Beiträge von Swansea

    Mittelalterliche Geschichte in und um Münster - lebendig erzählt!


    Bei dem historischen Roman der Erfolgsautorin Ulrike Renk "Am Fluss der Zeiten" handelt es sich um den gelungenen Auftakt einer Trilogie, die auf einem authentischen Zweig der eigenen Familiengeschichte der Autorin basiert. Wie immer überzeugt Ulrike Renk mit akribisch recherchierten historischen Fakten, die sie in die Geschichte einer Bauernfamilie (Hof Kalmule) sehr bildhaft, auch detailliert darstellt und einwebt, so dass man das Gefühl hat, man sitzt mit am Tisch des Kalmulehofs und erlebt Freud und Leid zur damaligen Zeit der Familienmitglieder (Heinrich und Gesa, Elzes Eltern; ihre Brüder Drees, der den Hof einst erben wird und 'aufsitzt', Claes, den sympathischen Bruder, der das Müllerhandwerk erlernen wird und ihrer Tante Stine, die Schwester des Vaters, die nach einer sehr schweren Dienstzeit in Münster auf dem Hof aufgenommen wird und Elze mit Rat und Tat zur Seite stehen sollte, ebenso wie ihre Mutter Gesa).


    Nähe Lüdinghausen, Hof Kalmule, 1551:

    "Elze wächst mit ihren Geschwistern als Eigenbehörige auf dem großen Hof Kalmule auf. Die harte Arbeit auf den Feldern ist ihr Alltag. Doch ihr Leben wandelt sich von Grund auf, als sie ihre Familie verlassen muss und ihren Pflichtdienst als Küchenmagd in der Stadt Münster antritt. Eines Tages wird sie jedoch mit einer Magd der Herren von Oer getauscht und muss zukünftig auf der Wasserburg Kakesbeck leben, auf der ein Fluch liegt. Dort trifft sie auch Jacob wieder. Aber um den Müllerssohn ranken sich geheimnisvolle Gerüchte. Soll sie diesen Glauben schenken? Und wird Elze nun Teil der alten Prophezeiung werden, um den Fluch der Familie vor Ort zu brechen?" (Quelle: Buchrückentext des Verlags)


    Vor dem Hintergrund des Spanisch-Niederländischen und des 30jährigen Krieges gibt Ulrike Renk hier einen historisch fundierten und unterhaltsamen Einblick in das Leben einer eigenbehörigen Bauernfamilie: Man begleitet Elze, die Hauptprotagonistin nach Haus Senden (das eine excellente Küche hat, wofür Berta, die dortige sympathische Köchin sorgt), von wo sie nach Münster ins Haus von Jobst von der Recke gebracht wird, wo sie ihren Dienst als Magd für ein Jahr verrichten soll. Durch einen Tausch, den eine dortige Dienstmagd geschickt einfädelte, um Drees, den Bruder von Elze zu heiraten und als Bäuerin 'aufzusitzen', wird sie jedoch zur Burg Kakesbeck geschickt, auf der ein Fluch, liegen soll.


    Man erfährt von der Schwerstarbeit auf den Feldern von Hof Kalmule, dem einfachen Leben der Bauern zu jener Zeit, die als Eigenbehörige wie Leibeigene des jeweiligen Amtsmanns (des Domkapitel Münster) behandelt wurden oder eines Burgherrn (Herren von Oer) Frondienst leisten mussten; Spanndienste u.a. gehörten ebenfalls zu den Pflichten der Bauern, die Pferde besaßen sowie Abgaben, die zu bestimmten Zeiten zu entrichten waren. Hier fand ich die aufgezeigten Unterschiede zwischen freien Bauern und Eigenbehörigen sehr interessant, die mir neu waren. Auch wusste ich nichts über das Jahr der Täufer in Münster, deren Körbe, in denen man sie richtete, noch heute an einer Kirche hängen.


    Die Autorin schafft es, die Zeit Mitte des 16. Jhd. wieder aufleben zu lassen, indem sie sehr bildhafte Schilderungen der Geschicke der Bauernfamilie erzählt; sehr interessant auch die politischen Veränderungen durch nahende kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Herzog Heinrich und Bischof Franz: Wie zu allen Zeiten war beiden daran gelegen, ihre Pfründe zu sichern...

    Auch Kirchengeschichte der Stadt Münster, die für Elze voller neuer Eindrücke und Gerüche gewesen sein mussten, fließt in den Roman mit ein; klar erkennbar ist, wie sehr die Bauern unter der Knechtschaft von Kirche und Obrigkeit litten und dieser ausgesetzt waren. Die verlangten Abgaben in Form von Naturalien (Hühner, Schweine, Getreide, Butter) überstiegen - je nach Ernteerträgen - oft die Möglichkeiten der Bauern, die trotz Schwerstarbeit dann kaum über den Winter kamen und zeitweise hungern mussten.

    Zu dieser Zeit herrschte Aberglaube in der Bevölkerung (Fluch auf Burg Kakesbeck) und Vorbehalte gegenüber Müllern, die für das Volk 'mit dem Teufel paktierten'. Dass dieser Stand (dem ich selbst wohl entstamme ;) einen solch' schlechten Ruf hatte, war mir bisher unbekannt. Umso mehr freut man sich mit Jacob, dem sympathischen Müllerssohn, dass Elze ihm längst ihr Herz schenkte und nichts auf diese Vorbehalte gibt. Was auch zu dem Bild passt, das man sich von Elze machen konnte: Sie ist mutig, tapfer, klug (des Lesens und Schreibens kundig, was für eine Bauerntochter etwas Besonderes war) und geht ihren Weg, auch wenn er einmal holprig ist. So hat der Roman einen hoffnungsvollen Schluss, bei dem man jedoch gleichzeitig befürchtet, dass das Herannahen eines Krieges Elzes weiteres Leben ebenso bestimmen wird (und das von Jacob) und vieles schwierig machen wird. Sehr zu denken (aktuell betrachtet, in Zeiten schlimmer kriegerischer Auseinandersetzungen) gibt einem in diesem Zusammenhang ein Zitat von Stine, Elzes Tante:


    "Der nächste Krieg könnte das Ende der Welt bedeuten. Nicht der Teufel wird das Ende bringen, es sind die Menschen, die im Kampf zu Teufeln werden." (Zitat S. 138)


    Fazit:


    Ein sehr interessanter, bildhaft erzählter Roman, der Mitte des 16. Jhd. in Münster und Umgebung verortet ist, in dem man ein kluges, sympathisches Bauernmädchen, Elze und ihre Familie begleitet, wobei man viel Historie und etwas Kirchengeschichte in dieser unruhigen Zeit erfährt. Der Fokus liegt auf dem Leben der einfachen Bauern, was ihn sehr lesenswert und ab der Romanhälfte auch spannend macht. Auf die Nachfolgebände bin ich bereits jetzt sehr gespannt und empfehle den Auftakt sehr gerne weiter!


    4****

    Auge um Auge - Zahn um Zahn: Der 7. Fall für Jackson Lamb und seine Slow Horses


    Durch Zufall (und dank "vorablesen") bin ich vor Jahren auf Band 1 dieser inzwischen 7 Bände umfassenden und ins Deutsche von Stefanie Schäfer übersetzte Reihe gestoßen; seither gehört Mick Herron mit seinen genialen Fällen um die "Abservierten", die Slow Horses und durch seine Figurenzeichnung und extrem spannende Spionagehandlungen zu meinen absoluten, ureigenen Lieblings-(spionage)krimi-Autoren aus GB!

    Es besteht in jedem Band ein realer Bezug zu den realen Vorkommnissen in der Welt der Geheimdienste, die (meist, es sei denn, es geht wie hier auch mal recht brutal und gewalttätig zu) höchstvergnüglich und mit satirischen Seitenhieben köstlich pointiert zu lesen sind. Im vorliegenden Fall besteht ein Bezug zu dem Nervengift Nowitschok, auf Skripal, einen russischen Geheimagenten und seine Tochter wurde 2018 ein Giftanschlag verübt, der diesem Buch gewissermaßen eine gar nicht unreale Charakteristik gibt und durchaus Parallelen aufweist.


    Roddy Ho, IT-Experte mit Ninja-Fähigkeiten und ein Slow Horse, entdeckt, dass sowohl das Slough House als auch die Slow Horses selbst aus der Datenbank des Regent's Park entfernt worden sind - was ihn in Alarmbereitschaft versetzt. Frühere Slow Horses wie Kay White und Struan Loan finden ein tragisches Ende, normale Todesfälle? Zufall oder Schicksal? Da die Agenten wie Catherine Standish, Shirley Dander, Lech Wicinczki, River Cartwright, Roddy Ho und Louisa Guy inclusive dem Leiter des Slough House, Jackson Lamb (wie immer auffallendes Sozialverhalten; er trinkt, rülpst und furzt gerne in Anwesenheit seiner 'Pappkameraden') zwar irgendwann in ihrem Leben einen Fehler machten und degradiert wurden, im wahrsten Sinne des Wortes vom MI5 abserviert wurden, heißt dies noch lange nicht, dass man es hier nicht mit fähigen Agenten zu tun hat: Sie bemerken sehr wohl, wenn sie beschattet werden, wissen sich auch zu wehren und da neuerdings ein Paar (Mann und Frau) in Missionarstracht umherzieht, bevor ein früheres Slow Horse den Tod findet, entwickeln manche fast eine Paranoia. Dem sonst sehr gleichgültigen Lamb ist dies nicht egal. Er mag es nicht, wenn seine Joe's die Straße pflastern (auch die von früher) und muss letztendlich einen Aktivierungsbefehl ausgeben, der aus drei Worten besteht: "Blakes Grab. Unverzüglich". Ein Safe House wird gefunden, in den die Agenten erstmal (mit indischem to go-Essen reichlich versorgt) untertauchen können. Doch dies geschieht natürlich nicht, bevor Lamb mit der Direktorin des MI5 - Diana Taverner - für Eingeweihte Lady Di - ein Machtwörtchen gesprochen hat.


    Doch bis es dazu kommt, erfahren wir in mehreren Erzählsträngen sehr gekonnt und wie gewohnt höchst spannend von den Hintergründen der Welt der Geheimdienste: In Russland wurde eine mutmaßliche beteiligte Frau ermordet, die zuvor am Giftanschlag in GB mitwirkte; dies bringt Putin zum Zähneknirschen und er schickt seinerseits seine Söldner (selbst einst dem KGB entsprungen) nach England, um Rache zu üben. All dies geschieht, während Peter Judd und Diana Taverner (er kein großes Tier mehr, aber dennoch mächtig) wie üblich die Strippen hinter den Kulissen ziehen und Sorge tragen, dass - zumindest nach außen hin - alles hübsch 'sauber' aussieht. Allerdings kann man bei diesen Machenschaften nicht davon ausgehen, dass auf irgendeiner Seite Wert auf Menschenleben gelegt wird: Hier gibt es durchaus Kollateralschäden; wie z.B. André - eigentlich Andrej und russischer Staatsbürger, der ein Buch über Putin schreiben wollte, in GB lebt (mit Reece Nesmith zusammen, ebenso kleinwüchsig wie er), aber lange in Moskau lebte: Reece erhält die Nachricht, er sei dort verstorben und ist völlig am Boden über diese Nachricht. Weiß er doch, dass sein Freund (der schon eine Menge Fakten gesammelt hatte) ausgeschaltet worden war. Neugierig geworden, sucht Lamb ihn auf.


    Auch erleben wir Medienmogule, die durch Macht und viel Geld in der oberen Liga mitspielen wollen. Selbst mitbestimmen wollen, was nicht im Sinne einer Diana Taverner oder eines Peter Judd liegt; die jedoch auf Sponsoren angewiesen sind, um den Geheimdienst am Laufen zu halten. Wir sind auch kurz im Archiv bei dem Dinosaurier auf Rädern in Form von Molly Doran, der übel mitgespielt und Informationen entrissen wurden, die sie gar nicht preisgeben wollte. Wer hat diese Informationen in die falschen Hände kommen lassen und ist für Morde auf britischem Boden verantwortlich? Wer ist hinter den Slow Horses, hinter Sid Baker, die wie durch ein Wunder wieder auftauchte und sich im Haus des O.B. versteckt, her und will sie umbringen? Im letzten Drittel dieses genialen Spionagethrillers steigt die Spannung ins Unermessliche und Herron lässt die Fäden wie üblich gekonnt und mit markigen Sprüchen zusammenlaufen. Allerdings geschieht etwas, womit sicher niemand rechnete und das man als Cliffhanger bezeichnen kann: Ich hoffe, Frau Schäfer's deutsche Übersetzung lässt nicht lange auf sich warten, da ich mit den Slow Horses mitfiebere (und bete, da es um einen meiner Lieblings 'Joes' geht).


    Mick Herron nimmt pointiert, mit triefendem Sarkasmus und tollen Wortspielen und mit Seitenhieben auf Politik, Medien und Wirtschaft die Machenschaften der Mächtigen auf's Korn; auch die der Geheimdienste, der Verbündeten, der Strippenzieher und der Geldgeber. Er lüftet einen imaginären Vorhang, hinter dem es ganz genau so (oder sehr ähnlich) zugehen könnte und der den Blick eines Gemeinsterblichen hinter diese Kulisse im Allgemeinen zu vereiteln sucht. Die (verdienten) Seitenhiebe und die schrägen Charaktere der Slow Horses, besonders Jackson Lamb's, setzen dem ganzen die Krone auf (wenn es z.B. darum geht, dass einem Medienmogul klar wird, dass ein Ex-Politiker im Grunde nur einen "Königsmacher" sucht - und die Beteiligten beim letzten Mal noch Gehröcke trugen).


    Ein Lesevergnügen der 'besonderen Art'; daher meine absolute Empfehlung (in chronologischer Reihenfolge) und volle Punktezahl! 5* (und Vorfreude auf den 8. Fall für die Slow Horses!)


    ASIN/ISBN: 3257301111


    "Und dahinter das Meer" von Laura Spence-Ash, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann, erschien (HC, geb., 364 Seiten) 2024 im mareverlag, Hamburg. Es handelt sich um ein sehr lesenswertes Début der Autorin, die spät zum Schreiben fand ("alles hat seine Zeit", wie sie im Vorsatz zum Leseexemplar treffend bemerkt), das die Geschichte zweier Familien in Kriegs- und Nachkriegszeiten in Amerika (Boston) und England (London) auf sehr einfühlsame, emotionale Weise erzählt, die durch das Verschickungskind Beatrix (11), das sicherheitshalber 1940 von ihren Eltern Millie und Reginald Thompson zu den Gregorys nach Boston geschickt wird, miteinander verbunden sind.


    In drei Teilen wird die Familiengeschichte, die auch ein Stück Zeitgeschichte ist und die Jahre 1940 bis 1977 umfasst, dargestellt: Wir erleben die Ankunft des Schiffes von Bea, wie sie fortan bei Nancy und Ethan Gregory und ihren beiden Söhnen William und Gerald genannt wird und die 5 Jahre von Bea in der Gastfamilie, die das Kriegsende markiert und die Rückkehr zu Millie Thompson von Beginn an vorsieht.


    Nancy Gregory oder "Mrs. G." ist eine wunderbare Frau und Mutter, die sich sehnlichst eine Tochter wünschte. Dass Beatrix die Lücke füllen würde und auch ein Gleichgewicht in der Familie mit zwei sehr gegensätzlichen Jungs darstellen wird, hätte niemand vorhersagen können. Man spürt die Angst Beatrix vor der neuen Situation, aber auch die Herzlichkeit, in der alle sie in der Familie aufnehmen. So dauert es nicht lange, bis sie ein "zweites Zuhause" hat und sich mehr und mehr zu William hingezogen fühlt. Dieser wirkt im Roman etwas rastlos, getrieben und immer auf der Suche: Als sich beide im Teenageralter näherkommen, muss Beatrix zurück nach England. An Gerald, dem ruhigeren der beiden Brüder, ist diese Nähe zwischen William und Beatrix (die er auch sehr mag) nicht verborgen geblieben. Wird Beatrix den Kontakt zu der Familie Gregory halten? Werden alle an die wunderschönen Sommer auf der Insel in Maine, wo alle ausnahmslos sehr glücklich waren, zurückdenken?


    Diesen Fragen widmet sich dieser Roman, der in der ersten Hälfte sehr detailliert die inneren und äußeren Welten der Gregory's und Thompsons beleuchtet. Die Emotionen und die Zerrissenheit von Beatrix gehen dabei sehr zu Herzen, da man sich in ein Mädchen von 11 Jahren, die alleine in die Fremde geschickt wird, vorstellen kann. Man freut sich aber auch mit Bea, wie gut sie sich bei der warmherzigen Familie Gregory einleben kann und wundert sich weniger, dass ihr früheres Leben in London (in Amerika war alles größer) nach und nach verblasst. Auch Unsicherheiten da sind, was sie der Mutter schreiben soll - und was lieber nicht. Sie spielt eine Art Vermittlerrolle zwischen dem anfangs 9jährigen Gerald und dem 13jährigen William, der alles andere als nach Harvard (wie sein Vater und sein Großvater) will, sondern grundsätzlich ganz weit weg; Bea ist nach und nach ein Teil der Familie, die sie ebenso liebt wie dies bei allen Familienangehörigen der Fall ist. Wir erleben Thanksgiving, Weihnachten und die unvergesslichen Sommer in Maine mit Beatrix, wo besonders Mrs. G. unglaublich glücklich ist. Aber auch die Schattenseiten; der Tod des Vaters in England, der Eintritt Amerikas in den zweiten Weltkrieg, der Angriff auf Pearl Harbor, lässt die Autorin nicht aus. So ist dieser vorwiegend zu nennende Familienroman auch ein Stück Zeitgeschichte, die besonders Amerika in Kriegs- und Nachkriegsjahren gesellschaftlich nachzeichnet. So interessiert sich eine Romanfigur besonders für die Kennedy's und man erlebt, wie John F. Präsident wird - und liest von seiner Ermordung. Der Roman ist einerseits sehr emotional und berührend, andererseits aber auch sehr tiefgründig; so geht es auch um "Ängste, die greifbar werden, wenn ein Land sich im Krieg befindet" (Zitat S. 76). So geht es auch um Briefe, die geschrieben, jedoch nie abgeschickt werden und um die Entfremdung zwischen Beatrix und Millie, ihrer Mutter in England: Lange wird es dauern, bis diese begreift, dass Mrs. G. in Boston ein großes Herz hat und ihre Tochter ebenso liebt wie sie selbst es tut. Noch länger, bis ihre Vorbehalte und ihre Eifersucht besiegt sind und beide sich annähern werden.


    Es werden auf sehr einfühlsame Weise zwischenmenschliche Beziehungen nachgezeichnet, die sich durch die Ausgangssituation entwickeln - und auch die Folgen dieser Zeit für einige Romanfiguren, die sehr authentisch wirken. Ist die erste Hälfte des Romans etwas sehr detailliert, etwas langatmig und fast ausufernd, so entschädigt die zweite Romanhälfte umso mehr: Bewegt folgt man den Bildern aus der Vergangenheit der Gregorys, die immer wieder auftauchen durch spätere Besuche von Beatrix, die sehr emotional, menschlich und bewegend anmuten, was den Wert dieses Romans meiner Meinung nach am meisten unterstreicht: Er zeigt, wenn auch beispielhaft in der Darstellung der Thompsons in England und der Gregory's in Boston sehr bildhaft, wie sehr Familien durch Kriege auseinandergerissen werden können. So dauerte es Jahre, bis "die Mauern zwischen Millie und Beatrix nach und nach abgeräumt werden konnten" (Zitat S. 338). Lediglich das Erzähltempo hätte ich mir etwas ausgefeilter, ausgeglichener gewünscht (z.B. die Rückreise von Bea nach 5 Jahren in Boston ist etwas kurz geraten), hier sehe ich noch Potential.


    Ein sehr lesenswerter Roman, den ich sehr gerne weiterempfehle, da er anhand der emotional feinfühligen, warmherzigen Beschreibung der Gefühlswelten zweier Familien in Kriegs- und Nachkriegszeiten auch historische und zeitgeschichtliche Ereignisse dokumentiert, die oftmals ein Nachspiel im Leben haben. Menschen aber auch lernen können, "über sich selbst hinauszuwachsen" und ihrem Herzen zu folgen. Auf der Shortlist des Buchpreises der Unabhängigen Buchhandlungen in Deutschland stehend, wünsche ich Laura Spence-Ash und ihrem Roman sehr viel Glück! 4****



    Von der irischen Autorin Liz Nugent, deren Buch (Genre Psycho-Thriller) "Seltsame Sally Diamond" in deutscher Übersetzung von Kathrin Ranzum im Steidl-Verlag (2024, HC, 336 S.) veröffentlicht wurde, hatte ich zuvor noch nichts gelesen. Dies wird sich höchstwahrscheinlich seit diesem außergewöhnlichen Lesegenuss aber fortan ändern!


    "Als Ihr Adoptivvater stirbt, tut Sally Diamond genau das, was er ihr aufgetragen hatte und entsorgt seine Leiche mit dem Müll. Ein Fehler, denn plötzlich interessieren sich alle für die seltsame Frau, die am liebsten für sich bleibt: Polizei, Nachbarn, Medien - und eine unheimliche Stimme aus der Vergangenheit, von der sie nichts mehr weiß. Während sie nach und nach von den schrecklichen Geheimnissen ihrer frühen Kindheit erfährt, nähert sich Sally zum ersten Mal vorsichtig der Welt. Sie übt sich in Vertrauen, schließt Freundschaften, trifft große Entscheidungen und lernt, dass Menschen nicht immer meinen, was sie sagen und nicht immer sind, wer sie vorgeben zu sein.


    Ein Buch, das unter die Haut geht, düster, hoch spannend und ergreifend - und mit einer Hauptfigur, die so entwaffnend ehrlich, liebenswert und einzigartig ist, dass man sie nicht vergisst." (Quelle: Buchrückentext des Verlags)


    Ein sehr außergewöhnliches Buch, eine tolle Autorin, die hier einen unnachahmlichen Sog entwickelt hat, der auch mich gefangen nahm...


    Sally Diamond (ihr Geburtsname lautet anders, sie wurde adoptiert), lebt bei ihren Adoptiveltern sehr zurückgezogen. Beide sind Psychiater und Thomas Diamond, inzwischen hochbetagt, äußert sich Sally gegenüber so, dass sie ihn nach dessen Tod in der Tonne (hinter dem Haus) verbrennen soll. So äschert sie ihn weisungsgemäß ein, ohne die Folgen zu bedenken...

    Denn dass, was Sally gut kann, sind grundsätzlich Anweisungen zu befolgen. So liebt sie z.B. Rezepte, die sie hervorragend nachkocht und spielt leidenschaftlich gerne Klavier (was sie sehr beruhigt). Denn: Sie ist "sozial defizitär"; zeitlebens hat Thomas Diamond sie von PsychologInnen ferngehalten (ausser von sich selbst) und die ausgeprägte Sozialphobie Sallys wachsen lassen (was ebenfalls nach dessen Tod Folgen haben sollte). Wäre da nicht Dr. Angela Caffrey, der Sally vertraut und die früher mit ihrer verstorbenen Adoptivmutter zusammenarbeitete, dieser nahestand und um Sally's "anderssein" wusste.


    Bereits in der Schule separierte sich Sally selbst, nahm an keinen gemeinschaftlichen Ausflügen teil und ging direkt nach Hause. Nur ein stotterndes Mädchen, ebenso gemieden wie Sally von den MitschülerInnen, sah in ihr nicht "die seltsame Sally", sondern nur, dass sie eben anders war als die anderen.


    Weshalb war dies so? Dieser Frage geht dieses Buch so subtil nach, dass man immer wieder Gänsehaut bekommt und einem zuweilen der Atem stockt, wenn man sich vor Augen führt, was Sally bis zu ihrem 4. Lebensjahr erlebt haben mag....


    So verfolgt man aufmerksam, in kurzen Kapiteln, die hochspannend und oft dramatisch, aber auch mit außergewöhnlichem psychologischem Feinschliff beschrieben sind, die Lebensstationen von Sally nach dem Tod von Thomas, der ihr vieles "lebenspraktische" nicht beigebracht hatte. Man freut sich mit ihr über ihre Fortschritte und bedauert es, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt.


    Durch das Auftauchen ihres Bruders Peter bzw. Steve, von dem sie lange nichts wusste und dessen schwierigen Lebensweg der Roman im zweiten Erzählstrang beschreibt, und dem Herausfinden von Tatsachen, was mit ihrer Mutter Denise geschehen ist, wird sie lange Zeit psychisch sehr herausgefordert, nimmt jedoch auch Hilfe in Form von therapeutischen Sitzungen an und will lernen, "zwischen den Zeilen zu lesen", was die Menschen wirklich meinen (lange dachte man, sie könne gar nicht sprechen; auch hier ist sie anfangs hilflos und überfordert).


    Auf die Details gehe ich bewusst nicht ein an dieser Stelle, da ich damit spoilern würde und diesem Buch viele LeserInnen wünsche, die es mit ebenso stockendem Atem lesen möchten, wie ich es tat. Auch nicht auf die Hintergründe, denn diese sind grausam und oftmals unmenschlich, jedoch durch den Stil der Autorin durchaus lesbar und erkenntnisreich: Ein Psycho-Horror-Roman mit Krimielementen, der es wahrlich in sich hat!


    Fazit:


    Verstörend, faszinierend, außergewöhnlich und auch brillant mit psychologischer Finesse entführt Liz Nugent (ihr Name sollte man sich merken!) ihre Leserschaft in tiefste menschliche Abgründe, wo zuweilen dennoch Gutes und auch die Hoffnung durchblitzt. Mehr von Liz Nugent gibt es im Steidl-Verlag, dem ich sehr dafür danke, sich für irische AutorInnen einzusetzen, ganz besonderen Dank in diesem Zusammenhang an Claudia Glenewinkel! Ein ganz außergewöhnliches, absolut empfehlenswertes Leseerlebnis - und Roman! 5*

    "Die Gräfin" von Irma Nelles erschien (2024, geb., HC, 169 S.) im Hanser-Verlag (Reihe hanserblau). Um die historisch verbriefte "Hallig-Gräfin"; Gräfin Diana von Reventlow-Criminil, ranken sich noch heute Mythen und Geheimnisse.

    Die Autorin (geb. 1946), selbst auf Nordstrand aufgewachsen, hat sich hier einem der Geheimnisse gewidmet, das in der nationalsozialistischen Diktatur Deutschlands im Jahre 1944 auf der Hallig Südfall verortet ist:


    Inhalt:


    Ende August besteigt der RAF-Pilot John Philip Gunter sein Flugzeug, um alleine und ohne Kontakt zum Kontrollzentrum einen Beobachtungsflug Richtung Norddeutschland/Schleswig durchzuführen; der Auftrag erfüllt ihn mit Stolz, ist er doch als erfahrener Bomberpilot immer lebend nach England zurückgekehrt...


    12 Stunden später schlägt Hunter, der Hund von Gräfin Diana, an und lässt sich kaum beruhigen: Kurzentschlossen reitet die Gräfin ins Watt und findet den Grund von Hunter's Beunruhigung, die sie zuerst der herrschenden Hitze zuschreiben wollte: Sie findet ein Flugzeug, in dessen Cockpit ein verletzter Pilot sitzt. Nur mit Hilfe von Maschmann, ihrem langjährigen Kutscher und Hausmeister, gelingt es ihr, den Mann zu befreien und auf die Warft zu bringen. Dort sieht am nächsten Tag das befreundete Ärzte-Ehepaar Carl und Käthe Braack nach dem Patienten, der sich gesundheitlich während der nächsten Tage erholen sollte....


    Meine Meinung:


    Dieser zeitgeschichtliche Roman, der mit wenig Personal auskommt, ist sehr atmosphärisch und tiefgründig; spannungsvoll erzählt die Autorin von Gräfin Diana, die hier die Hauptprotagonistin darstellt und eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein muss: Geboren auf Schloss Emkendorf nahe Rendsburg wohnte sie, bereits erwachsen, nach dem Tod beider Eltern wenige Jahre mit Bruder und Schwägerin im Schloss; in dem sich der europäische Hochadel zu dieser Zeit die Klinke in die Hand drückte. Sie merkte jedoch immer mehr, dass sie diesen ausschweifenden, exzentrischen Lebensstil eher ablehnte und reiste Richtung Norden (sie hatte in Dänemark bei ihrer Tante wunderschöne Jahre verbracht), als sie vom Verkauf einer Warft auf der Hallig Südfall erfuhr: Sie sollte ihr Domizil hier gefunden haben, in dem sie eine schlichtere Lebensweise vorzog, "zurückgezogen von allen ihr widerstrebenden Einflüssen und Machenschaften, fern von Rücksichtslosigkeit und Demütigung, die Menschen einander zufügen konnten, kam sie in Ruhe ihren täglichen Pflichten nach" (Zitat, S. 16).


    Mit dem Auftauchen des englischen Piloten wird jedoch in der Gräfin, (die hochgebildet ist, sich nicht gerne in etwas hineinreden lässt, Briefkontakte in aller Welt besitzt und diese auch nutzt, um z.B. flüchtigen Juden zu helfen, die auf den Nationalsozialismus nichts hält und unerschrocken gewissermaßen im Untergrund agiert), etwas zutage gefördert, das sie an ihr junges Ich erinnert: Hier liegt das m.E. Tragische in diesem Roman: Da sie sich niemals einem Mann unterordnen wollte, ließ sie Liebe niemals zu und sperrte sie vollkommen aus ihrem Leben aus.


    Wer den Roman liest (und ich hoffe, er stößt auf viel Resonanz, da ich ihn für sehr lesenswert halte), wird erfahren, aus welchem Grund das Leben dieser sehr starken, selbstbestimmten Frau so verlaufen ist, die noch im Alter von über 80 Jahren gerne anderen hilft; selbstlos ist, wenn es um Gerechtigkeit geht und bar allem nationalsozialistischen Denkens. Wie im Übrigen auch Maschmann, ihr Kutscher, der am liebsten Plattdeutsch spricht (da er Hochdeutsch nie lernen mochte) und seit Langem für die Gräfin gerne arbeitet: Ein sehr sympathischer Mann, ebenso wie Sörensen, der ihm hilft, das Wrack von John in den Hangar zu bringen. Auch das junge Hausmädchen Meta ist ein Glücksgriff für die Gräfin - und als Figur ebenso sympathisch. Der Arzt, Carl Braak, der gerne BBC hört und aufpassen muss, was er zu wem sagt, stimmt völlig mit den anderen überein, dass der Krieg schon lange verloren ist und dem Piloten geholfen werden muss, bis dieser reisefähig ist.


    Besonders gut gefielen mir die Naturbeschreibungen; die raue Welt der Halligen, die öfter "Land unter" sind und dem "Blanken Hans" völlig ausgeliefert. Das verwendete Plattdeutsch (Maschmann) verleiht dem Roman sprachlich viel Authentizität. Auch ein Stück Geschichte der Halligen findet sich in diesem wundervollen Roman; ebenso ein Stück Zeitgeschichte, das sich genau so abgespielt hätte haben können.


    So erlebt man sechs Tage dieser zusammengewürfelten Hallig-Gemeinschaft, die zwar nicht ganz frei von Misstrauen ist, letzten Endes jedoch voller Menschlichkeit, Unerschrockenheit und Großmut besteht. Allen voran "die Hallig-Gräfin". Das Ende lässt die Autorin offen; was mich nicht störte. Gibt es doch Raum für eigene Gedanken und Hoffnung, dass alles bis zum Kriegsende gut ausging für John, die Gräfin, Meta, Maschmann und das Ehepaar Braack!


    Ich empfehle den Roman sehr gerne weiter und vergebe solide 4*

    Das erste Buch, das ich von Kai Meyer gelesen hab', war "Die Alchemistin" - und spielte überwiegend in Prag. Fantastische Geschichte und ebenso fantastisch geschrieben!


    Seither bin ich auf der Suche nach den 2 Nachfolgebänden (Teil 2 ist "Die Unsterbliche"), die es in print-Form kaum noch - oder ziemlich teuer zu kaufen gibt.... (Teil 3 ist "Die Gebannte").

    "Das größte Rätsel aller Zeiten", das Début des britischen Autors Samuel Burr, erschien (HC, 443 Seiten) 2024 im Dumont-Verlag, Köln. Der lesenswerte Roman, der die Themen Herkunft (eigene), Gemeinschaft, Hilfsbereitschaft, Selbstfindung, Puzzles und Rätsel sowie Freundschaft und Vertrauen beinhaltet, hat mir gut gefallen, da er interessante Leitsätze in sich trägt, auf denen menschliche Beziehungen gegründet sein sollten - und durch die kurzen Kapitel, die sich auf zwei Zeitebenenen in England (London und Südengland) bewegen, auch bis zur letzten Seite Spannung enthält. Zudem ist der Hauptprotagonist (Clayton Stumper - für die Gemeinschaft der Rätselmacher das größte Rätsel) sehr sympathisch und man folgt mit Spannung seinem eigenen Weg der Selbstfindung.


    "Clayton ist das mit Abstand jüngste Mitglied der "Gemeinschaft der Rätselmacher. Und gleichzeitig ihr größtes Geheimnis. Wer hat ihn vor fünfundzwanzig Jahren in einer Hutschachtel vor den Toren von Creighton Hall ausgesetzt? Clayton liebt seine exzentrische Wahlfamilie, doch die Rätselmacher werden nicht jünger und zunehmend vergesslich. Als der erste Bewohner im hauseigenen Irrgarten verlorengeht und ein Todesfall die Gemeinschaft erschüttert, weiß Clayton, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, um das Rätsel seines Lebens zu lösen. Kein Problem, schließlich hat er von den Besten gelernt. Aber wie löst man eigentlich eine U-Bahn-Fahrkarte? Das Abenteuer beginnt." (Quelle: Buchrückentext des Verlags)


    In diesem etwas skurrilen, aber wirklich lesenswerten Roman begegnet man außergewöhnlichen Denkern; allen voran die liebenswerte Pippa Alsbrook, die eines Tages einen Säugling in einer Hutschachtel auf der Treppe vor Creighton Hall, dem Sitz ihres Familienerbes und später Wohnort der Gemeinschaft, findet: Vom ersten Augenblick war klar, dass zwischen ihr und Clayton eine innige Bindung entstehen sollte (sie war zu diesem Zeitpunkt 64 und kinderlos), die bis zu ihrem Tode anhielt: Mit 89 Jahren stirbt Pippa und Clayton wird klar, dass er seinen eigenen Weg finden muss; das Rätsel seiner Herkunft lösen muss.


    Der geneigte Leser, (vor allem jene, die Rätsel mögen), begleitet nun Clayton auf seinem zuerst holprigen Weg, wobei er weiß, dass alle "Rätselmacher" der Gemeinschaft; besonders Nancy Stone (Quiz-Königin) , aber auch Hector Haywood (Künstler und Erfinder fröhlicher Puzzles; wobei er selbst immer griesgrämig ist); Earl Vosey, der Meister der Labyrinthe - zu dem er ein besonders enges Verhältnis hat - und die anderen ihm helfend zur Seite stehen. Er geht mit wachen Augen auf seine Reise und macht neue Erfahrungen; Pippa hat ihm allerdings auch nach ihrem Ableben eine Reihe von Rätseln mit auf seinen Lebensweg gegeben, die er jedoch nach und nach lösen kann und einem Hinweis nach dem anderen folgt (besonders gefiel mir der Tresor bei Harrods, er erinnerte ein wenig an die Verfilmung von Harry Potter und die Kobolde in "Tresorraum 713"); aber auch bei den weiteren Aufgaben, die Pippa Clayton gab, rätselt man als LeserIn mit... Auch die Hilfsmittel für Rätselmacher (Alphabetibox, Kryptogitter u.a., die teils im Buch abgebildet sind) fand ich sehr interessant.


    Der Stil S. Burr's ist schnörkellos und klar; die Figuren wirken authentisch und es macht Spaß, mit Clayton seine "Rätsel des Lebens" und seiner Herkunft zu lösen. Die kurzen Kapitel, die zwischen der Such nach Lösungen der Rätselteile Claytons auf der Such nach seiner Herkunft - und den Rückblicken in die Geschichte der Gemeinschaft der Rätselmacher wechseln, entwickeln mehr und mehr einen Sog, dem man sich als LeserIn schwer entziehen kann (besonders rätsel- und geheimnisliebender LeserInnen). Die positiven Leitsätze (Themen Gemeinschaft, Hilfe suchen, wenn es nötig ist, Freundschaft, coming-out, Selbstfindung etc.) haben mir sehr gefallen und mich gut unterhalten.


    Fazit:


    Die Suche eines jungen Mannes, dessen Herkunft Rätsel aufgibt - und der sich auf seinen eigenen Weg aufmacht, dieses Rätsel zu lösen, empfehle ich allen LeserInnen sehr, die gerne unterhaltsame, spannende, tiefgründige und authentische, warmherzige Geschichten lesen, die im Ergebnis eine Selbstfindung darstellen. Passend hierzu scheint mir das Nachwort des Autors, der den Wunsch mit dem Roman verbindet, dass der Leser "selbst die noch fehlenden Puzzleteilchen in seinem Leben" finden wird und das Buch hierzu eine literarische Anregung geben kann! Von mir für dieses unterhaltsame Début, das lesenswert ist, 4 Sterne und eine Empfehlung!

    "Hitzefrei" von Agnes Prus/Yelda Yilmaz erschien (HC, geb., 175 S. mit zahlreichen Fotos und schönen sommerlichen Illustrationen) im Dumont-Verlag, Köln, 2024.


    Bereits der Titel, der 'vegetarische Küche für heiße Tage' verspricht, machte mich neugierig und weckte mein Interesse: Hier wird mit vielfältigen Gerichten und Salaten aufgewartet, die sehr schmackhaft, gesund und recht schnell zuzubereiten sind. Die tollen Rezeptideen der Autorin Agnes Prus (Foodstylistin) mit stimmungsvollen Fotos und sommerlichem Ambiente von Yelda Yilmaz (Fotografin) lassen wahrlich keine Wünsche offen!


    Flirrende Hitze und hohe Temperaturen, die seit einigen Jahren nicht nur im mediterranen Raum, sondern auch hierzulande in Erscheinung treten, lassen uns eher an Mahlzeiten denken, die schnell zubereitet, ausgewogen, gesund, schmackhaft und erfrischend, abkühlend sind - all' dies ist in den abwechslungsreichen Rezepten, tollen Sommersalaten, Eis und Desserts zu finden!


    Das tolle Sommerkochbuch präsentiert über 70 Rezepte, die auf Inspirationen der ganzen Welt basieren, jedoch ganz und gar nicht allzu ausgefallen sind. Zudem sind sie veränderbar durch genaue Mengenangaben, die z.B. bei einer Gartenparty auch mal üppiger angesetzt werden können, je nach Gästezahl. Die Rezepte sind detailliert und leicht verständlich beschrieben, benötigen also keine "Spezialkenntnisse"; die Zutaten erhält man ohne Probleme, ebenso die Gewürze.


    Sehr übersichtlich ist die Gliederung in


    - Cool & knackig (aromatische Sommersalate)

    - Quick & Easy (kleine Sommergerichte, wenn's schnell gehen soll)

    - Sonnig & heiter (auf die Hand oder den Grill, für Picknick und Gartenparty)

    - Süß & saftig (Sorbet, Eis, sommerliche Desserts).


    Besonders gefielen mir die "Lieblingsdressings" und -dips, die das Sahnehäubchen für manchen Salat oder sommerliche Speise sind. Unsere Favoriten sind (bisher) Couscous-Salat mit eingelegter Zitrone und Granatapfel; Kartoffel-Tortilla mit Zucchini und Oliven, Kichererbsen-Avocado-Wraps mit roten Zwiebeln und Ei - megalecker! - und griechischer Eiscafé.

    Ein Register im Anhang rundet dieses tolle sommerlich-vegetarische Kochbuch ab, worin die einzelnen Lebensmittel und zugehörigen Rezeptideen gut zu finden sind.


    Fazit:


    Das ultimative Sommerkochbuch für heiße Tage mit abwechslungsreichen Rezepten, Ernährungs- und Erfrischungstipps, das seinesgleichen sucht und für Abkühlung und Verträglichkeit bei großer Hitze auf wohlschmeckende Weise sorgt! Meine absolute Empfehlung und 5* !


    ASIN/ISBN: 3832169466

    "Jenseits des Grabes" von Fred Vargas erschien (HC, geb., 526 S.) im Limes-Verlag, Penguin Randomhouse-Verlagsgruppe. Einige Jahre mussten Vargas-Fans auf diese Neuerscheinung warten, doch daran ist man als eingefleischter Fan der vielfach ausgezeichneten Autorin mittlerweile gewöhnt - zumal es in meinem Fall seit nun fast 30 Jahren meine Krimi-Lieblingsautorin ist. "Sur la dalle" - so der Titel im französischen Original (etwa: Auf der Platte) hat einen engen Bezug zu den Ermittlungen, die der unkonventionelle Jean-Baptiste Adamsberg und seine Brigade Criminelle (aus dem Pariser 13. Arrondissement) dieses Mal führen: Handlungsorte sind Combourg und Louviec in der Bretagne, in der auch der Kommissar bereits war, um eine Auszeichnung aus einem früheren Fall entgegenzunehmen: Allerdings freut er sich einzig auf Kommissar Matthieu, mit dem er später gemeinsam die Ermittlungen zu so einigen Mordfällen leiten sollte: Ein Wildhüter wurde mit zwei Messerstichen in die Brust ermordet - was Adamsbergs stets wache Ermittlungsinstinkte auf den Plan ruft...


    Vor Ort in Combourg bzw. Louviec stößt ein Teil der Brigade Criminelle um Adamsberg auf manch illustre Gestalt: Ein Nachfahre des Romantikers Francois-René de Chateaubriand, Josselin mit Vornamen, der dem Dorf Louviec durch seine Auftritte (die er eigentlich nicht mag) Touristenströme verschafft; die Sage um einen Hinkenden vom Schloss Combourg, der nachts durch die Straßen schleicht und hallende Geräusche von sich gibt; Johan, der Wirt des Wirtshauses "Zu den zwei Schilden", der die Teammitglieder und später ganze Gallionen von Polizisten und Personenschützern aufs Vortrefflichste 'bewirtet' und von Retancourt und ihren Fähigkeiten mehr als begeistert ist und einige mehr, von denen noch zu lesen ist: Leider hat Adamsberg nur einen Teil der Brigade mit nach Louviec genommen (Veyrenc, den er bereits aus seinem Heimatdorf in den Pyrenäen kennt und schätzt; Noel, Retancourt (Universalgöttin mit geballter Kraft, die sie in alles verwandeln kann - ausser in Feingefühl und Sanftmut - eine meiner Lieblingscharaktere) und Mercadet, IT-Spezialist par excellence mit dem Handicap, dass er alle 4 Stunden schlafen muss...) Über das Wiedersehen mit diesen habe ich mich mehr als gefreut, auch wenn ich Danglard, der mit den anderen in Paris zurückblieb, schmerzlich vermisst habe.


    Da scheinbar wahllos weitere Personen mit Messerstichen (das Messer ist dasselbe wie beim Wildhüter, ein exquisites Ferrand-Messer) ermordet werden, hat Adamsberg und die Brigade einen längeren Aufenthalt in Louviec und eine (bzw. mehrere) Nüsse zu knacken: Unweit Louviec's befindet sich ein Dolmen, den Adamsberg sich für seine "gedanklichen Spaziergänge" auserkoren hat (und ihn später mit Leibwächtern aufsuchen sollte, da auch er zu den Mordopfern zählen könnte). Hier stellt Adamsberg fest:


    "Wenn faktische Elemente sich sträuben und nicht erlauben, einen Täter zu benennen, dann hat man keine Wahl, als in der Welt der frei schwebenden Gedanken und im Schlamm versunkener Ideen einzutauchen" (Zitat S. 171)


    Daher ist es unerlässlich, je verworrener die Mordfälle werden (auch für den Leser), dass Adamsberg seinen Dolmen von Zeit zu Zeit aufsucht und die 'vagen Ideen' in Form von Blasen aus dem schlammigen See an die Oberfläche gelangen können, er sie zu fassen bekommt und in Erkenntnisse umwandeln kann. Die Vergnüglichkeit des Lesens ist in allen Vargas-Krimis diesen "Kernstücken der Adamsberg'schen Ermittlungsweise" (seine einzige) zu finden: Entweder man liebt sie, oder man mag sie nicht.


    Vargas gibt dem Leser durchaus Hinweise, den Mörder aufzuspüren: Wieso hat jedes Opfer ein befruchtetes Ei in der Hand? Was haben die Opfer gemeinsam? Spielt der Verein der "Schattenschützer" (die bereits eine Liste der Schattenschmutzer hat!) eine Rolle bei den Morden? Was hat der bereits seit Schulzeiten mit krimineller Energie versehene Inhaber des Möbelgeschäfts "Ihr Zuhause von A bis Z" im Industriegebiet Combourg mit den Morden zu tun?


    Da sich die Brigade immer mal stärken muss, ist Johan einer große Stütze, der alle mit hervorragenden Speisen und Chouchon (das Vermächtnis der Druiden und eins der ältesten Getränke der Welt) versorgt und ganze Bataillone von Personenschützern problemlos bewirten kann (und natürlich zum Freund von Adamsberg wird im Laufe der Ermittlungen). Humor kommt in Form eines speziellen "Trunks" von Johan auf, der Mercadet problemlos wachhält und Johan fast zu einem Miraculix wird; aber auch in Form einer Schildkrötenformation, wenn auch der Hintergrund weniger lustig ist und man Angst um den Wolkenschieber (mit Streifschüssen bereits versehen) bekommt. Die Dialoge sind typisch für Vargas-Krimis und lassen einen als LeserIn schmunzeln; die Ureigenschaft der Bretonen kommt natürlich auch zum Tragen: "Die Bretagne, Land der ewigen Rebellion und der unmöglichen Unterdrückung" (Alexandre Dumas: Les Chroniques de la Régence, 1849, Zitat S. 227) - ein weiteres Merkmal der Fred-Vargas-Krimis.

    Im letzten Drittel steigt die Spannung an; viele Vernehmungen und Verhöre liegen vor der Brigade und Matthieus Leuten, die vor Ort unterstützen - und könnten hier wegen des Großaufgebots an organisierter Kriminalität wie auch an Personenschützern für etwas Verwirrung sorgen. Einige LeserInnen mag das stören; mich aber hat der neue Kriminalroman von Fred Vargas eher amüsiert und ich hatte unterhaltsame Lesestunden in einer meiner französischen Lieblingsregionen: Der Bretagne! 4**** (und Vorfreude auf den nächsten Vargas-Krimi!


    ASIN/ISBN: 3809027820

    Das Alter als Lebensstufe - Mach was draus!


    "Altern" von Elke Heidenreich, vielen LeserInnen bereits seit Jahrzehnten (Else Stratmann) als Kolumnistin und Autorin bekannt, hat sich in der http://www.reiheleben.de des Hanser Berlin Verlags des Themas auf der ihr unnachahmlichen Weise angenommen, dass es eine Freude und ein Vergnügen ist, es zu lesen (HC, geb., 110 S., 2024). Ich wüsste wirklich nicht, wer dieses sehr lesenswerte Essay der heute über 80jährigen bekannten Autorin hätte besser schreiben können!


    Elke Heidenreich (*1943) beginnt das Thema, dem sie sich stellt (und dem sich alle stellen sollten, am besten auf authentische und ehrliche Weise) mit zwei verschiedenen Versionen ihres Lebensrückblicks: Es kommt auf den Blickwinkel an und augenzwinkernd fordert sie den Leser auf, "sich eine Version auszusuchen". Hier erkennt man bereits die humorvolle, nicht immer friedliche, zuweilen störrische, oft spöttische und immer kämpferische Autorin, die hier einen Essay lieferte über das "Älterwerden", das Altern, das sich wirklich zu lesen lohnt: Es ist sehr schwierig, hier auf den Inhalt detailliert einzugehen, da jeder Satz für sich bemerkenswert erscheint und man sich in vielen Aussagen wiederfindet; die Lebensklugheit und -bejahung stellen dann das Sahnehäubchen dieses wundervollen Essays dar, mit dem E.H. uns beschenkte.


    Apropos Geschenk: "Alles über 60 ist ein Geschenk; alles unter 30 ist Quälerei", so die Meinung der Autorin, worin sich wiederum ihr Humor widerspiegelt.


    E.H. geht auf die verschiedenen Lebensstufen ein; stellt fest, dass der Wert des Alters nicht geringer sein darf als der der Jugend (in die man hineinrasselt, dennoch ahnend, dass das Alter auf einen zukommen wird). Einige namhafte AutorInnen werden zitiert, die sich über das Alter ausgelassen haben; auch Philosophen wie Seneca und Schopenhauer, mit dem ich mich dringend näher beschäftigen möchte, da hier sehr kluge Sätze von ihm versammelt sind (und Elke Heidenreich in jedem ihrer Bücher stets als 'Literaturvermittlerin' auftritt, so wie hier, wenn sie Lyrik, Dichter und Denker zitiert, die sehr Zutreffendes zum Thema äußerten. Allerdings hat E.H. selbst sehr viel - und dies ganz persönlich - zum Thema beizusteuern, ist sie doch inzwischen "im richtigen Alter", sich über dieses auslassen zu dürfen.


    Und das tut sie; auf gewohnte Weise mal ironisch, mal etwas sarkastisch, gar politisch (hier teile ich ihre Meinung absolut) und auch spöttisch: Wenn es z.B. um das 'Styling im Alter' geht, dem sich einige unterziehen: Schönheitschirurgen, Kosmetikindustrie skandieren "jünger, frischer, straffer!" - wovon E.H. (und auch ich) so gar nichts halten. Schon Dieter Hildebrandt stellte mal an entsprechender Stelle (Leute nach Gesichts-Schönheits-OP's) fest: "Dann sitzt die ganze Weisheit hinter den Ohren". :D


    Sehr wohl plädiert E.H. jedoch dafür, sich beizeiten Gedanken über ein erfülltes Alter zu machen; (die großen Tröster Literatur und Musik erachtet sie zeitlebens als sehr wichtig) Struktur und Unabhängigkeit sind dabei von großer Wichtigkeit. In einem Interview zum Buch mit Volker Weidermann (Freunde der Zeit), das im Internet auffindbar und sicher noch abrufbar sein dürfte (meine absolute Empfehlung) trifft E.H. folgende Aussagen:


    "Altern ist sehr individuell (die Alten sind sich weniger gleich als die Jungen); wir kennen multimorbide Alte, welche, die Marathon laufen, wir sehen die verbitterten Alten und die glücklichen Mütter, umsorgt von ihren Kindern; wir sehen die Einsamen, die in ihrer Wohnung sitzen und nix mit sich anfangen können... - d.h. Altern ist sehr individuell und das muss man früh genug wissen und was draus machen." (Interview)


    Die Quintessenz dieses Buches ist für mich die folgende Aussage:

    "Es ist nicht wichtig, wie alt man wird, sondern wie man alt wird" (dass man das früh genug weiß und regelt) (Zitat S. 43 und Interview)


    Auch die Tipps (Interview) finde ich hilfreich für ältere Menschen (ab 60....):

    "Grämt euch nicht so viel, seid nicht so ängstlich, lebt einfach: Seht doch diese Idioten in der Welt (Politiker, wobei sie Länder und Namen nicht ausspart, sich positioniert), diesen Narrativen muss man etwas entgegensetzen!" Und letztendlich: Atmen und dankbar sein (für ein Leben bis zum Alter in einem Land ohne Krieg) - Alter als ein Geschenk; Gesundheit vorausgesetzt).


    Fazit:


    Ein Essay über das Altern, das niemand hätte besser schreiben können als Elke Heidenreich: Ehrlich, humorvoll, augenzwinkernd, lebensbejahend, mal ironisch, mal sarkastisch, oft kritisch - ein sehr ehrliches Buch über Altern, das sowohl persönlich als auch im gesellschaftlichen Kontext überaus lebensbejahend, sich selbst (und das in jedem Alter!) annehmend ist, das Mut macht! Danke Elke Heidenreich für diesen wunderbaren Essay!


    5***** + Buchtipp!!

    Die unverblümten Briefe aus der Rathbone Road


    "Gute Ratschläge" von Jane Gardam erschien (HC, geb., 316 S.) im Verlag Hanser Berlin, 2024.

    In Großbritannien bereits seit den 70er Jahren (sie begann mit 43 Jahren zu schreiben, als ihr drittes Kind eingeschult wurde) eine literarische und mit einigen Preisen ausgezeichnete Größe, wurde sie in Deutschland erst sehr viel später bekannt: Das "Gardam-Universum" konnte man erstmals in Übersetzung in der Trilogie um 'Good Old Filth' betreten. Seit dieser Zeit habe ich es nicht mehr verlassen, da ich von jedem Roman Gardam's sowohl sprachlich wie auch thematisch mehr als begeistert bin und mich über jede Neuerscheinung freue; so auch diese:


    Elizabeth Peabody, 51, zurückgekehrte Diplomatengattin aus der Londoner Rathbone Road, in der natürlich weitere Expats wohnen, hat die Angewohnheit, ihren Nachbarn Briefe zu schreiben, in denen sie ihnen stets 'gute Ratschläge' gibt. Die Nachbarin Joan, die so ganz anders geartet ist als Eliza, beschließt eines Tages, Mann und Kinder zu verlassen, um die Welt zu bereisen, was Eliza wiederum veranlasst, Joan zahlreiche Briefe zu schreiben, die sie an eine Adressenliste richtet, die in den nahen Osten und nach Asien führt: Eine Antwort erhält sie nie, doch das scheint ihrer Schreibwut keinen Abbruch zu tun, ganz im Gegenteil....


    Inhalt dieses herrlich zu lesenden Romans ganz in der Manier und dem unnachahmlichen Schreibstil der Autorin sind nun diese Briefe, die Eliza erst ermahnend (Joan möge doch zurückkommen) und später mehr oder wenig erzürnt absendet (oder auch nicht; das weiß sie später selbst nicht mehr so genau). Spätestens nach dem Auszug von Henry, ihrem Ehemann, der fortan mit Charles, dem Mann von Joan zusammenlebt, ist nichts mehr für Eliza, wie es zuvor gewesen war. Doch wie war es eigentlich?


    Die Briefe strotzen vor Seitenhieben auf die britische upper class, die des öfteren durch den Kakao gezogen wird. Darunter jedoch merkt man nach und nach, dass die Absenderin dieser Briefe, Eliza, auch trotz ihrer Unverblümtheit eine dünnhäutige, sensible Seite hat, die vor vielen Jahren auch vor Verletzungen nicht gefeit war. So geraten die Briefe an Joan auch in eine Art Selbstreflexion und Tagebuch, in denen Eliza von ihrem tristen Eheleben erzählt und von einer Frau, die sich eher als Randfigur verstand (sie wusste nie, welche Leute etwas für sie waren). Sie beschreibt die Gargarys, die Baxters, Anne Robin, die Kinderbuchautorin, die auch Schreibseminare hält, an denen Eliza teilnehmen soll, da sie sich, nun alleinstehend und zunehmend verwirrter, "mit etwas beschäftigen sollte", so Anne. Allerdings beschäftigt sich Eliza bereits: Sie bedient die Spüle und ist ein wichtiger Mensch für einen jungen Mann in dem Hospiz, in dem sie arbeitet: Barry, dem gegen Ende des Romans eine Schlüsselrolle zukommen sollte und dem Eliza sehr zugetan ist.


    Gardam schafft urkomische, ironisch-sarkastische Beschreibungen der "beigen, gepflegten, attraktiven, selbstsicheren, eloquenten Frauen der upper class, die sich königlich amüsieren" (Zitat S. 128). Auch die Herrenclubs, in denen Henry verkehrt, und die es noch immer gibt, werden nicht ausgenommen: "Hier erstrecken sich die Weiten des Schweigens, der Undurchschaubarkeit und der Geheimniskrämerei", so Gardam.

    In einem weiteren Brief an Joan fragt Eliza diese, ob sie diese in Dhakar (ihr langjähriges Domizil) besuchen dürfe, da es ihr in letzter Zeit nicht sehr gut gehe: In ihrer Not wendet sie sich auch an den Priester, Nick Fish - der jedoch keine Zeit für sie zu haben scheint. Als dessen Frau einen unerwarteten Termin hat, springt Eliza dennoch als Aushilfs-Nanny für dessen 3 Kinder ein, was nicht folgenlos in der ein oder anderen Weise bleiben sollte....


    Miss Ingham, die älteste Bewohnerin der Rathbone Road, wird in Gardam'scher Manier wie folgt beschrieben: "Finger schwer von Diamanten, Handvenen voll mit lila Tinte", was wiederum einen Einblick in den ihr eigenen Humor gibt. Von außen betrachtet, mag es wie Halluzinationen aussehen, die sich in das letzte Romandrittel mehr und mehr einschleichen; Eliza selbst fühlt sich verwirrt, doch andererseits blitzen messerscharfe Erkenntnisse durch, in dem sie sich jahrelang als benutzt fühlt, programmiert von Toten, von ihrer Cousine Annie mit ihrem ausgeprägten Sinn für ein geordnetes Leben, von deren Mutter, von idiotischen viktorianischen Sitten.


    Auch wenn gegen Romanende vieles geklärt wird, was dem Leser zunächst unklar war, so habe ich nur einen Kritikpunkt: Zeitweise war es schwierig, zu erkennen, was wahr und was erfunden war; die Botschaft, die ich in "Gute Ratschläge" sehe (abgesehen von den herrlich skurrilen Szenen, die voller Komik sind, mitunter auch tragisch), ist jedoch unverkennbar jene, wie wichtig es ist, zu lieben, zu verzeihen und vor allem sich selbst und die eigenen Bedürfnisse nicht zu vergessen. Auch über so manche positive Entwicklung freut man sich am Ende mit Eliza.


    Fazit:


    Ein weiteres Juwel am Firmament des Jane-Gardam-Universums: Sie verfügt über eine virtuose, scharfzüngige und stellenweise urkomische Sprachkraft, verbunden mit knochentrockenem britischen Humor in Reinkultur, die hier Stück für Stück die Bigotterie der sog. besseren Gesellschaft entlarvt. Eine Leseempfehlung meinerseits (verbunden mit dem Rat, dass Neueinsteiger zuerst die Trilogie um Filth lesen) und 4*.


    ASIN/ISBN: 3446279571

    Die Autorin Lea Santana hat mich mit ihrem zauberhaften Roman "Die Orchideenfrauen" sehr positiv überrascht (ich kannte zuvor noch keines ihrer Bücher, was sich jetzt ändern dürfte), denn er entführt den geneigten Leser in die wundersame und interessante Welt der Orchideen; besonders in Gestalt einer "Vanda coerulea", der eine blaue Blütenpracht zu eigen ist und eine der begehrtesten Raritäten für die Pflanzenjäger darstellt. Erschienen ist der Roman im Lübbe-Verlag (tb, 350 sehr lesenswerte Seiten, 2024).


    Worum geht's?


    Annabel Oxley, eine 72 Jahre alte Orchideenzüchterin (und begabte Zeichnerin, sie hat in Kew Garden 'Botanical Arts' studiert) beschließt schweren Herzens aus Finanznot, sich von ihrem Haus in Cornwall zu trennen. Um die Formalitäten zu klären, begibt sich Holly Greenwood auf den Weg zu ihr, um Fotos für die Immobilienagentur zu schießen, für die Holly arbeitet. Sie hat gerade eine schmerzhafte Trennung von ihrem Verlobten hinter sich, weshalb sie sich umso mehr in ihre Arbeit stürzt: Durch ein Schaf namens Myrtle, das eine schicksalhafte, aber sehr liebenswerte Nebenfigur im Roman spielt und eher unvermittelt auf Straßen anzutreffen ist, sieht sich Holly gezwungen, nochmal wegen des Unfalls mit Myrtle zu Mrs. Oxley, die sich als knurrige alte Dame entpuppt hat, zurückzukehren, da ihr Mini nicht mehr fahrbereit ist... Dadurch kommen sich beide Frauen näher und Holly erfährt im Wintergarten von Mrs. Oxley, weshalb ihr die Orchideen so am Herzen liegen: Verkaufen will sie sie auf keinen Fall - und wenn überhaupt, dann nur einem speziellen italienischen Sammler in Ligurien....


    Holly beschließt, Annabel zu helfen und fährt mit dieser Richtung Italien, um die Orchideen an der ligurischen Küste dem zukünftigen Eigner anzuvertrauen: So nimmt das Schicksal seinen Lauf und manches kommt ganz anders, als Holly es sich zuvor dachte, was mit verhängnisvollen Ereignissen zu tun hat, die sich Ende der 60er Jahre in Siestra Levante zugetragen haben...


    Meine Meinung:


    Dieser Roman hat mich auf vielfältige Weise sehr positiv überraschen können: Er ist flüssig, humorvoll und warmherzig geschrieben, die beiden Zeitebenen greifen gekonnt ineinander über (Cornwall, heute und Ligurien, 1968/69) und die ProtagonistInnen überzeugen, sind Sympathieträger, was sowohl für Holly als auch besonders für Annabel gilt: Im Verlaufe dieser 'Dramödie', die wirklich herrlich zu lesen ist, bekommt die Reise nach Italien einen anderen Beigeschmack, da sie mit Annabels Vergangenheit sehr viel zu tun hat: Es geht um Liebe, um Familie, um Enttäuschung und Rache - und um Verzeihen. Auch um Freundschaft und Verständnis; so nähern sich die beiden nicht nur altersmäßig ungleichen Frauen immer mehr an und werden schließlich zu Freundinnen. Auch die Familie Lana, eine wohlsituierte italienische Familie, in der Orchideen durch die Mutter, die sie einst züchtete, bekommt Sympathiepunkte; ganz besonders natürlich Gianfranco Lana, dem eine Schlüsselrolle in dem herzerwärmenden Liebesroman zukommt.


    Der Autorin gelingt es, die beiden Frauen, Annabel und Holly sowohl in Cornwall als auch auf ihrer Reise nach Italien und in Ligurien liebenswert zu zeichnen; besonders die barsch wirkende, mürrische und knurrige Annabel muss man einfach ins Herz schließen, da man den weichen Kern dieser Figur schon ahnt... Einige Dialoge sind durch den trockenen Humor Annabel's einfach zum Schmunzeln; andere Sachverhalte dagegen sind auch heftig, z.B. die Vorgehensweise des Vaters von Annabel. Eine Person, die das zeichnerische Talent von Annabel bereits früh entdeckt und sie fördert, fand ich sehr positiv (brauchen wir nicht alle einen Förderer, der uns unterstützt, um den eigenen Weg gehen zu können, Ziele zu erreichen?) Eine weitere 'Nebenfigur' ist Vanda, eine begehrte blaublütige Orchidee, für die einige SammlerInnen ein kleines Vermögen zahlen würden: Auch hier erfreut die Autorin ihre LeserInnen mit tollen Informationen über die Welt der Orchideen, die mir zuvor fremd war. (Ich kenne mich eher in Stauden aus^^).


    Fazit:


    Eine 'Dramödie' mit Tiefgang, die einerseits dramatische, aber auch romantische Anteile hat. Eine fantasievolle, durchdachte Story, die mir auf beiden Zeitebenen, die sich spannend miteinander abwechselten, sehr gefallen und mir schöne und interessante Lesestunden beschert hat: Ein niveauvoller, unterhaltsamer (Liebes)roman, der mit warmherzigen Figuren aufwartet, emotional packend ist und wichtige (Lebens)themen beinhaltet: Positiv überrascht kann ich hier eine absolute Empfehlung aussprechen und vergebe gerne die volle Punktezahl am literarischen Orchideen- und Pflanzenhimmel, 5*


    ASIN/ISBN: 3404193296

    Ein Baumhaus und kein Bullerbü



    "Das Baumhaus" von Vera Buck erschien (Thriller, 398 S., brosch. TB, 2024) im Rowohlt Verlag/Polaris. Das Buch hat einen farbigen, giftig-grünen Buchschnitt, der meine Wertung jedoch auch nicht nach oben korrigieren konnte:

    Vorausschicken möchte ich, dass Kriminalromane und (Psycho)thriller seit jeher zu meinen Lieblingsgenres zählen; die Autorin kannte ich zuvor nicht und musste feststellen, dass der umworbene Thriller eher ein Familiendrama mit Traumatas war denn ein gut geschriebener Thriller.


    Worum geht's?


    "Als Henrik und Nora mit ihrem fünfjährigen Sohn Fynn nach Vesternorrländ fahren, spüren sie gleich, dass die verlassene Ferienhütte etwas Bedrohliches umgibt. Fußabdrücke im Staub, Spuren überall im Haus. Jemand war hier. Während Henrik daraus Inspiration für sein neues Kinderbuch schöpft, versucht Nora, den idyllischen Familienurlaub zu retten und etwas wiedergutzumachen, von dem niemand erfahren darf...

    Rosa Lindqvist ist frustriert: Statt ihre forensischen Forschungen voranzutreiben, wohnt sie wieder zu Hause, um ihren Bruder zu pflegen. Doch dann findet Rosa bei einer nächtlichen Grabung ein Kinderskelett. Und als ganz in der Nähe des Fundorts der kleine Fynn verschwindet, wird sie von der Polizei als Ermittlerin eingesetzt und kommt in den Tiefen des Waldes einem düsteren Geheimnis auf die Spur. Denn Rosa hat allen anderen etwas voraus: ein außergewöhnliches Gespür für den Tod."

    (Quelle: Klappentext des Verlags)


    Meine Meinung:


    Da ich die Autorin nicht kannte, bin ich recht unbedarft an diesen Thriller herangegangen und musste feststellen, dass ich mich durch dieses Buch, das für mich erst ab Seite 200 ein wenig "Thrill" enthält, eher quälen musste als die Story zu genießen: Die Autorin spielt mit Klischees und Bilder, die "das Unheimliche, Beängstigende" erzeugen sollen, wie z.B. der Rabe, der gegen das Fenster fliegt, sorgten bei mir eher für Kopfschütteln denn Grusel.

    Den Gruselfaktor "inne" hatte lediglich ein kompletter Irrer, der Kinder entführte (um sie zu retten) und seine "Spiele" mit ihnen trieb. So verschwindet eines Tages auch Fynn, der 5jährige Sohn von Henrik, einem Kinderbuchautor und Nora, die im Umweltschutz arbeitet: Sie hasst den Wald und beide durchsuchen mit Hilfe der Polizei jeden qm, erfolglos. Etwas Morbides, Krankhaftes und Bedrückendes zieht sich in der Beschreibung der Spiele "des Mannes" durch das gesamte Buch. Ängste und bedrückende Emotionen werden durch eingängige Bilder erzeugt; der Vergleich mit "Bullerbü" ist wie vieles andere an den Haaren herbeigezogen; die Nachvollziehbarkeit fehlte mir nicht nur, sondern auch die Logik: Polizeiarbeit wird eher schlampig beschrieben (wobei Lasse, der Hundeführer, die einzige Person war, die mir wirklich sympathisch gewesen ist) und Schweden wird als ein Land dargestellt, in dem es früher offene Türen gab - und in dem jährlich 1000e Kinder spurlos im Wald verschwinden. Solche Stereotypen mag ich leider überhaupt nicht. Die zwei Punkte gelten der Atmosphäre, die recht gut dargestellt ist, für Handlung und Verlauf des vermeintlichen Thrillers, der für mich eher ein Familiendrama ist, kann ich keine Punkte vergeben.

    Auch sprachlich (der Stil ist äußerst einfach) hat mich der Thriller nicht angesprochen.


    Fazit:


    Die Spannung suchte ich bis Seite 200 vergebens; viele inhaltliche 'Patzer' und unlogische Handlungen sowie mangelhafte Nachvollziehbarkeit in einigen Punkten schmälerten meinen Lesegenuss beträchtlich. Unsympathische ProtagonistInnen (mit Ausnahme von Henrik und Rosa gegen Ende), ein sehr einfacher Schreibstil und Figuren, zu denen ich keinerlei Bezug aufbauen konnte (Ausnahme Lasse) und die sich oft widersprüchlich verhielten, sorgten dafür, dass vieles konstruiert wirkte und voller Klischees steckt.

    Sorry - für meinen Geschmack einfach eher eine Art Familiendrama denn ein Thriller - not my style. Keine Empfehlung und 2* für Atmosphäre und Aufbau.

    "Die Gabe der Lüge" von Val McDermid ist der 7. Fall der HCU (Historic Cases Unit) um das Team von Karen Pirie (erschienen 2024 im Droemer-Knaur Verlag, TB brosch., 479 S.). Vorab muss ich vorausschicken, dass ich aufgrund ihrer Figuren, ihrer Authentizität, zuweilen humorvollen Dialogen und großen Spannung sowie akribischer Recherchen der wirklich interessanten Kriminalfälle seit unzähligen Jahren ein großer Fan der bekannten schottischen Autorin, selbst lange im Journalismus tätig, bin. Dieser neu erschienene Krimi avanciert in der Liste meiner Lieblingskrimis von ihr (und allgemein) steil nach oben: Ein sehr vertrackter Fall, sozusagen ein "Krimi im Krimi", in einer Zeit erschwerter Ermittlungsarbeit in Edinburgh und in dem vieles nicht so ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.


    "Der Anruf einer Bibliothekarin beschert DCI Karen Pirie einen rätselhaften Fall: Im Nachlass eines kürzlich verstorbenen Schriftstellers wurde ein Manuskript gefunden, dessen Handlung erschreckende Ähnlichkeit mit einem bisher ungelösten Cold Case aufweist. Es gibt nur ein Problem: Der Autor starb, bevor er es fertigstellen konnte..." (Quelle: Buchrückentext des Verlags)


    Meera, eine Bibliotheksmitarbeiterin im Archiv, erkennt im Manuskript eines verstorbenen Krimiautors Parallelen zu einem realen Fall und lässt das Manuskript sowie Notizen auf Anweisung DCI Karen Piries, der Leiterin der HCU, Jason Murray und der Cold Cases Einheit zukommen: Karen und Daisy Mortimer, inzwischen rechte Hand von Karen, durchforsten das erschütternde unveröffentlichte Manuskript namens "Laurel Oliver verschwindet" und versuchen, etwaige Übereinstimmungen zu dem Fall von Lara Hardie, einer Studentin, die vor einem Jahr spurlos verschwand, zu finden: Sie erkennen mehr und mehr übereinstimmende Fakten, geschrieben von dem Bestseller-Autor Jamie Cobain, dessen Stern zu sinken begann und der hier ein perfektes Verbrechen beschrieb, inzwischen jedoch verstarb. Jener Schriftsteller traf sich gerne mit Rob Thomas, um einige Partien Schach zu spielen und ihm zu mehr Berühmtheit zu verhelfen. Dieses Vorhaben gelingt: Je höher der Stern von Rob Thomas am Krimihimmel steht, desto mehr neigt sich durch einen Skandal verursacht, jener des Bestseller-Autors. Er verliert alles - seine Karriere, seine Ehefrau und sein Haus: Wie sollte das unvollendete Manuskript enden? Ist ein perfekter Mord tatsächlich möglich?


    Diesen Fragen widmen sich Karen und Daisy, während Jason Murray (dessen Mutter wegen Atemnot im Krankenhaus landete) versucht, die Lesungen und Workshops zweier Autoren im fraglichen Zeitraum unter die Lupe zu nehmen, mit den Leitern von Workshops und Verlagen zu sprechen, was in Zeiten des Lockdowns noch schwieriger ist als gewöhnlich, ihn aber bedingt von den Sorgen um seine Mutter ablenkt. Durch akribische Recherche, wie sie dem Team von Karen zu eigen ist, stoßen sie bald auf Parallelen und Übereinstimmungen, die auffällig sind (Jason, auch der Minzdrops genannt, ist die Liebe zum Detail ebenso auf den Leib geschrieben wie Meera von der National Library) und schon bald stellen beide fest, dass einige Puzzleteile zusammenpassen, Sinn ergeben. Nach dem Lesen des Manuskripts überkommt jedoch sowohl Karen und Daisy wie auch den Leser ein Grauen, da hier eine sehr perfide Ränkeschmiede beschrieben wird, dessen Urheber frei von jeglicher Menschlichkeit und Empathie zu sein scheint.


    Am Ende stellt sich quasi ein "doppeltes Motiv" heraus und McDermid zieht die Krimiszene durch den Kakao mit all seiner Günstlingswirtschaft, Eifersucht und Missgunst, die hinter den Kulissen lauern. Wer spielt hier das eigentliche Vexierspiel, dem Karen und ihr Team, aber auch der Leser bis zum Ende ausgesetzt ist? Helfend bei der Auflösung stehen natürlich auch Karen's Freundinnen Tamsin (IT-Expertin) und River Wilde (forensische Anthropologin) zur Seite, man freut sich, sie wiederzusehen, da sie aus den Vorgängerbänden bereits gebührenden Eindruck machten.


    McDermid lässt auch die Schrecken des leergefegten Edinburgh nicht aus, in dem in Zeiten der Pandemie jede/r nur eine Stunde das Haus verlassen durfte: Mancher wird real und auch emotional seine eigene Stadt in dieser surrealen Zeit wiedererkennen, liest er die Sätze und Anmerkungen der Autorin. Auch soziale Beziehungen sollten sich verändern; Menschen sich von einer anderen Seite kennenlernen, was nicht immer zum Guten führte. So zeigen sich zum Ende hin auch so einige Veränderungen beruflicher und privater Natur ab: Gespannt 'lauere' ich bereits auf den 8. Fall der HCU.....


    Fazit:


    Ein perfides Vexierspiel in der Krimiautorenwelt, die McDermid hier aufs Korn nimmt; ich kann mich hier nur (dem von mir ebenfalls sehr geschätzten) Mick Herron anschließen, der über "Die Gabe der Lüge" - im Original "Past Lying" sagte: "So komplex, so fesselnd und so lesenswert wie alles, was Val McDermid bisher geschrieben hat - ein weiteres Juwel in der Krone der schottischen 'Queen of Crime' ". Eine absolute Leseempfehlung und 5* dafür!


    ASIN/ISBN: 3426448017

    Kirschenzeit - oder zu spät für Tarte Clafoutis


    Bei "Reichlich spät" (Originaltitel 'So late in the day') von Claire Keegan; übersetzt ins Deutsche von Hans-Christian Oeser, erschien (HC, geb., 64 Seiten) handelt es sich um eine Erzählung, die im Steidl-Verlag, Göttingen 2024 erschienen ist.

    Vorausschicken möchte ich, dass ich von "Kleine Dinge wie diese" mehr als begeistert war und den glasklaren, perlenden Schreibstil der Autorin faszinierend finde: In "Reichlich spät" findet sich zwar kein Bill Furlong, aber dafür zwei Hauptprotagonisten, die reichlich Grund dazu geben, zwischen den Zeilen zu lesen (was ich sehr mag) und sich eigene Gedanken zur recht kurzen Erzählung zu machen: Trotz der Kürze bietet Claire Keegan hier jede Menge Interpretationsmöglichkeiten und Spielraum, die sie dem geneigten Leser anbietet...


    Man begleitet Cathal, der einen recht eintönigen Bürojob ausübt, an einem sonnigen Tag Ende Juli in Dublin, wo die Geschichte spielt: Sein Chef (10 Jahre jünger als Cathal und stets korrekt gekleidet) rät ihm, nach Hause zu gehen und fragt ihn, ob es ihm gut gehe. Auch einer Kollegin gegenüber (er meidet Menschen und Konversation, besonders Frauen) äußert er sich auf diese Frage mit einem "bestens": Dem Leser bzw. der Leserin dürfte bald klar werden, dass sich seine wahren Gefühle nicht mit dieser Aussage decken: Er hatte sich diesen Tag vermutlich gänzlich anders vorgestellt.


    Vor zwei Jahren hatte er Sabine, eine zierliche brünette Frau bei einer Konferenz in Toulouse kennengelernt; wie sich herausstellte, arbeitete sie auch in Dublin (Gallery) und beide freundeten sich an: Sabine schien ihm "in sich selbst zu ruhen und gleichzeitig für alles um sie herum empfänglich zu sein" (Zitat), was ihn sofort für sie einnahm. Wie sich herausstellte - er wollte, dass sie zu ihm zog, konnte fabelhaft kochen; auch wenn sie den Einkauf teurer Lebensmittel nicht scheute. Cathal spielte mit der Möglichkeit, Sabine zu heiraten und fragte sie eines Tages....


    Der erste Streit bahnt sich wegen recht teurer Kirschen an, aus denen Sabine (in der Normandie aufgewachsen) Tarte Clafoutis backen wollte; später nörgelt Cathal über den Verlobungsring, der (Sonderanfertigung des Juweliers) einen Aufpreis beinhaltete.....


    Mit Cathal lernen wir einen wütenden Mann kennen, der das absolute Gegenteil von Bill Furlong zu sein scheint: Selbst in einem frauenverachtenden Haushalt aufgewachsen, passt ihm nicht, dass "sie (Sabine) nicht hören wollte und gut die Hälfte der Dinge auf ihre Weise tun wollte" (S. 35); das war für Cathal Teil des Problems. Der Dialog zwischen den beiden, was im Kern Frauenfeindlichkeit ausmache (Frage von Sabine an Cathal), fand ich sehr interessant und richtig. Eine Kollegin von Cathal beschreibt die irischen Männer, die hierbei nicht sonderlich gut abschneiden (was ich nicht beurteilen kann, jedoch annehme, dass sich diese Aussage nicht nur auf irische Männer beschränkt). Leider kann Cathal das Muster nicht erkennen, mit dem er selbst aufwuchs und das er in seiner Beziehung zu Sabine lebt; daher hält sich mein Mitleid sehr in Grenzen, würde ihm aber Veränderung wünschen. Sabine wiederum kann ich nur zu ihrer Entscheidung beglückwünschen.


    Der Stil von Claire Keegan, die hier das Scheitern einer Beziehung skizziert und jedes Wort treffend gewählt, keines zuviel ist, gefällt mir sehr: Sie schreibt pointiert, unaufdringlich und doch beharrlich in Sätzen durchscheinender Klarheit. Ich kann diese Erzählung absolut weiterempfehlen und hoffe, dass sie eine gute Diskussionsgrundlage z.B. in Paarbeziehungen ist, in denen es vielleicht gerade 'kriselt' und finde besonders positiv, dass die Autorin hier viel Spielraum für eigene Interpretationsmöglichkeiten und Gedanken gegeben hat. Dies ist in wenigen Worten das Markenzeichen von Claire Keegan.


    ASIN/ISBN: 3969993253

    Daisy von J. Paul Henderson erschien (HC, geb., 334 Seiten) 2024 im Verlag Diogenes, Zürich: Vorausschicken möchte ich, dass ich von den beiden Vorgängern ("Der Vater, der vom Himmel fiel" und "Letzter Bus nach Coffeeville") des Autors mehr als begeistert war: Dementsprechend freute ich mich nun auf diesen neuen, von Britta Waldhof vom Englischen ins Deutsche übersetzten Roman eines Autors, dessen schwarzem Humor und Sarkasmus, aber auch dessen Menschlichkeit ich literarisch völlig ausgeliefert bin.


    Die Hauptfigur namens Herod S. Pinkney, für Freunde lieber Rod, beschließt, seine Geschichte um Daisy einem Freund und Ex-Literaturagenten, Ric, vorzustellen in der Hoffnung, dass die Story publiziert würde: So lernen wir durch die einzelnen Kapitel Rod, seine Freunde Nelly und Edmundo sowie seinen Nachbarn und späteren Freund Donald kennen, wobei ihn einer bei einer späteren Reise in die USA begleiten sollte:


    Mit der Kindheit von Herod möchte sicher niemand wirklich tauschen; er erzählt, wofür der (nie benutzte) Buchstabe S. steht und man erfährt, dass der Vater ein Unternehmer ist, der hoffte, mit dem Namen Herod (wie König Herodes) alle Eigenschaften desjenigen zu übertragen (zielstrebig, skrupellos, ehrgeizig). Rod ist jedoch eher das Gegenteil desselben, weshalb er für den Vater eine 'wandelnde Enttäuschung' darstellt: Fortan sucht er, den Sohn möglichst immer auf Trab zu halten - auf Sesseln oder Sofas im Elternhaus zu lümmeln, ist ihm untersagt, und sorgt so dafür, dass Rod nach dem Ableben der Eltern nichts auslässt, sich das Leben so annehmlich und bequem wie möglich zu machen: Mit einem Schmunzeln erfährt der Leser, welche Hilfsmittel er dazu sehr gerne nutzt (Treppenlift, e-Scooter, e-Lifter für Bad/Dusche etc.) und jedem ans Herz legt, mit diesen Mitteln die Gelenke zu schonen, um im Alter kein Pflegefall zu werden....


    Erst nach der Schulzeit wird eine Legasthenie festgestellt, was Rod dazu nutzt, in die Nähe seiner Therapeutin zu ziehen (Geld spielt keine Rolle, er erbte eine Menge davon) und baut sein Haus nach o.g. Bequemlichkeitsformel um; Nelly; eine Ex-Nonne ist seine Haushaltshilfe und sein Gärtner (er hat einen Wandgarten am Haus), Klempner, Elektriker und auch sein Freund wird später Edmundo, der Ehemann von Nelly. Der Nachbar Donald hat ein Problem: Er darf keine Pampelmusen zu Hause lagern (da lässt seine auch ansonsten recht garstige Ehefrau Lydia nicht mit sich spaßen) und gräbt daher einen Tunnel, wo er seine geliebten Früchte lagern kann (als Ex-Soldat im Vietnamkrieg fühlt er sich unter der Erde ohnehin am wohlsten und zog extra nach London, da es hier wenigstens eine U-Bahn gibt): Hier schafft Rod Hilfe aus dem Dilemma; durch einen Tunneldurchbruch wird es für Donald möglich, in Rods Keller (der ohnehin gerade zu einer Bibliothek ausgebaut wurde) seine Pampelmusen zu lagern; fernab von Lydias empfindsamer Nase.


    Nun kann man so manchem "Männerabend" beiwohnen und dem Kauf eines neuen TV, woraufhin Rod, Edmundo und Donald jeden Donnerstag einer US-Gerichtsshow folgen, über die sie dann später fachsimpeln und in der eine Daisy Lamprich gegen einen Clay Miller prozessiert: Die junge Frau ist für Rod der Inbegriff von Anmut und stiller Würde; sie hebt sich dadurch von den anderen (meist unansehnlichen) Showkandidaten sehr ab und er verliebt sich letztendlich in diese Frau: Bevor er sich in ein Flugzeug nach Amerika setzt, lässt er mittels Detekteien herausfinden, wie die Lebenssituation der Angebeteten ist: Danach (und grünem Licht seitens Mr. Seymer's) fliegt er mit Donald, der ihn gerne begleitet, da er das Nixon-Museum in der Nähe von Huntington Beach, Kalifornien, besuchen will, in die USA, um Daisy endlich persönlich zu treffen....


    Meine Meinung:


    Der Stil dieses Romans in Slapstick-Manier ist unverkennbar und trägt in einzigartiger Weise die Handschrift von J. Paul Henderson: Die Romanidee ist schon eine skurrile; die Ausführung jedoch noch viel skurriler. Mit viel Humor nimmt der Autor so manche Neurose unter die Lupe; vollbringt Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb und stattet Figuren wie Rod, Edmundo und Donald mit liebenswürdigen Eigenschaften aus, so dass man sie (wie der Ex-Literaturagent Ric zurecht meinte) "ins Herz schließt wie streunende Kätzchen".

    Allerdings finde ich, dass Henderson hier zuweilen seine skurrilen Einfälle ein wenig "überspitzt" hat und der Tiefgang, den beide Vorgänger für mich hatten, hier nicht zu spüren war: Vielleicht war es auch nicht so sehr mein Thema wie der unvergessliche Vater, der vom Himmel fiel? Auf jeden Fall gelang es ihm, mich des öfteren zum Schmunzeln zu bringen und überraschte mich am Ende (das einem Knaller wirklich gleicht!) sehr! Eine seiner leichtesten Übungen ist es außerdem, "noch lose Enden zu einer hübschen Schleife zu binden", so Rics Worte.


    Fazit:


    Ein humorvoller, sehr unterhaltsamer Roman in der Tradition des Autors; dessen skurrile Einfälle mich auch hier zum Lachen brachten (und am Ende überraschten) und der es versteht, mit klugem Witz so manche Neurose zu sezieren - und Gesellschaftssatire zu betreiben, die auch mal an der Schmerzgrenze liegen kann. Ich hoffe jedenfalls, dass die nächste Buchidee schon in J. Paul Henderson reift, da er stilistisch zu meinen Lieblingsautoren zählt: Eine Leseempfehlung allen LeserInnen, die einen Sinn für Slapstick, Humor und skurrile Geschichten haben, die zudem sehr lesenswert sind! 4****


    ASIN/ISBN: 3257071876

    Spannungsgeladener Auftakt um eine reiche, mächtige, norwegische Reeder-Familie


    "Meeresfriedhof" von Aslak Nore stellt den Auftakt einer Trilogie dar, die mich tatsächlich vom Aufbau her entfernt an Stieg Larsson erinnerte; in dessen Tradition dieser vielschichtige Roman (eher literarischer Thriller) geschrieben wurde. Erschienen ist er (brosch, 542 Seiten) im KiWi-Verlag; also Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2024. Übersetzt aus dem Norwegischen hat ihn Dagmar Lendt.


    Inhalt:


    "Meeresfriedhof" ist der Beginn einer 3-teiligen Saga um die mächtige Reeder-Familie Falck (Reeder, Wohltäter, Politiker), die eine zentrale Rolle in der norwegischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in diesem Roman spielt und sich in zwei Familienzweige aufspaltet: Die reichen Osloer-Falck's (Inhaber einer Reederei und expandierenden SAGA-Gruppe incl. einer Stiftung). Oberhaupt ist (noch) Olav Falck, dessen Mutter Vera Lind, einst Schriftstellerin, sich in hohem Alter von den Klippen stürzt (war es überhaupt Selbstmord?), worüber besonders Enkelin Alexandra/Sasha genannt sehr bestürzt ist und die Wahrheit über ihre Großmutter herausfinden möchte; weitere Figuren sind Sverre Falck und Andrea Falck, die Olav jedoch nicht so nahestehen wie Sasha, die sein Augenstern ist und eine Forschungsgruppe sowie das Archiv von SAGA leitet.

    Die Bergenser Falck-Familie dagegen ist arm; sie lebt in einem Anwesen, das Vera Lind ihnen als Eignerin zu einem Spottpreis zur Miete überlassen hat und die Osloer an französische Schlösser denken lässt (Tische voller feinster Speisen, während sich die Bewohner frierend um den Kamin scharen). Das Oberhaupt dieses Zweigs ist Hans Falck, der sehr anders geartet ist als Olav: Hans Falck ist Arzt, Sozialdemokrat und ein Womenizer, der Menschen durch seine Ausstrahlung und seinen Charme für sich einnimmt. Er erhielt viele Auszeichnungen für seine Einsätze als Arzt im Nahen Osten (ausser Norwegen weitere Schauplätze des Romans; Nordirak, Kurdistan etc.)


    Die Familie stellt fest, dass nach dem Tod von Vera deren Testament unauffindbar ist - und die Zerreißprobe beginnt: Hat sie evtl. Hans Falck mehr begünstigt als die Osloer Familie um Olav Falck? Was war in den 1970er Jahren tatsächlich passiert - und weshalb brach Vera damals ihre schriftstellerische Tätigkeit abrupt ab?


    Die Spuren führen weiter in die Vergangenheit, in die Zeit der deutschen Besatzung Norwegens durch die Nationalsozialisten: War Thor- Store Falck wirklich ein Widerstandskämpfer oder machte er eher gemeinsame Sache mit den Deutschen, die vom Transportwesen ins nördliche Norwegen von den Hurtigrutenschiffen abhängig waren, um (auch) als Kriegsgewinnler aus dieser Zeit hervorzugehen?

    Die spannendste aller Fragen - die in Teilen des Manuskripts von Vera - also noch ein Buch im Buch - beantwortet werden, wenn auch fiktiv, ist die, aus welchem Grund das Schiff 'DS Prinsesse Ragnhold' am 23.10.1940 unterging; mit ihm über 400 Menschen, von denen nur wenige gerettet werden konnten....


    Meine Meinung:


    Das Lesen dieses sehr komplexen und vielschichtigen, spannenden literarischen Thrillers (was das Genre eher trifft als Roman; denn es gibt durchaus Krimi- und Thrillerelemente) verlangt dem Leser einiges ab: Die handelnden Figuren, besonders Olav Falck, Sasha, Sverre und auch Hans, sind nicht leicht zu durchschauen und wechseln als Sympathieträger wie Chamäleons: Besonders der Osloer Familie geht es um Macht und dem Erhalt derselben, Familienerhalt (familia ante omnia - die Familie zuerst) und sie ist gerissen genug, ihre Finger in so mancherlei Machtspielen zu haben (Geheimdienste, Politik, Verbindungen zu wichtigen Funktionsträgern im Staat etc.); in gewisser Weise wirken sie eiskalt und skrupellos, wenn es um ihre Interessen, um SAGA und der Familie geht: Wahrheit wird gerne mit einem Tuch aus Lügen überdeckt und der Schein der "Sauberkeit" gewahrt, um welchen Preis auch immer. Zeitweise sieht es so aus, dass Sasha Falck da anders gestrickt ist; doch immer wieder überraschen die ProtagonistInnen, da sie über Wendehälse verfügen, die stets die eigene Sicherheit abdeckt - und andere in Lebensgefahr bringen kann: Eine sehr interessante Figur ist John Omar Berg, genannt Johnny, der von Hans Falck beauftragt wird, seine Biografie zu schreiben: Hans lehnt sich (zurecht) gegen das Unrecht in der Welt auf und in den Ausflügen in die Weltpolitik (Afghanistan, Nordirak) spürt man sein Entsetzen über dortige Verhältnisse und sinnlosem Blutvergießen, das kein Arzt-ohne-Grenzen wirklich stoppen kann: Diese Ausflüge mit Hans oder "JB", also Berg, lassen hier durchaus politische Anteile einfließen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen können.

    Der Stil von Aslak Nore ist schnörkellos, packend und lässt den Leser bald schon nicht mehr los: Im letzten Drittel des Romans steigt der Spannungsbogen, auch durch die Manuskriptseiten, nochmal an, um mit unvorhersehbaren Wendungen und einem Cliffhanger zu enden: So kann der geneigte Leser dem 2. Teil (Felsengrund) lange entgegenfiebern, der 2025 erscheinen wird.


    Fazit:


    Ein sehr spannender, vielschichtiger, komplexer literarischer Thriller um eine reiche Reeder-Familie, um Macht und Reichtum, Lügen und Vertuschungen im Kampf um die Wahrheit. Aslak Nore hat um den historisch belegten Untergang des DS 'Prinsesse Ragnhild' im 2. WK (der Grund ist bis heute unklar!) eine unglaublich spannende Geschichte gewoben, in dem eine mächtige Reeder-Familie und auch die Geschichtsschreibung Norwegens eine große Rolle spielt. Er zeigt in authentischer Weise auf, dass Geschichte immer von den Mächtigen geschrieben wird; auch wenn sich so manches ganz anders zugetragen haben könnte. Interessant in diesem Zusammenhang auch der reale politische Charakter sog. Stiftungen, die oftmals nur ein Deckmantel für andere (politischen) Interessen abgeben. Von mir für diesen hervorragenden literarischen und historisch interessanten Thriller um Vera Lind und die Familie Falck eine absolute Leseempfehlung und 4,5 *


    ASIN/ISBN: 3462003968