Gespenstisch auf andere Art auch, wie nach seinem Selbstmord von den Behörden versucht wurde, Henriette zu beeinflussen oder gar zur Schuldigen zu machen. Da blieb mir fast die Luft
weg, als ich das Gespräch mit „Seiner Exzellenz“ gelesen habe. Da wird, losgelöst von den offensichtlichen wie nicht so offensichtlichen Fakten alles so hingedreht, daß es ins Weltbild paßt.
Na ja, ist heute vermutlich auch nicht viel anders. Und dem Kaiser darf man natürlich auf keinen Fall die unangenehme Wahrheit sagen. Warum eigentlich nicht? So, wie der sich verhalten hat, wäre das, um künftigen
Schaden abzuwenden, sicherlich gut gewesen. Aber was soll’s - das ist lange her und wer weiß, was der Henriette geblüht hätte, hätte sie ihm die Wahrheit gesagt.
Ein Suizid in der damaligen Zeit konnte zur Verweigerung eines kirchlichen Begräbnisses führen. Der Selbstmord des Kronprinzen war ein Skandal ohnegleichen. Der klägliche Versuch, die Baroness Vetsera aus der Geschichte zu streichen, zeigt das Ausmaß des Dilemmas. Es darf nicht sein, was nicht sein darf!
Dem Kaiser die Wahrheit zu sagen, denke ich, wäre einem treuen Untertan nicht in den Sinn gekommen. Bei der Kaiserin bin ich mir da nicht so sicher. Ich könnte mir vorstellen, dass sie ihrem Gatten Vorwürfe machte, sei es auch nur durch Blicke oder Distanz. Das schlechte Verhältnis zwischen Vater und Sohn war bekannt. Die unterschiedlichen politischen Auffassungen beider offensichtlich.
Dass Henriette kniff und seiner Majestät nicht die Wahrheit sagte, hatte für mich in dem Moment etwas mit Mitleid zu tun. Sie sprach mit einem Vater, der gerade seinen Sohn durch einen Suizid verloren hatte. Einen Mann, den die letzten Tage sichtlich altern ließen. Sollte sie ihm bestätigen, was er ohnehin annahm? Denn er spricht es ja direkt an, nachdem sie behauptet hatte, keinen Grund für den Selbstmord zu kennen. "Hat Ihnen mein Sohn vielleicht jemals Mitteilungen darüber gemacht, dass er sich mit mir uneinig gefühlt hat?" (S.134) Sie log, um ihn zu schonen. Ob er ihr glaubte, ist fraglich.
Eine andere Frage wäre, ob Henriette jemanden über Rudolfs Plan hätte berichten müssen. Aber hielt sie es überhaupt für möglich, dass er diesen verwirklichen würde? Ich denke, eher nicht. Es mag der Weltschmerz sein, von dem die Rede ist, den sie in Rudolfs Anwandlung sah. Wem hätte sie auch davon erzählen können? Wer hätte ihr geglaubt? 