Die Mitte der Welt
Andreas Steinhöfel, 1998 (2004)
Meine Rezension bezieht sich auf die Ausgabe:
Carlsen, ISBN: 978-3551353153, mit Nachwort des Autors
Es ist für mich außerordentlich schwer, eine Rezension zu diesem Buch zu schreiben. Weil es so viel zu kritisieren gibt. Und weil es trotzdem das Buch ist, das mir letztes Jahr am besten gefallen hat.
Der Grund ist schnell gegeben. Das Buch ist menschlich, spiegelt das Leben wieder, wie es ist, sein kann und gewesen sein könnte und lässt nichts aus. Es überwältigt dadurch, dass es nicht beschönigt, nicht verdammt, sondern unglaublich real wirkt. BJ hat das so viel kürzer und lebhafter als ich zusammengefasst. Es ist die Wirkung, vielleicht ist dieses Buch ein Blender.
Phil ist 17 und wohnt zusammen mit seiner Zwillingsschwester Dianne und seiner Mutter Glass in Visible, abseits der Stadt - die ohnehin nicht gut auf sie zu sprechen ist, weil Glass (und somit auch ihrer Brut) aufgrund ihres Männerkonsums ein eher unschmeichelhafter Ruf anhängt.
Phil hat eine beste Freundin namens Katja und früh akzeptiert, dass er schwul ist. Mutter Glass ist trotz all ihrer Macken ein Muttertier, dass ihre Kinder beschützt, bzw. es würde, wenn sich nicht das Verhältnis zu Dianne so schwierig gestalten würde. Das musste auch Phil erfahren, die besondere Bindung zwischen Zwillingen scheint bei den beiden nicht (mehr) zu bestehen. Da wir durch Phils Augen auf Glass sehen, sehen wir die familiären Probleme nicht richtig oder zu spät, Glass bleibt die Übermutter, die immer da ist und nicht hinterfragt wird, und Dianne spielt eine untergeordnete Rolle in seinen Gedanken.
Dann haben wir da Nicholas, den Blender, den Jungen, der neu in die Klasse kommt und sich in Phils Gedanken stiehlt. Er ist schön, sportlich, klug, beliebt und teilt seine Freundschaft unter allen gerecht auf. Er mag es halt jedem Recht machen, passt sich an. Phil und er kommen sich näher. Heimlich natürlich, bloß nicht öffentlich.
Nicholas ist derjenige, der nicht zu den durchkomponierten Figuren passt, er ist ein seltsames Konstrukt aus Eigenschaften, das zu keinem Zeitpunkt stimmig wirkt. Die in seinen Geschichten zu Tage tretende Intelligenz und sein Wissensdurst, sein kleines Refugium und die ab und an durchbrechende Zärtlichkeit, die auf eine einfühlende, nachdenkliche Person hinweisen, passen nicht im geringsten zu der Oberflächlichkeit und dem Blendwerk, das gleichberechtigt daneben steht. Er ist zusammengewürfelt aus den Eigenschaften, die der Autor für den Fortverlauf seiner Geschichte brauchte, und bleibt nur in der Ferne fassbar. Schade für eine wichtige Person, wirklich schade. Ich habe mit einem Bekannten versucht, sein Handeln irgendwie zu durchleuchten, wir sind kläglich gescheitert. Vielleicht gehört er zu den Menschen, die sich Masken aufsetzen, vielleicht zu denjenigen, die man nicht verstehen kann, vielleicht wusste aber auch der Autor nicht so recht, welche Rolle er Phils Angebetetem zukommenlassen sollte.
"Die Mitte der Welt" ist ein Buch, das als einen zentralen Aspekt den Wunsch nach Toleranz beinhaltet. Nicht nur für Phils Homosexualität (Andreas Steinhöfel erklärt in seiner Nachbemerkung übrigens, dass das Buch sehr oft auf diesen Aspekt reduziert werde, und er eigentlich denke, dass das in unserer Gesellschaft nicht mehr nötig sei), sondern auch für Glass mit ihrer unbeschwerten Partnerwahl, Dianne mit ihren durchaus leicht okkulten Interessen und ihrer Zurückgezogenheit, für alles, was ein wenig vom Standard abweicht. Akzeptanz, Selbstbestimmung, Freiheit sind andere solcher Schlagwörter. Und es ist das, was den beschränkten Personen in der Stadt fehlt, den Kleinen Leuten, auf Visible allerdings Verbreitung findet. Klingt das nicht wunderschön?
Wäre es. Der junge Grieche z.B., ein Geschenk des Onkels, der mit Phil ein paar verklärte, aber bezahlte Stunden am Strand verbrachte, passt nicht so ganz in diese Utopie der Ungezwungenheit, die anscheinend vor den Toren der Stadt endet.
Ebensowenig das bewusste Einsetzen der Klischees. Für einen toleranten Leser, den ich zumeist voraussetze, ist ein alberner Tuntentest oder die grobschlächtige Lesbe Pascal mit den männlichen Zügen klar als solches identifizierbar, weniger toleranten oder schlicht unwissenderen Lesern wird es anders gehen. Ich denke dabei gerade daran, dass dieses Buch in der Schule gelesen wird, aber das konnte Herr Steinhöfel ja nicht erahnen.
Nun ja, ich könnte weiterkritisieren, zum Beispiel, dass ich nach der Nachbemerkung des Autors felsenfest davon überzeugt war, er hätte seine Hauptfigur nicht verstanden - aber auf Äußerungen von Autoren über ihre Werke gebe ich sowieso nicht unbedingt viel. (Wer sich interessiert wieso, sollte Ödön von Horváths "Gebrauchsanweisung" zu seinen Stücken lesen, die erschreckenderweise durchaus ernsthaft untersucht wird und zudem Pflichttext für mein Abi ist.)
Und es gibt noch weitere Punkte, die ich abhaken könnte, ich habe viel zu kritisieren. Der Grund dafür ist allerdings derjenige, dass mir das Buch so gut gefallen hat, dass ich umso stärker auf den Teilen herumhacke, die es nicht getan haben. Und folgend auf den Verriss kommt deshalb jetzt die Lobeshymne:
Ich weiß nicht so recht, wie ich erläutern soll, warum mir das Buch so gut gefallen hat. Es ist vor allem die Stimmung, in der es geschrieben ist, die Art, wie es das Leben einfängt. Unbeschönigt, und doch ein Geschenk voller beeindruckender Momente, echt, voll der kleinen und größeren Makel, ein wenig wie Nicholas’ Sammelsurium aus unterschiedlichen Fragmenten. Bei allem, was in diesem Buch passiert oder ans Licht kommen mag, das lebensbejahende Gefühl bleibt, sowie auch die magischen Momente wiederkehren und den Leser bezaubern. Das Buch nimmt sehr stark gefangen, spricht Gefühle an, opfert dem einen oder anderen wichtigen Moment auch ein wenig die Realität oder Glaubwürdigkeit, was nur dadurch auffallen kann, weil es ansonsten so lebensecht wirkt.
Phil ist als Protagonist in einem Prozess der Selbstfindung gefangen, es auf das schwule Coming-out zu beschränken, ist sicherlich zu kurz gedacht, obwohl es im Wechselspiel mit den konventionellen Ansichten der Kleinen Leute, dem Konflikt zwischen Akzeptanz und Ignoranz, durchaus eine Rolle spielt. Es ist allgemeiner, Phil, der zurückgezogene (wenn auch längst nicht so passiv wie im Nachwort), intelligente Junge mit der Wunschvorstellung von der großen Liebe, muss sich lösen, auch vom Mikrokosmos Visible, und Erfahrungen sammeln. Es ist ein Coming-of-Age-Roman (mit einer äußerst gelungenen Schlussszene übrigens).
Zudem ist er als Ich-Erzähler der Motor des Romans, deswegen kann ich leicht verstehen, wenn man sich beim Betrachten auf ihn und seine Probleme beschränkt, denn er füllt diese Rolle auf ungewöhnliche Weise: Still, nachdenklich, romantisch, er drängt sich nicht in den Vordergrund. Er lässt Raum für Aussagen über Toleranz und Akzeptanz. Trotz der oben erwähnten Kritik denke ich, dass diese Aussagen stark sind, und selbst wenn sie doch einmal schwächeln, ändert das nichts an ihrer Richtigkeit und Bedeutung.
Und er lässt Raum für andere, von ihm geführt springt der Leser in der nur teilweise linear erzählten Handlung auch in vergangene Erinnerungen, Nebenstränge, in die Geschichten anderer Personen. Teresa, Glass, Katja, Dianne. Wir hüpfen wild umher, treffen auch auf Bonbonverkäufer, Kämpfer, Wolfskinder und Seemänner und eine Puppe namens Paleiko. Wir erhaschen Blicke auf andere Leben.
Und das erlebt man alles munter fortgerissen in einem Sprachfluss, der nie zu enden scheint, von immer neuen Dingen zu berichten weiß, bis er dann doch nach etwas mehr als 450 Seiten versiegt und den Leser gestrandet und ein wenig überwältigt zurücklässt. Ich werde ganz sicher jetzt sämtliche anderen Bücher von Andreas Steinhöfel auch nach und nach lesen, und dieses wartet schon auf einen Reread.
Und was meine Kritik angeht: Das Leben ist nicht perfekt und wird es nie sein, aber man genießt es trotzdem. Ähnlich ging es mir mit diesem Buch.
bartimaeus