr mit einem Kreischen von der gesundheitsbewussten Freundin aus der Hand gerissen wurde. Überhaupt fungiert diese Freundin, von ihr "Jiminy Grille" genannt (nach einer Figur aus "Pinocchio"), das ganze Buch hindurch wie ein Gegengewicht, ein Spiegel, ein Pendant, das Anlass ist für so manche witzige Anekdote. Wie ein Pat zum Patachon. Oder ein Watson zum Holmes.


    Es fängt schon damit an, dass das Buch so nicht geplant war. Eigentlich wartete der zuständige Lektor schon seit über einem Jahr auf einen neuen Roman von Karen Duve, und es kostete sie (und vermutlich ihn!) viele Nerven, ihn von der absoluten Wichtigkeit dieser absolut neuen Idee zu überzeugen. Sich selbst überzeugen musste Karen Duve allerdings nicht: nach der Episode mit der Grillhähnchenpfanne scheint sich die Idee mit einer Plötzlichkeit völlig unhinterfragt ihn ihren Schädel gesetzt zu haben, die ihresgleichen sucht. Zumindest wird dem Leser dieser Eindruck vermittelt.


    Mit der ihr eigenen lakonischen Entschlusskraft, und einer guten Portion trockenen Humor, startet Karen Duve in dieses Jahr. Es stimmt übrigens nicht ganz, was der Klappentext sagt: immer zwei Monate der Beschreibung einer neuen Ess-Strategie. Die ersten zwei Monate, Januar und Februar, sind in der Tat der Bio-Ernährung gewidmet. Doch werden die beiden Kapitel durch ein eher nachdenkliches unterbrochen: "Familienbande". Hier reflektiert die Autorin - überraschend tiefsinnig - darüber, was den Menschen eigentlich vom Tier unterscheidet. Oder ob überhaupt. Dieses Rezept wird im Buch wiederholt - immer wieder werden die "Ess-Kapitel" aus ihrem Alltag unterbrochen durch nachdenkliche, eher referierende Kapitel, in denen sie ihre Gedanken oder auch Ergebnisse ihrer Nachforschungen zusammenträgt. Da geht es z. B. um Mitgefühl, menschlichen Egoismus, wann ändert man sein Verhalten und warum - und wann eben nicht, die Milch und ihre Produktionsbedingungen, moralische Überlegenheitsgefühle, die Lebensrechte von Insekten, und und und. Und immer wieder schreiend komische Passagen, die mich wirklich oft laut haben auflachen lassen! Die Lese-Kompatibilität dieses Buches in der Öffentlichkeit sollte also genauestens überdacht werden...


    März und April sind vegetarisch, und danach folgen vier, nicht zwei, Monate des Herantastens an die vegane Lebensweise. Ich sage bewusst "Lebensweise", denn genau aus diesem Grund dauert es für Karen Duve so lange, es umzusetzen. Schritt für Schritt trennt sie sich sogar von Gegenständen und Gewohnheiten, die auch nur in irgendeiner Weise der Ausbeutung von Tieren dienen. Das verdient meinen Respekt als Leser - auch und gerade weil sie immer wieder ehrlich zugibt, dass es doch oft eben "Verzicht" bedeutet. Sie wendet sich in einer geradezu radikal ehrlichen Weise an alle Moral-Apostel, und bestreitet deren Postulate, es sei alles ganz einfach, sobald man nur einmal "die richtige" Einstellung gewonnen habe.


    September und Oktober - frutarisch. Hier habe ich wohl am meisten mit der Autorin sympathisiert, weil sie sich doch arg quält, mit der Richtigkeit der Entscheidung hadert, und sich u. a. auch fragt, ob das Leben, und somit das Essen, nicht eben auch Genuss bedeuten sollte. Zum Schluss ist es fast Trotz, mit dem sie ihren Obstsalat und ihre Erbsen mit Kokosmilch verputzt. Man kann förmlich ihre Erleichterung spüren, mit der sie in den November startet - der Monat, in dem sie zu einer Entscheidung kommen will.


    Und in der Tat formuliert sie 5 Grundsätze, nach denen sie in Zukunft zu leben gedenkt. Manche Leser waren hier ob ihrer scheinbaren Inkonsequenz erstaunt. Doch ich finde, das mag daran liegen, dass man schon während des ganzen Buches die Zweifel, Kämpfe und Unsicherheiten evtl. überlesen hat. Schließlich muss man sich klar machen, dass es an sich schon eine große Leistung ist, innerhalb eines Jahres ohne äußere Not sich zu dieser Entscheidung zu zwingen! Ich finde die Grundsätze, die ich hier im Einzelnen nicht aufzählen werde, aus der Sicht der Autorin durchaus konsequent, und vor allem - machbar. Man muss bedenken, dass es immer ein konkreter Mensch ist, der da sein Leben ändern will oder soll. Und dies geht sie mit großer Furchtlosigkeit an. Das, was sie ändert, ist schon viel mehr, als es die "Grillhähnchenpfanne" hätte vermuten lassen.


    Und genau aus diesen Gründen verleihe ich dem Buch auch 5 Sterne. Es mag kein zu 100 % fundiertes Sachbuch sein, es mag subjektiv sein, und es mag gelegentlich die Pointe der Wissenschaftlichkeit vorziehen. Dennoch - wer schafft das schon, Information mit Privatem und Humor zu einer solch gekonnten Einheit zu verbinden? Und sich selbst vor dem Leser dermaßen "auszuziehen"? Mein Fazit jedenfalls lautet, Hut ab vor Karen Duve!

    Als ersten und offensichtlichen Kritikpunkt möchte ich anführen, dass hier - wieder einmal - versucht werden sollte, ein Buch partout auf "lustig" zu trimmen. Sicher hat das Buch humoristische Absichten, auch im Original. Schließlich geht es um eine 53jährige britische Hausfrau aus der Oberschicht, die mit ihren Einmischungsversuchen in das Leben anderer Menschen lauter Katastrophen anrichtet. Doch wenn man sich ein wenig über das Buch informiert, besonders dann, wenn man auf der Original-Blog-Seite des "Telegraph" in England vorbeischaut, dann merkt man schnell, dass das englische Original wesentlich satirischer, feinsinniger, karikierender gedacht war. Nicht so klamaukig wie der völlig unpassende deutsche Titel. Denn ein Gurkensandwich kommt im ganzen Buch nicht vor!


    Doch "first things first", würde der Engländer sagen. Womit haben wir es hier eigentlich zu tun? Mit einem Blog einer literarischen Kunstfigur, der zum Buch wurde. Constance Harding ist das "brain child" der englischen Autorin und Journalistin Ceri Radford. Sie (Constance) erblickte das Licht der Welt im Jahre 2008, als sie auf der Website des "Telegraph" ihren eigenen Blog bekam, und darin das aktuelle britische Tagesgeschehen kommentierte. Gar nicht mal so unähnlich einer "Else Stratmann", die im Deutschland der 80er Jahre berühmt wurde! Schnell erschrieb sich Radford eine kleine Fangemeinde, und so reifte der Gedanke, dem Ganzen ein Buch folgen zu lassen. Doch aus verlagstechnischen und journalistischen, rechtlichen Gründen (will ich einmal annehmen) konnte man nicht die Original-Blog-Einträge zum Buch machen, da ja schließlich "echte" Leser mitgelesen und -kommentiert hatten.


    Ceri Radford übernahm ihre Hauptfigur, Constance, und setzte sich daran, ihr ein Privatleben, und vor allem eine Handlung zu verpassen, die sich auf genau ein Jahr erstreckt: vom ersten Januar 2008 bis zum 31. Dezember desselben Jahres. Man merkt deutlich, dass sie dabei vor einer Herausforderung stand. Denn in einem Buch, das sich selbst eindeutig als "novel", also als Roman, versteht, zählen noch andere Dinge als in einem Blog. Hier brauchte es einen Spannungsbogen, eindeutige Handlungsfäden, und eine Absicht, ein konkretes Ende, das dem Leser präsentiert werden sollte. Das alles ist der Autorin meiner Meinung nach nur teilweise gelungen.


    Auf den ersten etwa hundert Seiten gelingt der augenzwinkernde, leicht naiv wirkende Erzählstil der Constance Harding noch recht passabel bis gut. Man lernt sie kennen, und merkt, wie ausgesprochen beschränkt ihre Weltsicht ist. Binnen kürzester Zeit hat der Leser alles das begriffen, was Constance partout nicht sehen will: ihr Mann betrügt sie, ihre Tochter hat alles andere im Sinn als ein Studium, ihr Sohn ist schwul, und einer ihrer Kollegen aus der örtlichen Glöckner-Truppe ist in sie verliebt. Sehr britisch ist das Ganze insofern, als man sich an große literarische Vorbilder erinnert fühlt. Denn der Stil ähnelt durchaus einer Jane Austen; die Seelenverwandtschaft zu einer "Emma", die genau wie Constance durch ihr Nichtwissen und Nichtwissenwollen nur Schaden anrichtet, lässt sich nicht leugnen.


    Doch im weiteren Verlauf des Buches verfliegt dieser anfängliche Charme leider etwas. Immer wieder wiederholt sich Constances Scheuklappen-Mentalität, und das wirkt auf die Dauer dann doch eher unglaubwürdig bis akut nervtötend. Erst im letzten Drittel des Buches ändert sich der Charakter der Erzählung abrupt. Auf hundert Seiten vollzieht sich eine Rosskur und charakterliche Wandlung, die eben aufgrund dieser Plötzlichkeit für mich nicht recht überzeugend war. Man merkte deutlich, dass die Autorin sich hier des "Buch-Charakters" des ganzen Projektes bewusst wurde. Es musste partout die Kurve gekriegt werden, hin zu einem präsentablen Ende. Und so lässt Ceri Radford Constance Schicksalsschlag auf Schicksalsschlag erleiden, und zwingst sie somit dazu, die Augen zu öffnen. Das hätte auf mich überzeugend gewirkt, wenn es ein offenes Ende gegeben hätte. Doch nein, alles wandelt sich zu dem sprichwörtlichen Frieden, Freude und Eierkuchen. Und es endet auch noch punktgenau am 31. Dezember, was ich als sehr künstlich und dramaturgisch "gewollt" empfand.


    Ich möchte die Bewertung des Buches dennoch insgesamt im guten Mittelfeld ansiedeln. Es wird sicherlich auch daran liegen, dass sich ein Buch ganz anders liest als ein Blog. Man sollte es häppchenweise lesen, und bloß nicht am Stück verschlingen. Sonst fallen einem die vielen charakterlichen Ungereimtheiten, und die nicht ganz runde Handlung, viel zu sehr auf. Sprachlich ist diese Lektüre allemal leicht zu bewältigen, und sicher entringt sich dem Leser auch der eine oder andere Schmunzler. Auch sind die meisten Charaktere an und für sich recht nett erdacht. Ich würde sagen, dieses Buch ist gut geeignet für die Portions-Lektüre am Strand oder im Bett vor dem Einschlafen. Leider jedoch nicht für den genussvollen Verzehr im Ohrensessel.

    Ich möchte diesen Thread gerne wiederbeleben, weil das Buch eindeutig mehr Leser verdient hat. Ja, das Buch - und nicht nur der Film! Doch lest selbst meine Rezension - ich beziehe mich übrigens auf die englische Originalversion.


    ***


    Ladies and Gentlemen - darf ich Ihnen vorstellen: den am meisten unterschätzten und vergessenen literarischen Charakter, ja, Erzähler der moderneren englischen Literatur: Chief Bromden. Er hat ein schweres Schicksal durchlebt, seit der Roman in den 60er Jahren zum ersten Mal erschien. Dabei dürfte man ihn eigentlich nur schwerlich vergessen: ein hünenhaft großer Halb- Indianer mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, traumatisiert und bauernschlau. Und genau er ist der Erzähler eines der erfolgreichsten Romane der 60er Jahre. Doch dann kam das Kino, dann kamen Milos Forman und Jack Nicholson. Und das hatte zur Folge, dass Chief Bromden im öffentlichen Bewusstsein an den Rand gedrängt wurde. Kein Wunder, spielte doch Jack Nicholson in seiner Paraderolle als Randle Patrick McMurphy alle an die Wand. Und das ist unglaublich schade, denn gerade der Chief verleiht dem Stoff in der Buch-Fassung eine ganz eigene Note.


    Er gibt sich große Mühe, das Leben in einer Irrenanstalt im Amerika des mittleren letzten Jahrhunderts aus seiner Sicht zu schildern. Er sitzt direkt an der Quelle, da er sich taubstumm stellt und somit gefahrlos auch dort schnüffeln und mithören kann, wo es niemand vermutet. Er leidet zwar auch selber unter etlichen Symptomen, die, wie der Leser nur vermuten kann, von einem Kriegsveteranen-Trauma her rühren - und dennoch verleiht gerade diese etwas verzerrte Sicht den Geschehnissen eine ganz eigene Dringlichkeit.


    Für den Chief ist die Welt eine einzige Verschwörung, die er "the combine", zu Deutsch etwa "die Firma" nennt. Und Hauptvertreter dieser allmächtigen Organisation ist die "Big Nurse", Miss Ratched. Sie hat ihre Station eisern in der Hand, keine einzige Abweichung im Verhalten wird toleriert. Geradezu irrwitzig bedohlich werden die Schilderungen des Chief an den Stellen, als er die Gefühle der "Big Nurse" zu deuten und zu beschreiben versucht:er schildert sie in seinem leichten Wahn als manisch angetriebene Puppe, die nur durch Menschenverachtung und Hass befeuert zu werden scheint, und die durch allerlei Drähte und verborgene Mechanismen jeden Einzelnen zu steuern weiß.


    Das Leben in dieser Irrenanstalt verläuft genau nach Plan. Streng nach der Uhr verteilen sich Schlafen, Frühstücken, Spielen, ja sogar Körperhygiene. Und nicht einmal das Radio oder den Fernseher dürfen die Insassen selber bedienen.Zur Krönung gibt es noch tägliche Gesprächsrunden, die vorgeblich der Therapie dienen sollen, die aber im Endeffekt nur die Macht der "Big Nurse" zementieren, und die Teilnehmer erniedrigen. Mitten in diese scheinbar perfekt geplante Maschinerie platzt eines Tages der spiel- und trunksüchtige Ire Randle Patrick Mc Murphy, der seine Verrücktheit nur vorgetäuscht hat, um dem harten Leben in einer Strafanstalt zu entgehen. Es kommt, wie es kommen muss: Zwei Platzhirsche an einem Ort kann es nun einmal nicht geben, und so entbrennt vom ersten Tag an ein Machtkampf zwischen McMurphy und Miss Ratched - bis hin zum bitteren, und, wie der Chief selber sinniert, vielleicht unausweichlichen Ende.


    Das soll aus meiner Sicht auch schon alles zum Inhalt gewesen sein. Ich möchte lieber noch etwas Werbung für das Buch machen, und möchte unterstreichen, warum man sich gerade die Buchfassung (auch und gerade die englische) wieder verstärkt gönnen sollte. Denn die Kinofassung hat zwar zu Recht etliche Oscars gewonnen, kann aber bei weitem nicht alles transportieren, was uns der Chief in seiner ganz eigenen Ausdrucksweise und Einsicht bietet.


    Da ist zum einen die Sprache. Die englische Fassung ist auf alle Fälle vorzuziehen, da ich mir nicht sicher bin, ob die Übersetzung all die Eigenheiten des sehr ländlichen und mündlichen Amerikanisch einfangen kann. Die Sprache des Chief ist sehr unmittelbar, direkt, und doch von Emotionen geprägt. Er fungiert in diesem Buch nahezu wie eine Kamera, aber eben doch eine Kamera, die wertet, aussiebt und deutet. Aus dieser Sprache spricht all die Enttäuschung und Desillusionierung, die ihm in seinem Leben widerfahren sind. Trotz seiner leidvollen Erfahrungen durchschaut er jeden Menschen früher oder später, und teilt uns seine Erkenntnisse mit. Und man merkt auch und gerade an seiner Sprache, wie sehr ihn McMurphy berührt und verändert.


    Der zweite für mich wichtige Punkt ist die Schilderung von Freundschaften und "Allianzen" im Buch. Es hat mich mitten ins Herz getroffen, wie der Chief dem Leser schildert, dass selbst unter den widrigsten Umständen die Menschen sich zusammentun, um das Beste aus ihrer Situation zu machen. Er beleuchtet zum Beispiel viel deutlicher als der Film die Freundschaft zwischen Sefelt und Frederickson, oder die persönlichen Hintergründe von Harding, Billy Bibbitt oder Benzini ("Ich bin so müde, so schrecklich müde!"). Selbst für den allerletzten "vegetable" (zu Deutsch etwa "Hirni") hat er noch verständnisvolle Gedanken übrig, wie Ellis, oder Taber (im Film dargestellt von Christopher Lloyd, dem späteren Emmett Brown in "Zurück in die Zukunft").


    Drittens schafft es das Buch, auch Zweifel an der Figur des McMurphy zuzulassen, was ja im Film nahezu gänzlich unterbleibt. Der Chief filtert in seiner Rolle alle Gedanken, die zu McMurphy im Umlauf sind. Und da entsteht zum Beispiel auch die berechtigte Frage, wo all das Geld bleibt, das McMurphy mit seinen Poker-Wettbewerben gewinnt. Und warum er es überhaupt gewinnen muss. Und es taucht die Vermutung auf, McMurphy helfe immer nur dann jemandem, wenn es auch ihm etwas nutzt. Das ändert sich zwar gegen Ende, als McMurphy begreift, dass es auch für ihn ums Ganze geht. Aber zuvor schwankt der Leser in seiner Beurteilung doch oft ein wenig.


    Und schließlich wäre da noch der Chief selber. Ich muss wirklich sagen, dass er im Buch für mich McMurphy ausgestochen hat. Nicht nur durch die Tatsache, dass er durchgehend in der ersten Person erzählt. Nein, vor allem durch das, was er verkörpert. Er ist voller unverarbeiteter Emotionen, die durch das Auftauchen von McMurphy freigesetzt werden. Sein Stamm wurde vom eigenen Land vertrieben, sein Vater wurde daraufhin depressiv und alkoholsüchtig. Fast zum Weinen gebracht hat mich die Schilderung des Chief, wie er überhaupt darauf kam, sich taubstumm zu stellen: denn schon von frühester Jugend an hat man ihm die Rechte als eigenes menschliches Wesen abgesprochen, er war ja "nur Indianer". Nie hat man ihn wirklich gesehen oder gehört. Ungeheuer poetisch, ja beinahe surreal sind seine Schilderungen dessen, was während einer Elektroschock-Therapie passiert, oder was die Auswirkungen "danach" sind. Unvergesslich ist mir das Bild mit dem "Nebel", in dem er oft tagelang versinkt. Oder das Fliegen. Oder eben das Abzählen von Kinderreimen - daher auch der Titel des Buches: "One flew east, one flew west / one flew over the cuckoo's nest".


    [Achtung, wer sich das positive Bild des Chief nicht verderben will, sollte den folgenden Abschnitt besser nicht lesen!]
    Was mich - natürlich - ein wenig geschockt hat, war die Rolle der Sexualität in diesem Buch. Das kam im Film in dieser Form auch überhaupt nicht vor. Die "Big Nurse" wird vor allem gedeutet als verdrehtes Sex-Objekt, mit riesigen Brüsten und knallrotem Lippenstift. Vielleicht aber auch eine andere Form, die Bedeutung und Übermacht ihrer weiblichen Dominanz zu erklären.
    Und als hätte ich es geahnt, wird im Buch auch die wahre Natur der Beziehung zwischen Chief Bromden und McMurphy deutlich. Man konnte es sich fast denken, je länger man las. Denn der Chief ist - was er sich selber nie eingestanden hat - in Wahrheit schwul, und schwer in McMurphy verschossen. Und somit entsteht seine letzte, verzweifelte Entscheidung im Buch letztlich wirklich und wahrhaftig aus Liebe!
    [Entwarnung]


    Nun bin ich am Ende, zwar nur meiner Rezension, aber nicht meiner Begeisterung für dieses Buch. Dies ist ein vergessener Klassiker, den man endlich wieder lesen sollte. Man wird in die verschiedensten Emotionen hineingeworfen, und muss sich ständig selber entscheiden, zu wem man hält. Und zuletzt hat man eine Menge gelernt: über die Gesellschaft und ihre Mechanismen, über Freundschaft und Liebe - und vor allem über den Wert des einzelnen Lebens.

    Ich war nicht so begeistert. Kurz und schmerzlos: hier meine Rezension.


    ***
    Dieses Buch nimmt sich viel vor. Es schnappt sich die deutsche jüdische Vergangenheit, und will sie auf neue Art und Weise porträtieren und umsetzen. Die Autorin bedient sich zweier Mittel, nämlich eines Handlungsgerüsts aus Liebesgeschichte und Familiensaga, und eines Schreibstils frisch aus der Pop-Literatur, voller kleinschrittiger Erzählabschnitte, schräger Personen-Porträts und humoristischer Einschübe. Was dabei herauskommt, ist zweifellos ein eigenwilliges Produkt.


    Ich will nun nicht das Können der Autorin mies machen, oder das Buch an sich verreissen. Festzustellen bleibt für mich jedoch, dass man für diese Art Buch eine Ader haben muss. Leider ist das bei mir weniger der Fall. Für diese Art von Thema hätte ich mir eine eher "klassische" Schreibweise gewünscht. So aber war ich von der Sprunghaftigkeit der Schreibweise, und der teils flotten Ausdrucksweise, eher abgeschreckt. Und auch die eigentliche Thematik, sowie den Fortgang der Handlung und die Auflösung, hätte ich mir origineller gewünscht.


    Es wirkte auf mich oft wie eine postmoderne Collage, und nicht wie ein Buch. Schade. Es gab zwar durchaus tolle Ansätze, wie zum Beispiel die vielen Charaktere, die einem durchaus im Gedächtnis bleiben. Wo gibt es zum Beispiel eine Oma, die trinkfest ist und die Hitler als einen "dummen August" bezeichnet? Oder einen Stiefvater, der gleichzeitig cholerisch und liebenswert ist? Aber, starke Charaktere allein machen für mich noch kein Buch aus.


    Ich würde insgesamt sagen, dass ich weiteren Werken der Autorin durchaus mit Interesse entgegensehe. Denn Talent hat sie durchaus. Nur denke ich, dass sie bei "modernen" Themen und Erzählwelten besser aufgehoben wäre.

    Also, ich habe zuerst die französische Fassung gelesen, und war erstmal nicht so begeistert. Das lag vor allem daran, dass ich vom Handlungsstrang enttäuscht war. Der Krimi wird ja nur vorgegaukelt, nicht richtig ausagiert; und einiges scheint mir auch unlogisch. Aber lest meine Rezi erstmal selbst. Hier ist sie.


    ***
    Wenn ich meine Eindrücke zu diesem Buch in einem einzigen Satz zusammenfassen müsste, dann wäre es wohl dieser: "Warum einfach, wenn es auch umständlich geht." Denn das Buch ist nicht schlecht, nein - so kann man das wahrlich nicht sagen. Aber es ist sehr französisch, schon allein insofern, als es eine Plot-Grundidee, die für sich allein genommen überzeugend wäre, verkompliziert und zerhackt, und noch dazu mit etlichen - meiner Meinung nach überflüssigen - Nebenhandlungen anreichert.


    Wenn man sich also diese Grundidee für den Plot anschaut, so hätte das Buch von - fast - jedem beliebigen westeuropäischen Autor geschrieben werden können. Eine reiche Literaturliebhaberin trifft einen nahezu abgebrannten, aber idealistischen Buchhändler. Daraufhin unterbreitet sie ihm ihre Idee, ihren Lebenstraum: die "ideale Buchhandlung" zu gründen, in der es ausschließlich Romane, und zwar nur sehr gute, gibt. Der Name der Buchhandlung: "Au bon roman", zu Deutsch "Der gute Roman". Der Buchhändler ist begeistert, zumal er mit seinem derzeitigen Chef nichts als Ärger hat. Und so starten die beiden in das wohl größte Abenteuer und Wagnis ihres Lebens. In der Tat eröffnen sie, nach langer Planungszeit, in Paris die besagte Buchhandlung. Doch schon bald weht ihnen ein rauer Wind entgegen. Denn nicht jeder ist von ihrer Geschäftsidee begeistert...


    Doch Laurence Cossé ist nun einmal Französin, und kein Durchschnittsautor. Anstatt die Geschichte nun von A bis Z geradlinig zu erzählen, greift sie zum Beil und zerhackt das Ganze. Nicht A bis Z, nein - zuerst bekommt der Leser so in etwa die Abschnitte R, S, und T vorgesetzt, was die Chronologie der Ereignisse angeht: seltsame Anschläge auf noch seltsamere Menschen, die offenbar Mitglieder eines "Komitees" sind. Man stolpert durch die ersten 30 bis 50 Seiten, und fragt sich, was das Ganze eigentlich soll. Zumindest mir ging es so. Fast hätte ich das Buch abgebrochen, doch ich hielt durch. Wo blieb nur die im Titel versprochene Buchhandlung?


    Ab etwa Seite 50 erschien dann ein Licht ganz am Ende des Tunnels. Die Besitzer der Buchhandlung (!), Ivan und Francesca, entscheiden sich nämlich dazu, aufgrund der besagten Anschläge nun doch die Polizei einzuschalten. Denn die Personen, die anfangs angegriffen wurden, waren allesamt Mitarbeiter des Auswahlkomitees für den "Guten Roman". Und nun, endlich, folgen die Abschnitte A bis Q. Allerdings fand ich dieses Vorgehen nicht nur umständlich, sondern auch vollkommen erzähltechnisch unlogisch. Denn, man stelle sich vor: die Entstehungsgeschichte der Buchhandlung verfolgen wir Leser ja ausschließlich im Rückblick, nämlich gefiltert durch das Gespräch der Besitzer mit Kommissar Heffner. Die Abschnitte A bis Q nehmen weit über zwei Drittel des Buches ein - und das, bitteschön, sollen zwei Menschen einem Polizeibeamten alles in einer Mittagspause so erzählt haben?? Nie im Leben! Schon allein für das Lesen brauchte ich ja über einen Tag.


    Irgendwann ist das Gespräch mit diesem Kommissar Heffner natürlich auch zu Ende, und wir gelangen wieder in die Gegenwart. Die Abschnitte U bis Z folgen - doch auch hier geschieht, rein erzähltechnisch betrachtet, wieder Ungewöhnliches. Man würde erwarten, nun die Ermittlungen zu den Anschlägen zu verfolgen. Doch weit gefehlt. Das Leben in und um die Buchhandlung wird einfach weiter beschrieben. Eine unpersönliche Erzählperspektive in der dritten Person führt uns durch allerlei Geschehnisse. Nach den Anschlägen werden die Methoden subtiler. Es gibt Zeitungskampagnen, getarnte Schein-Kunden - und schließlich eröffnen sogar, in derselben Straße, 3 (!) weitere Buchhandlungen, die ganz ungeniert auf den "Guten Roman" Bezug nehmen. Einer wirbt zum Beispiel mit dem Spruch, "Bei uns gibt es alles, was Sie lesen wollen - und nicht, was Sie gelesen haben sollten". Die Nerven des Personals werden immer dünner, bis - ja, bis sich die Autorin schließlich zu einem Ende entschließt, das für mich fast den Zauber des Buches zerstört hätte. Ich werde nichts verraten - sagen wir so, ich habe es als flach und effektheischend empfunden. Völlig unnötig, wenn man den doch eher getragenen Tenor des Buches betrachtet. Nun ja. Irgendwie müssen auch die besten Bücher wohl zu Ende gehen. Aber doch nicht so...!


    Und wo bleibt dieser Kommissar Heffner? Bis zum Abschnitt U (im Buch ist das der Beginn des vierten Teils) konnte man sich noch in der Hoffnung wiegen, es würde so eine Art Kriminalroman aus dem Buch. Doch nein. Im Rest des Buches taucht der Kommissar nur noch gelegentlich in der Buchhandlung auf, und stellt allerlei Vermutungen und Recherchen vor, die er angestellt hat. Doch nichts, ich wiederhole: nichts (!) wird bewiesen oder geklärt. Der Kriminalaspekt der Handlung verläuft völlig im Sande. Und da fühlte ich mich als Leser schon ein wenig verschaukelt.


    Hinzu kommt Folgendes: die Handlung wird, wie weiter oben schon angedeutet, auch noch durch zwei hoch komplizierte Liebesgeschichten überladen. Es sind nicht einmal richtige Liebesgeschichten. Es wirkt alles so gestelzt, und auf mich auch überflüssig. Dass Ivan schließlich eine Freundin hat, die auch in der Buchhandlung arbeitet - ganz nett, aber unnötig zu wissen. Zumal es wirklich ewig dauert, bis sie seine Freundin wird. Und sie siezen sich die ganze Zeit! Genauso wie Francesca und ivan. Das war für mich nun wirklich nicht mehr nachvollziehbar. Vielleicht muss man dafür Franzose sein, um das zu verstehen.


    Und die Sprache... sagen wir mal so. Ich bin im Französischen nun wirklich kein Anfänger. Doch ich habe mir nun freiwlllig auch noch die deutsche Fassung gekauft, um nicht immerzu jeden zweiten bis dritten Satz erneut lesen zu müssen. Die ganze Ausdrucksweise ist wohl das, was man "altmodisch" oder "gediegen" nennen würde. Eben leicht verstaubt, wie ein Bücherregal. Und nicht selten geht ein Satz mehrere Zeilen lang.


    Meine letztlich doch positive Bewertung von 4 Sternen beruht einzig und allein auf den mittleren Abschnitten, also A bis Q, wie ich das genannt habe (im Buch sind das etwa Teil zwei und drei). Die Entstehungsgeschichte dieser Buchhandlung ist großartig! Die Idee und die Ausführung - einmalig! Da schlägt das Herz jedes wahren Büchernarren höher. Die Ideen, die Laurence Cossé hier verarbeitet, sprudeln vor Fantasie, vor der Liebe zu Büchern und Autoren. Wie wählt man wirklich gute Romane aus? Wen lässt man auswählen? Woran bemisst sich Lesevergnügen? Wie geht es in einer "idealen Buchhandlung" zu? Würde es diese ideale Buchhandlung wirklich geben, ich würde mich sofort in Bewegung setzen, um sie kennenzulernen. Diese Abschnitte übten einen echten Sog aus. Da störte es schon fast, wenn Kommissar Heffner mal wieder eine Rückfrage stellte, oder anderweitig unterbrach.


    Meiner Meinung nach hätte man es bei diesen mittleren Abschnitten belassen sollen. Die Geschichte der Buchhandlung an sich hätte vollkommen ausgereicht, um ein mehr als lesbares Buch zustande zu bringen. Sowohl die Einbettung in die (missglückte) Kriminalhandlung, als auch das bildzeitungshafte Ende, sowie die gestelzten Liebes-Elemente, haben den Glanz, der von dieser idealen Buchhandlung ausgeht, deutlich getrübt. Très francais, très chic - mais très compliqué.
    ***


    Aber, ich gestehe: ich habe mir nun auch die deutsche Fassung gekauft, weil ich glaube, dass es sich in der Muttersprache nicht ganz so altbacken und schwerfällig liest.


    Und noch ein Hinweis: die Literaturliste gibt es in der Originalfassung NICHT!

    Ich hatte mir dieses Buch aufgrund einer geradezu hymnischen Rezension gekauft, die ich gelesen hatte. Außerdem, so wurde mir bei der Informationssuche klar, handelt es sich wohl um ein ausgesprochen berühmtes, gar preisgekröntes Werk. Nun muss man bei weitem nicht jedes Buch gelesen haben, das jemals von einem Kritiker gelobt wurde. Doch die Thematik, eine junge Frau gefangen in einer unglücklichen Ehe, hatte mich dann doch überzeugt. Und die Tatsache, dass es sich um ein ziemlich autobiographisch geprägtes Werk handelt, wie man hört.


    Ob ich dieses Buch allerdings wirklich mag - das ist auch nach langsamem Lesen für mich sehr schwer zu beurteilen. Denn vom Schreibstil her passt es in so gar keine Schublade, es lässt sich weder leicht lesen, noch leicht erfassen. Man kann dieser Geschichte nicht einfach folgen wie einem Film, man wird nicht wirklich von der Autorin an die Hand genommen. Es ist eher so, als werde man von ihr in ihr eigenes Tagebuch hinein geschubst, und muss sich nun darin zurechtfinden.


    Wir haben zwar eine - grobe - Chronologie vor uns, die aber im Laufe des Lesens immer mal wieder durchbrochen wird. Das Buch beginnt mit der Hochzeit der Protagonistin, und endet mit der Scheidung. Doch was dazwischen liegt, bewegt sich gekonnt zwischen allen möglichen Ebenen, zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, zwischen Gedanken und gesprochenen Worten, zwischen Träumen und Depressionen. Das ist sehr anspruchsvoll - ich fühlte mich teilweise sogar fast als Eindringling in diesem Buch, als Fremde in der hoch privaten Gedankenwelt einer völlig verschüchterten Frau, die niemals wirklich Gelegenheit dazu hatte, eigene Wünsche zu entwickeln.


    Es gibt auch etliche stilistische Hürden für den Leser. Es gibt keinerlei Struktur, keine Kapitel, und auch keine Kennzeichnung wörtlicher Rede. Es liest sich wie ein gigantischer Gedankenstrom, und zwar immer aus der Perspektive der jungen Frau - die übrigens, wenn ich mich nicht irre, im Roman (wenn es denn einer ist) keinen eigenen Namen bekommt. Diese innovative Technik hat natürlich auch den Vorteil, dass sehr viel genauer alles das unterstrichen wird, was die Frau an ihrer Umgebung anprangert: Engstirnigkeit, Bigotterie, Heuchelei, und etliches mehr.


    Ab und an hielt ich bei der Lektüre inne, weil mir ein Satz, ein Satzpaar, besonders ins Auge fiel. Denn bisweilen hat die Autorin die nahezu unheimliche Fähigkeit, eine gesellschaftliche , böse Wahrheit so pointiert zusammenzufassen, dass es fast schmerzt. Doch aufgrund dieser gelegentlichen "Perlen" allein kann ich nicht wirklich sagen, dass ein Lesefluss entstanden wäre, oder ein Lesesog. Es war eher ein Gefühl wie Atemnot, eine (zugegeben) genial geschilderte gesellschaftliche Enge, die mich ans Ende des recht kurzen Buches taumeln liess.


    Dies ist sicherlich kein Buch, das sich zum wohlfeilen Konsum eignet. Aber ganz bestimmt ist es ein Buch, über das sich trefflich diskutieren lässt.

    Ich finde eine Einteilung dieses Buches in die Rubrik "reine Sachbücher" schwierig. Sicher handelt es von Dingen, die - leider - auch so geschehen sind. Und sicher ist die Erzählweise der beiden Autoren, beide damals selber beteiligt, berichtend und faktenreich. Beeindruckend auch der große Anteil an "Sachmaterial", wie Fotos und Augenzeugenberichten. Dennoch ist die Absicht, die hinter diesem Buch steckt, für mich spürbar eine andere gewesen als bloße Information. Dieses Buch ist Chronik, Tagebuch und Denkmal zugleich. Ein Stück deutscher Geschichte, das aber vor allem eine Person in den Mittelpunkt stellt: den Mann, der damals die Fäden in der Hand hielt, der organisierte und Helfer um sich sammelte: Wolfgang Fuchs.


    Beide Autoren, sowohl Herr von Keussler als auch Herr Schulenburg, waren damals, Anfang der 60er jahre, Studenten in Berlin. Ihre Welt wird vom plötzlichen Mauerbau erschüttert und entzwei gerissen. Das Buch berichtet sehr lebendig von der damaligen Stimmung unter den Studenten, von Aufruhr und Widerstand. Und es berichtet davon, wie gewisse Verbindungen zustande kamen. Immer um zahlreiche Ecken herum entstehen Kontakte. Durch einen gemeinsamen Bekannten im Wohnheim kommt zuerst Herr von Keussler in Kontakt mit Wolfgang Fuchs aus Jena, der mittlerweile in den Westen geflüchtet ist und nun Helfer sucht, um seine Verlobte und ihre zwei gemeinsamen Kinder nachzuholen.


    Was als punktuelle und rein private Aktion begann, entwickelt sich ziemlich rasch zu einer umfassenden und politisch motivierten Tätigkeit. Der findige Wolfgang Fuchs, der ein ziemlicher Draufgänger gewesen zu sein scheint, erkennt bald, dass noch viel mehr Menschen in der DDR Hilfe benötigen und verdienen, um den dortigen Umständen zu entfliehen. Es beginnt mit Leitern an der Mauer, und endet schließlich mit aufwändig geplanten und in monatelanger, strapaziöser Arbeit gegrabenen Tunneln. Der Leser begleitet diesen stetig wachsenden, idealistischen Trupp junger Männer durch alle Phasen der Planung, der Durchführung und der schließlich stattfindenden Flucht. Trotz des berichtenden Stils steigert sich die Spannung im Buch immer mehr, bis hin zum tragischen Ende der Aktion um den "Tunnel 57". Mit dem ersten Todesopfer, einem DDR-Soldaten, scheint die Truppe ihre Aktivitäten eingestellt zu haben.


    Doch damit endet das Buch nicht. In zwei abschließenden Kapiteln werden noch die Verschleierungs- und Vertuschungstaktiken der Stasi, sowie eine Inhaftierung (Schulenburg) geschildert. Man erhält als Leser so ein abgerundetes Bild, das auch die "real existierenden" Risiken für die Fluchthelfer nicht unterschlägt. Und vor allem lernt man, wie viel der Idealismus einer einzelnen Person, in diesem Falle Wolfgang Fuchs, bewirken kann! Sicher war er keine reine Lichtgestalt - dafür ist z.B. die Finanzlage der Gruppe immer viel zu undurchsichtig geblieben. Aber er war ein tatkräftiger Mensch, und vor allem ein lebenslanger Freund. Vermutlich erst nach seinem Tod im Jahre 2001 beginnen seine Freunde von Keussler und Schulenburg damit, ihm dieses literarische Denkmal zu errichten.


    Obwohl diese Rezension, wie mir durchaus bewusst ist, inhaltlich recht ausführlich ist, möchte ich dennoch jedem eindringlich die Lektüre ans Herz legen. Denn es gibt Dinge, die kann man als Unbeteiligter gar nicht wiedergeben, weil man kein Recht dazu hat. Vor allem ist es mir unmöglich, auch nur annähernd die Gefahren und die Dramatik zu schildern, die damals hinter jeder Ecke lauerten! Wie kann ich mir auch nur anmaßen, "zu verstehen" - ich, die ich noch niemals in einer wirklich existenziell bedrohlichen Lage steckte, die noch nie für ihre Grundrechte kämpfen musste! Dieses Buch hat mir eindrücklich vor Augen geführt, dass diese Periode der deutschen Geschichte niemals "vorbei sein" darf.

    DraperDoyle hat das Buch toll vorgestellt - da möchte ich mich anschließen! Hier meine Rezension.
    ***


    "Aber auch diese Blase platzte, so wie alle vorhergehenden, und die Gasse besann sich wieder auf eine ihrer vortrefflichsten Eigenschaften, nämlich vergessen zu können und sich um nichts zu kümmern. Gab es am Morgen einen Grund zu weinen, so wurde geweint, und brachte der Abend etwas Lustiges, dann wurde herzhaft gelacht."


    Dieses Zitat aus dem letzten Kapitel könnte beispielhaft für das ganze Buch stehen. Denn in der Tat haben wir es hier mit einem beeindruckenden Panorama an menschlichen Charakteren und Erfahrungen zu tun, von arm bis reich, von fromm bis abgrundtief verdorben, von einfältig bis gebildet. Doch alles zieht fast wie in einer eher beispielhaft gemeinten Moritat am Leser vorüber. Man ist beeindruckt vom orientalischen Flair, man wandelt auf den staubigen Gassen, man sitzt im Kaffehaus und raucht Wasserpfeife und trinkt Tee, man lauscht den diversen Streitigkeiten (von denen es im Buch wahrhaftig nicht wenige gibt) - und anschließend kehrt man um etliche unterhaltsame Epsioden reicher eben wieder nach Hause zurück.


    Dennoch reicht dieses Buch tiefer. Liest man es oberflächlich als typischer Westler, ist man versucht, es als Unterhaltung abzutun. Doch das verbietet sich schon allein dadurch, dass man sich Zeitpunkt und kulturellen Rahmen seines Entstehens klarmachen muss. Geschrieben wurde es in den 50er Jahren vom heutigen Literatur-Nobelpreisträger Nagib Machfus, der selber in einem ganz ähnlichen Viertel in Kairo aufwuchs. Er hat einer ganzen Ära und seinem Volk mit diesem Buch ein Denkmal gesetzt, da er einerseits die Geschehnisse deutlich gegen Ende des zweiten Weltkrieges ansiedelt, und andererseits die auftretenden Personen sehr beispielhaft für die ägyptische Gesellschaft der damaligen Zeit auswählt.


    Da haben wir zum Beispiel einen lethargischen Verkäufer von Süßigkeiten, einen auf Erfolg versessenen Geschäftsmann, einen ärmlichen Friseur, einen von Haschisch abhängigen Kaffehausbesitzer mit homoerotischen Neigungen, einen Bettler und "Krüppelmacher", einen scheinheiligen Arzt, einen gläubigen Korangelehrten, einen Heiligen, eine arme Waise, und etliche streitsüchtige Ehefrauen. Diese Mischung sorgt im Laufe des Buches wahrhaftig für viel "Stimmung"; mehr als einmal fliegen Fäuste oder fließen Tränen. Die Einzelheiten der Handlung sind dabei eher unwichtig - doch sehr deutlich wird auch, dass sich dies alles vor der Folie des zweiten Weltkrieges abspielt, und dass das Ägypten der damaligen Zeit um eine eigene Identität ringt. Man steht auf der Schwelle zwischen Vergangenheit und Moderne, und mag sich noch so recht für keine Richtung entscheiden.


    Ich würde das Buch wie einen orientalischen Teppich beschreiben - immer wieder werden einzelne Fäden wieder aufgenommen und miteinander verknüpft, so dass sich im Laufe der 350 Seiten ein gewisses Muster ergibt. Da geht es um ganz grundsätzliche menschliche Leidenschaften wie Liebe und Treue, aber auch um die Suche nach einem Platz in der Gesellschaft, um Reichtum und Ehre. Und nur ganz am Rande um Politik. Die Sprache unterstützt den Eindruck eines beispielhaft gemeinten Porträts. Es wird hier viel eher "fabuliert" als westlich-romanhaft "erzählt". Man wähnt sich geradezu selber im Kaffehaus, während man einem Erzähler lauscht, der genüsslich an seiner Shisha (Wasserpfeife) zieht. Ausufernde und moralisierende Passagen gibt es genauso wie zahlreiche aus dem Leben gegriffene Dialoge - dem Leser wird die orientalische Art, ein Gespräch zu führen, nämlich um zahlreiche Ecken herum, sehr lebendig nahe gebracht. Der eher "fantastische" Gesamteindruck wird schließlich noch dadurch unterstrichen, dass alle Zeitangaben äußerst vage bleiben. Man muss sich den Ablauf schon indirekt erschließen, und sich an dünnen Hinweisen entlang orientieren. Aber das ist hier auch nicht so wichtig. Zeit ist im Orient eben relativ.


    Insgesamt kann ich nur sagen, dass ich mich ein wenig über mich selber ärgere, mich nicht öfter um solche Literatur zu kümmern. Denn Literatur im besten Sinne ist dies wirklich! Dies ist kein billiger Unterhaltungserfolg, der heute so modern geworden ist und genauso schnell aus dem Gedächtnis verschwindet, wie er kam. Um einen eher frugalen Vergleich zu bemühen, ist dies hier die Schnitte Schwarzbrot, die man gründlich kauen muss, um sie zu verdauen. Im Vergleich dazu verblasst vieles andere zu einem undefinierbaren Brei.

    Zwischen Wahn und Wirklichkeit


    Dieses Buch ist für jeden Rezensenten eine wirklich harte Nuss. Denn wie nur soll man etwas bewerten, was sich der Wiedergabe entzieht, was in sich so komplex ist, dass man es nahezu niemandem begreiflich machen kann, der es nicht selber gelesen hat? Dennoch möchte ich mich an dieser herkulischen Aufgabe versuchen, denn diesen Autor sollte man im Auge behalten.


    In der Tat möchte ich mich der Versuchung enthalten, irgendwie näher die Handlung zu referieren. Dazu sagt der Klappentext schon genug, den jedermann leicht nachschlagen kann. Und mit einer bloßen Nacherzählung bekommt man das Buch auch nicht zu fassen - man verfehlt es eher nur. Ich möchte lieber zwei Oberbegriffe bemühen, die für die zwei Haupt-Handlungsstränge des Buches stehen sollen: Wahn und Wirklichkeit. Mit diesen Begriffen spielt der Autor in diesem Buch virtuos, und sagt dem Konzept "Langeweile" engagiert den Kampf an. Denn Langeweile wird man als Leser garantiert nicht empfinden! Obwohl das Buch nicht fehlerfrei ist - doch dazu später.


    Das Buch hat für mich zwei besondere Kennzeichen. Erstens ist das die verschachtelte Struktur, und zweitens die Rolle des Kommissars. Beides sollte man sich klar machen, bevor man die Lektüre beginnt, damit man vor Ratlosigkeit oder Enttäuschung geschützt ist.


    Das Buch ist also ganz und gar ungewöhnlich geplottet - nicht von A wie Anfang bis Z wie Zu Ende, mit einem Spannungsbogen, der sich schön sauber bis zu den letzten Seiten zieht. Oh nein! Und gerade das ist das Ungewöhnliche. Vielmehr hat das Buch seinen Höhepunkt ziemlich genau in der Mitte - und von da an läuft es sozusagen "rückwärts". In der ersten Hälfte hat man es mit zwei Handlungsfäden zu tun, die - wie man langsam ahnt - den Bereichen "Wahn" und "Wirklichkeit" zuzuordnen sind. Man kaut an den Fingernägeln, man weiß teils nicht ein noch aus - man will nur wissen, WAS zum Kuckuck ist denn hier nun Wahn, und was ist Wirklichkeit? Denn dass etwas hier ganz entschieden nicht stimmen kann, das ist recht schnell klar. Ich finde es eine mutige, geschickte und gut umgesetzte Idee, den Höhepunkt dieser Wahn-/Wirklichkeitsdebatte in die Mitte des Buches zu verlegen. Man könnte sich nun fragen, ob dann nicht die Spannung im Rest des Buches verloren geht. Ich würde sagen, die Frage ist falsch gestellt. Denn in der zweiten Hälfte verlagert sich ganz einfach der Fokus. Nun weiß man recht genau, was Wahn und was Wirklichkeit ist - doch wo der verschwundene Junge steckt, und was mit ihm geschah, das ist noch lange nicht ersichtlich.Und auch erst ab der Mitte kommt Kommissar Manthey zum Zuge.


    Womit wir beim zweiten ungewöhnlichen Aspekt dieses Buches wären, der Rolle des Kommissars. Man muss sich unbedingt klar machen, dass hier die Erzählweise nicht (!) vom Kommissar abhängt. Er ist nicht der Held des Buches, und auch nicht der Erzähler. Er ist einfach einer der Beteiligten, die sich durch den Dschungel aus Wahn und Wirklichkeit kämpfen müssen, um ein Leben zu retten. Er ist ein Fädchen unter mehreren, nicht mehr und nicht weniger. Insofern kann man dem Buch vielleicht den Vorwurf machen, es habe keine wirklich ausgearbeiteten Charaktere. Das kann man so sehen. Es ist eine Frage dessen, inwieweit man als Leser bereit ist, sich von klassischen Erwartungen zu lösen. In diesem Buch sollte vorrangig ein Konzept und ein neuer Ansatz getestet werden, wie man wohl Thriller umsetzen kann. Und wenn man sich von diesem Konzept mitreißen lässt, kann man die fehlende Charaktertiefe durchaus verschmerzen. Denn man hat in diesem Buch einfach gar keine Zeit, sich großartig Gedanken um die Personen zu machen. Besonders während der packenden Schlussphase nicht! Die ich hier natürlich nicht weiter erläutere.


    Aber die negativen Punkte will ich auch nicht verschweigen. Im Nachhinein muss ich sagen, dass zwar die Originalität der Handlung ihresgleichen sucht - dass dafür aber die Qualität der Sprache ein wenig gelitten hat. Sicher braucht es nicht jeden Tag ein Nobelpreisträger zu sein - dennoch, die Sätze waren oft doch sehr "stromlinienförmig", sehr gerade, ohne Überraschungen. "Einfallslos" möchte ich nicht sagen - eher "vorhersehbar". Wenig Beschreibungen. Und die Dialoge, das, was die Personen sagten, klang manchmal ein klein wenig hölzern. Ganz besonders bei betrunkenen Ehemännern und wahnhaften Frauen sollte der Autor noch üben! Rein vom Tonfall her klang das nicht immer überzeugend.


    Zweitens möchte ich einfach am Einsetzen des "Wahns" ein wenig zweifeln. Ich bin kein Psychologe, kein Wissenschaftler. Doch ich habe mich schon genug mit der Thematik befasst, um eben Zweifel zu haben. So schnell sollte das gehen? Und in so plakativen Sätzen sollte sich das ausdrücken? Sicher können solche Erlebnisse jede Frau, die selber Mutter ist, aus der Bahn werfen. Aber doch nicht von jetzt auf gleich! Doch ich muss mich zügeln, sonst verrate ich zu viel von der Handlung. Und vor allem: wo ist denn nun die "Katharsis", die einem das ganze Buch über durch die Überschriften versprochen wird? Ich habe sie nicht gefunden. Jedenfalls nicht für die beteiligten Figuren.


    Mein letzter Kritikpunkt gilt einer winzigen Nebenhandlung um Kommissar Manthey, die ich schlicht überflüssig fand. Die hätte es meiner Ansicht nach überhaupt nicht gebraucht, um seinen Einsatz in diesem Fall glaubhaft zu machen. Denn auch er hat in seiner persönlichen Vergangenheit einen traumatischen Verlust erlitten. Hier muss ich nun wirklich sagen, das roch ganz extrem nach Feld-, Wald- und Wiesenpsychologie. Und vor allem ist mir nicht klar, warum sich das am Schluss "so einfach" auflöst.


    Doch insgesamt bin ich von diesem höchst originellen Thriller mehr als gut unterhalten worden. Sicher ließe sich das eine oder andere Detail weiter verfeinern - doch da es offenbar das erste Buch des Autors war, will ich mal annehmen, dass es sich um Unsicherheiten eines Anfängers handelte. In diesem Sinne: weiter so, Siegfried Langer!