Beiträge von Bernard

    Literaturkritik ist eben keine empirische Wissenschaft. Die Qualität von Literatur kann man nicht wiegen/ zählen/ messen. Die Wirkung entfaltet ein Text immer im Zusammenklang mit dem Leser, auf den er trifft. Wie stark diese Wirkung ist, hängt deswegen mindestens so stark vom Leser, dessen Hintergrund und aktueller Situation ab wie vom Text selbst. Selbst so banale Dinge wie das Umfeld im Moment des Lesens können entscheidend sein - natürlich wirkt der gleiche Text anders, wenn ich ihn mit einem Glas Rotwein im Lesesessel anschaue oder eingeklemmt mit anderen Fahrgästen in einer U-Bahn.


    Also - meine Meinung: Nein, es gibt keine objektive Kritik.

    Zufälligerweise habe ich gerade dieser Woche wieder ein Manuskript an Testleser geschickt, deswegen kann ich ganz frisch hier von meinen persönlichen Krieterien berichten:


    Zitat

    Original von beisswenger
    1. Sucht er nur Leser seines Genres oder fischt er auch neben seiner Zielgruppe?


    Auch neben der Zielgruppe. Ich halte Zielgruppen ohnehin für Kunstkonstrukte - was früher "für 12 bis 16 Jahre" etikettiert war, ist heute "All Age" und wird mehrheitlich von Erwachsenen gelesen. Zudem bekommt man einen besonders frischen Blick, wenn jemand, der eigentlich kein Fantasy liest, eine Sword and Sorcery-Geschichte kommentiert.


    Zitat

    Original von beisswenger
    2. Wie viele Testleser sollten es sein?


    Besser 1 guter als 10 schlechte. Insgesamt nicht mehr als 5, damit man noch die Möglichkeit hat, mit jedem einzeln über das Manuskript zu sprechen.


    Zitat

    Original von beisswenger
    3. Männlich/weiblich = 50%/50% ?


    Mehr weiblich als männlich. Liegt vielleicht daran, dass ich selbst männlich bin und deswegen für mich die "weibliche Sicht" wertvoller ist, die ich schließlich nicht selbst beisteuern kann. Grundsätzlich werden aber ohnehin viel mehr Bücher von Frauen als von Männern gekauft, deswegen hat die weibliche Sicht mehr Relevanz. Jedenfalls, wenn das Manuskript kein Porno, kein Western und keine sehr technisch getragene Science Fiction ist.


    Zitat

    Original von beisswenger
    4. Wie reagiert er bei konträren Meinungen?


    Bei einem gemischten Bild gibt meine eigene Meinung den Ausschlag. Wenn ich selbst keine ausgeprägte Meinung habe, diskutiere ich mit den Probelesern über die Passage und bilde mir so eine Meinung.


    Zitat

    Original von beisswenger
    5. Bereitet er einen Fragenkatalog vor?


    Nein. Die Probeleser sollen das Manuskript möglichst so lesen wie ein ganz normales Buch. Sie sollen sich als Leser fühlen, nicht als Laboranten. Bei einem Fragenkatalog würde ich befürchten, dass die Authentizität des Leseeindrucks litte.


    Bei mir gibt es ein weiteres Kriterium: Die- oder derjenige schreibt nicht selbst. Autoren neigen massiv dazu, sich zu überlegen, wie sie selbst einen Stoff umgesetzt hätten oder arbeiten, noch schlimmer, irgendwelche Regelkataloge ab (... nicht mehr als drei Adjektive in einem Satz ...). Das ist für mich uninteressant.


    Außerdem muss ich ein gewisses Vertrauensverhältnis zu den Testlesern haben - ich habe keine Lust darauf, mein Manuskript als Download auf irgendeiner Webseite auftauchen zu sehen.


    Zitat

    Original von beisswenger
    Oder verzichtet er auf Testleser(hörer) und folgt nur seiner inneren Stimme?


    Tendenziell ist tatsächlich meine eigene Meinung ausschlaggebend. Mein Name steht nachher auf dem Cover und ich muss zu dem Buch stehen. Wenn es Fehler in der Geschichte gibt, sollen es bitte meine eigenen Fehler sein.

    Klappentext:
    Ganz gleich, ob Sie einen Thriller als Roman oder als Drehbuch schreiben wollen, »Wie man einen verdammt guten Thriller schreibt« begleitet Sie während des gesamten kreativen Prozesses. James N. Frey zeigt, wie man einen überzeugenden Plot entwickelt, fein aufeinander abgestimmte, stark motivierte und komplexe Figuren schafft und sie in dramatischen Konflikten gegeneinander ausspielt. Die äußerst lesenswerte und praxisorientierte Anleitung verrät Ihnen sämtlichen Kniffe und Tricks eines erfahrenen Geschichtenerzählers. Die Bibel für jeden Thriller-Autor.


    Meine Meinung:
    Ich finde das Buch aus zwei Gründen problematisch. Erstens definiert Frey eingangs den Begriff "Thriller" extrem weit. Wenn Hemingways "Der alte Mann und das Meer" als Thriller gesehen wird, geht mir das zu weit, da fehlt mir die Trennschärfe. Ich halte das allerdings für einen Marketing-Gag, um die Relevanz des Ratgebers für ein weites Publikum zu etablieren, denn in den späteren Kapiteln wird dann auf echte Thriller Bezug genommen, wenn das Handwerk erläutert wird. Insofern aus meiner Sicht nicht ganz integer, aber verzeihlich.
    Gravierender ist der Mangel, dass Frey sich sehr häufig auf seine früheren Ratgeber bezieht, insbesondere die beiden "Wie man einen verdammt guten Roman schreibt"-Bände. Wenn man davon nicht zumindest den ersten kennt, wird man mit dem vorliegenden Buch wenig anfangen können. Wenn man sie aber kennt, wird man zehn Prozent als Wiederholung empfinden.
    Diese Schwächen sind ärgerlich, können aber letztlich den Gesamteindruck der vergnüglichen Lektüre nicht verderben. Es macht einfach Spaß, Freys Ausführungen zu folgen und es ist erfrischend, dass er nicht auf unbedingte Harmonie mit seinen Kollegen aus ist, sondern beispielsweise das "Drei-Akt-Schema" als (aus seiner Sicht) ziemlichen Unsinn brandmarkt.
    Ob man Freys Methode folgt oder nicht, muss jeder Autor selbst entscheiden. Wenn man es tut, hat man einen wohlstrukturierten Werkzeugkasten zur Hand und damit eine Garantie, sich während des Schreibprozesses nicht völlig zu verfransen.

    Wer Mantel und Degen-Geschichten mag, dem wird "Die Türme von Taladur" gefallen. Der sechsbändige Zyklus spielt in Taladur, einer Stadt der feinen Sitten, geprägt vom Stolz der Familias, deren Streittürme das Stadtbild beherrschen. Hinter den Fächern der Damen, auf eleganten Bällen im Teatro und zuweilen auch mit blitzenden Degen werden Intrigen gesponnen und Fehden ausgetragen. Zwar wird selten gezaubert, aber ein Hauch von Magie durchweht diese Fantasy-Geschichte.


    "Türme im Nebel" ist der Auftaktband des sechsteiligen Zyklus "Die Türme von Taladur", dessen Redakteur ich bin. Bei der Konzeption haben wir besonderen Wert darauf gelegt, auch Leser, die "Das Schwarze Auge" noch nicht kennen, zu einem Ausflug in das erfolgreichste deutschsprachige Fantasy-Setting einzuladen. Im Zentrum der Handlung stehen die Figuren mit ihrer Liebe, ihrem Sehnen, ihren Ängsten und manchmal auch mit ihrer Tragik. Durch ihre Augen entdeckt der Leser ein Stück von Aventurien, dem Kontinent, an dem seit über fünfundzwanzig Jahren eine große Schar von Fantasy-Liebhabern seine Freude hat.


    Die Bände und ihre Autorinnen bzw. Autoren:
    Bernard Craw - Türme im Nebel
    André Wiesler - Die Last der Türme
    Marco Findeisen - Das Spiel der Türme
    Eevie Demirtel - Tanz der Türme
    Dorothea Bergermann - Türme aus Kristall
    Stefan Schweikert - Meister der Türme


    Das Projekt hat eine eigene Webseite, die unter http://www.taladur.de/ zu erreichen ist.

    Inhalt:
    Das Buch ist eine Zweitverwertung kurzer Texte, die Kehlmann zwischen 2006 und 2009 verfasst hat. Ihre Themen kreisen um Literatur. Zum Teil diskutiert Kehlmann das Lebenswerk berühmter Autoren wie Thomas Mann, zum Teil bespricht er einzelne Bücher wie "Puls" von Stephen King. Der dritte Abschnitt des recht dünnen Buches versammelt Reden Kehlmanns, die er anlässlich von Universitätsvorlesungen, einer Preisverleihung und einer Festspieleröffnung verfasst hat. Bei diesen geht es neben Kehlmanns Verhältnis zur Literatur auch um eine Reflexion seines eigenen Werkes.


    Meine Meinung:
    Ein schönes Büchlein, das man gut an einem ruhigen Sonntag lesen kann. Kehlmann zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht einfach wiederkäut, was in der Komfortzone der allgemeinen Literaturkritik bequem ist, sondern sich eine eigene Meinung erlaubt. Diese ist auch dann vergnüglich zu lesen, wenn man nicht (immer) mit ihr übereinstimmt.
    Ich finde solche Bücher vor allem in den Passagen spannend, in denen sie persönlich sind. Die wesentlichen Daten aus Shakespeares Leben könnte ich auch und besser in einer Monografie nachlesen, aber wie Shakespeare auf Kehlmann wirkt, erfahre ich nur aus diesem Buch. Und durch welche Tiefen, man möchte sagen: Demütigungen Kehlmann vor seinem Erfolg gegangen ist, lässt einen betroffen schweigen.

    Eine traurige Nachricht. Ich hatte auch zuerst Berührung mit den Hörspielen, die gingen damals auf Kassette in der Klasse rum. Später habe ich dann einige Perry Rhodan-Hefte von ihm gelesen, wenn ich mich nicht irre.

    Zitat

    Original von Tom
    Erstens gibt es nicht die allergeringste Notwendigkeit, einem Dreijährigen zu erzählen, da wäre ein Gott, der über ihn wacht, und den er deshalb gefälligst vor dem Einschlafen anzubeten und dessen Gebote er zu befolgen hätte, weil der Kleine sonst nämlich in die Hölle kommt.


    Was mir daran schon wieder nicht passt, ist die Darstellung, dass religiöse Erziehung auf die Erzeugung von Ängsten abzielen würde. Das mag vorkommen, aber dafür braucht man dann keine Religion, sondern ein paar im Wortsinne handfeste Argumente reichen ebenfalls aus.
    Mir wurde nie gesagt, dass ich in die Hölle käme, wenn ich nicht brav sei.
    Dafür aber, dass der heilige Martin ein guter Mann war, weil er einem nackten Mann im Winter die Hälfte seines Mantels abgab. Ein ziemlich abschreckendes Beispiel, wenn man nur in materiellen Maßstäben denkt.


    Zudem lässt Du mal wieder die gedankliche Flexibilität vermissen, Dich von Deiner Ideologie unabhängig an einer Diskussion zu beteiligen. Kleine Hilfe: Was wäre denn, wenn der Kleine wirklich (als objektive Tatsache) bei einem einzigen vergessenen Kreuzzeichen in die Hölle käme und der Vater das wüsste? Dann gäbe es mehr als nur eine allergeringste Notwendigkeit ...
    Aber Du kannst Dich offenbar seit Jahren nicht von dem Wunsch lösen, dass alles jenseits der materiellen Welt Idiotie sei. Wenn das die Prämisse ist, die für die Teilnahme an der Diskussion einzunehmen ist - dann stimme ich zu: Alle Religionsausübung ist Unsinn und der Übermensch regiert vermittels seines dominierenden Intellekts.

    Zitat

    Original von Gummibärchen
    Ich weiß, dass meine Eltern leben oder nicht.


    Das kann man durchaus anzweifeln, wenn man spitzfindig ist. Vielleicht wurdest Du in einem Reagenzglas zusammengemixt und adoptiert. Den Gegenbeweis wirst Du nicht führen können.


    Zitat

    Original von Gummibärchen
    Es heißt doch auch darum "Glauben". Wenn jemand sagt "Ich weiß, dass es Gott gibt" ist es in meinen Augen nur ein (etwas zu) starker Glaube. Niemand kann WISSEN, dass es Gott gibt, ist meine Ansicht.


    Niemand kann überhaupt irgendetwas wissen, das ist meine Ansicht. Alles könnte ein Drogentraum sein. Nur ist diese Annahme nicht sinnvoll.
    "Glauben" als theologischer Begriff ist so etwas wie "Überzeugung", was "Wissen" einschließt. Ich verwende deswegen in solchen Diskussionen wie diesen ungern den Begriff "Glauben". Er ist beinahe so missverständlich wie "Liebe" (was soll denn das bitte sein?) oder der Begriff "Gott" selbst.
    Wenn "Gott" etwas ist, auf das man sein eigenes Leben ausrichtet und auch zu opfern bereit ist, dann ist "Geld" wohl für viele ein "Gott", "Schönheit" für viele andere.

    Zitat

    Original von melancholy
    Und wie genau wurde dir das Bild Gottes offenbart? Vermutlich so, wie jedem anderen wahren Christen, Juden oder Muslim: durch eine Gotteserscheinung :grin


    Nach Deinem bisherigen Auftreten in dieser Diskussion zu urteilen wirst Du es zwar kaum akzeptieren können, aber die Zwiesprache mit Gott im Gebet spielt dabei tatsächlich eine entscheidende Rolle.


    Zitat

    Original von melancholy
    Aber wie kann denn ein Christ Religion lehren, ohne dabei Gott in irgendeine Weise zu beschreiben, sprich sich und anderen ein Bild von ihm machen?


    Ich frage das ohne Ironie, einfach weil ich Dich nicht kenne: Sind Dir die biblischen Geschichten bekannt? Dort wird sehr wenig über Gott als solchen gesprochen, aber viel über Menschen, die Erfahrung mit Gott hatten. Auch religiöse Erziehung hat wenig mit dicken Katalogen zu tun, die man auswendig lernt, und viel mit (oft gemeinsamem) Erleben.


    Zitat

    Original von melancholy
    Es gibt keine absolut gültige Wahrheit, sondern nur eine individuelle.


    Also, wenn das kein dogmatischer Glaubenssatz ist, dann habe ich noch nie einen gelesen ... :grin


    Zitat

    Original von melancholy
    Tja, vorher meintest du noch, Religion habe sehr wohl Einfluss auf das Überleben.


    Auf das Überleben nach dem Tod, ja.


    Zitat

    Original von melancholy
    Und wenn - wie du sagst- die Möglichkeit des Überlebens bei jedem Gläubigen wie Nicht-Gläubigen derIndustirenationen gleich ist, hat Religion demnach höchstens Einfluss auf die Lebensqualität, der Menschen, die sich für diese Art der Fragen-Beantwortung entschieden haben.


    Das trifft allerdings auf nahezu jede Entscheidung zu, die wir in unserem Leben treffen. Trete ich dem Büchereulenforum bei? Gehe ich in Kino? Heirate ich diesen oder jenen? Esse ich Rindfleisch oder vegan? - Nichts davon ist unmittelbar für das Überleben entscheidend.

    Zitat

    Original von melancholy
    Bei Religion bzw. Glaube geht das nicht so einfach. Man kann nicht einerseits an einen Christengott glauben, während man gleichzeitig an die Hindu-Götter glaubt und nebenbei der Meinung ist, dass es keinen Gott gibt.


    ... und deswegen ist das Nicht-Lehren einer Religion eine genauso starke Einflussnahme auf ein Kind wie das Lehren einer Religion.


    Zitat

    Original von melancholy
    Und woher weißt du, dass es nicht einen Anti-Gott gibt, der alle, die es wagten, sich ein Bild über ihn zu machen, ihn als gütig oder sonstwas zu bezeichnen, überhaupt die Anmaßung besessen haben, irgendeine bestimmte Vorstellung von ihm zu haben, am Ende vors Gericht zieht?


    Falsche Frage.
    Ich habe zwar eine sehr feste Überzeugung zu dieser Thematik, aber wenn ich in einer offenen Diskussion teilnehmen möchte, darf ich diese Überzeugung nicht voraussetzen. Sonst würde ich hier schreiben: "Liebe melancholy, alles sehr schön, aber wieso schreibst Du so etwas, wo Du doch nur in den Katechismus schauen musst, um alle Fragen beantwortet zu bekommen?" Ich muss mich auf eine andere Ebene begeben und alle Möglichkeiten als zulässig erachten, da die Diskussionsteilnehmer über die Faktenlage keinen Konsens haben. Die Möglichkeit, dass Religion nur eine fixe Idee und etwas Menschengemachtes sei, muss hier gleichwertig stehen gegenüber der Möglichkeit, dass z.B. die Bibel göttlich inspiriert ist und sich weltlichen Nutzenüberlegungen entzieht. Das gebietet der Respekt vor dem Gesprächspartner.
    Wenn aber alle diese Möglichkeiten als potenziell faktisch richtig einbezogen werden, dann ist die Frage "welchen Nutzen bringt mir eine religiöse Erziehung für meinen Erfolg (nach welchem Maßstab überhaupt?) in der Welt" eine unzulässige Verengung. Sie ist äquivalent zu der Frage "Was nützt dir dein angenehmes (?) Leben nach dem Tod?"



    Zitat

    Original von melancholy
    Ist es nicht auch arrogant, sich von einem so Übermächtigen ein so genaues Bild zu machen?


    Ein gläubiger macht sich kein Bild - zumindest kein gläubiger Jude, Muslim oder Christ. Es wird ihm offenbart. Wahrheit kann man sich nicht aussuchen, man kann sich nur bemühen, sie zu erkennen.
    Das ist auch eine Teilantwort auf das von Dir in einem früheren Posting angesprochene "und führe uns nicht in Versuchung". Du scheinst der Meinung zu sein, wenn es einen Gott gäbe, dürfe er die Menschen nicht in Versuchung führen. Warum nicht? Offenbar ist der christliche Gott anders, als Du Dir einen Gott vorstellen kannst. Das Buch Hiob (manchmal auch Ijob geschrieben) aus dem Alten Testament kann da einige Perspektiven zurechtrücken. Auch das Erschlagen aller Erstgeborenen Ägyptens passt schlecht zum Heiti-Teiti-Glauben im Weihnachtskitsch.


    Zitat

    Original von melancholy
    Tut mir leid, wenn ich dich falsch verstanden habe. Aber ich weiß immer noch nicht, wie der Glaube von Natur aus wesentlich zum Überleben in unsrer (jetzigen!) Welt sein kann.


    Ich habe wenig Anlass, mich um mein Überleben zu sorgen, und das dürfte ich mit den meisten Bewohnern der Industrienationen gemein haben. Mir geht es um Leben, nicht um Überleben. Um Lebensqualität. Und die wird bei mir persönlich erheblich durch meine Religion beeinflusst. Ich schaue gern Science Fiction Serien, schreibe gern Horror-Romane, gehe gern in Metal-Kneipen und vieles mehr - aber das alles verblasst neben dem Besuch eines Ostergottesdienstes. Andere langweilen sich in der Kirche. Okay, andere haben auch nicht erkannt, dass Metallica den Gipfel abendländischer Musikkultur darstellen. :grin

    Zitat

    Original von Tom
    Glauben ist die Entscheidung ... für ein mystisches, unbeweisbares, ritualisiertes Gedankengebäude, das in der Ausführungspraxis Gedanken dann nicht mehr so schrecklich willkommen heißt.


    Zur richtigen Einordnung:
    Nach dieser Definition von Glauben bin ich ungläubig. 1,2 Milliarden Katholiken ebenfalls. Vemutlich auch die große Mehrzahl aller Christen und aller Leute, die sich selbst als Gläubig bezeichnen.
    Du hast nämlich die Definition von Aberglaube angeführt, nicht von Glaube.

    Zitat

    Original von melancholy
    Aber jeder Mensch hat die Anlage zur Sprache. Lehrt man einem Gehörlosenkind beispielsweise keine Gebärdensprache, entwickelt es seine eigene Zeichensprache, die z.T. auch eine sehr hochentwickelte Grammatik haben kann.
    ...
    Wir haben vielleicht die Anlage zum Glauben, aber Glauben ist ja etwas sehr vielfältiges.


    Das ist äquivalent. Der Mensch ist prädestiniert, nach Antworten auf existenzielle Fragen zu suchen. Er wird auch immer welche finden - manche sind sehr einfach ("alles sinnloser Zufall") und andere sehr komplex ("... wenn der Wassermann im dritten Haus des Uranus ..."). Manche Religionen haben sich über Jahrtausende entwickelt, ebenso wie manche Sprachen. Unterschiedliche Religionen geben unterschiedliche Antworten auf die gleichen Fragen, so wie unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Begriffe für die gleichen Dinge haben. "Snow" ist nicht besser als "Schnee" zur Beschreibung von gefrorenem Wasser geeignet, aber im jeweiligen Sprachkontext macht nur eines von beiden Sinn, während das andere von der Rechtschreibprüfung angemeckert wird, und für einen Inuit, der ein paar Dutzend Worte für verschiedene Sorten von Schnee kennt, ist beides primitiv und unzureichend.


    Zitat

    Original von melancholy
    Wir brauchen Religion nicht zum Überleben, zumindest nicht von Natur aus.


    Mich stört die Arroganz dieser Aussage. Sie unterstellt, dass die Religionen nichts als Märchen sind und manchen Leuten simplen Gemüts durch positive Selbsttäuschung helfen. Das ist eine unzulässige Annahme. Du kannst nicht ausschließen, dass wir alle einmal vor Wotan stehen, und dann ist es für unser Überleben essentiell, ob wir zum Frühjahrs-Äquinox um eine Eiche getanzt haben oder nicht.



    Zitat

    Original von melancholy... man ist ja zum Zeitpunkt der Geburt - so denke ich - eine tabula rase was Glaubensinhalte anbelangt, und wie oder ob man sie nun gefüllt werden, hängt meines Erachtens sehr wenig mit der späteren Lebensqualtität zusammen. Lebensqualität ist immer Einstellungssache, und zu seiner Einstellung muss jeder Mensch selbst finden.


    Die "tabula rasa" trifft auch auf die Sprache zu, siehe oben. Auch auf so ziemlich alle Formen von Wertvorstellungen. Ich wehre mich dagegen, die Religion hier zu einem Sonderfall zu machen. Die Eltern sollen ihre Kinder erziehen - dann sollen sie es bitte auch voll und ganz machen.
    Bei der Lebensqualität berichtete ich von meiner persönlichen Erfahrung. Für mich ist Religion Selbstverwirklichung und Lebensqualität. Ich erwähne das, weil hier unterstellt wurde, dass Religion zu Duckmäusertum und Schmalspurdenken verleite, und diese Wahrnehmung kann ich aus meinem persönlichen Umfeld heraus nicht teilen.
    Dass es Menschen gibt, die in der gegenteiligen Entwicklung Erfüllung finden, ist mir klar. Mich fasziniert beispielsweise Michail Bakunin. Er ist sehr religiös aufgewachsen, später hielt er die Unterordnung unter einen Gott mit seinen anarchistischen Wünschen für unvereinbar (sinngemäß: "Wenn es einen Gott gäbe, müsste ich ihn umbringen, denn er würde mich als Menschen relativieren!"). Er wurde glücklich als Anarchist, Terrorist - und Atheist.

    Es ist ein Trugschluss, zu vermuten, es gäbe in diesem Thema eine neutrale Position. "Nicht-Glauben" ist ebenso eine Entscheidung wie die Entscheidung für eine Religion. Daher ist auch das Nicht-Lehren eine Prägung, die am Kind vorgenommen wird.


    Noch stärker als durch die Religion wird man in frühen Jahren durch die Sprache geprägt. Wenn jemand mit der deutschen Sprache aufwächst, wird das sein Leben lang die Denkmuster in seinem Gehirn bestimmen. Er wird immer anders denken als ein Japaner, einfach weil das Raster, in dem er Fakten ablegt, ein anderes ist. Die Sprache gibt unser gedankliches Ordnungsprinzip vor. Soll man nun Kindern jeden Kontakt mit Sprache vorenthalten, bis sie sich (auf welcher Grundlage?) selbst entscheiden können, ob sie zuerst mit Russisch oder mit Suaheli in Kontakt kommen wollen?


    Soll man ihnen erst etwas zu essen geben, wenn sie sich soweit artikulieren können, dass sie erzählen können, was ihnen schmeckt? - Der Vergleich ist übrigens ausgesprochen treffend, denn das wäre lebensgefährlich für das Kind. Ebenso wie es, gelinde gesagt, ausgesprochen ungünstig ist, ungetauft zu sterben und dann vor dem Jüngsten Gericht zu stehen - und das kann auch einem Kind passieren. Wenn die Eltern davon überzeugt sind, dass die Zugehörigkeit und Ausübung einer bestimmten Religion für das Wohlergehen (Seelenheil) ihre Kindes förderlich ist, handeln sie fahrlässig, dieses nicht zu fördern.


    Abgesehen davon ist Religion auch Lebensqualität. Für mich beispielsweise ist sie wesentlicher Teil meiner Selbstverwirklichung, und sie gibt mir eine Perspektive, die mich unabhängig und unempfänglich für vielerlei Einflüsse und Manipulationen macht. Ich bin daher sehr froh, in meiner Religion erzogen worden zu sein.

    Ich zitiere mal einen Autor (den Namen nenne ich nicht, ich weiß nicht, ob es ihm recht wäre), der auch lange meinte, es gäbe die wunderbare Marketing-Erfolgsformel. Inzwischen ist er in mehrere Sprachen übersetzt und sagt:


    Bücher werden irgendwann irgendwo von irgendwem aus irgendwelchen Gründen gekauft.


    Klingt resigniert, was Erfolgsstrategien angeht, oder?


    Das Einzige, was ich gesichert sagen kann, ist: "Wer hat, dem wird gegeben." Soll heißen: Bei Büchern, die sich sehr gut verkaufen, besteht eine vergleichsweise hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie sich noch besser verkaufen werden. Erfolgsautoren werden vermutlich auch mit ihren Folgeveröffentlichungen Erfolg haben. Winner takes it all ...

    Da stellen sich zwei zusammenhängende Fragen:


    1) Wie gut kennen sich Deine Leser am Handlungsschauplatz aus?
    2) Wie wichtig ist ihnen, dass ihre Kenntnisse mit Deinen Schilderungen übereinstimmen?


    Sherlock Holmes wohnt in der Baker Street in London.
    Jeder Leser der entsprechenden Romane weiß, dass die Hauptstadt von England London heißt und nicht Birmingham. Wenn Doyle hier "Birmingham" statt "London" geschrieben hätte, wären seine Bücher im Kamin gelandet.
    Kaum ein Leser weiß, ob es in London eine "Baker Street" gibt und wenn doch, ob sie dort liegt, wo Doyle sie verortet. Es ist auch so ziemlich jedem Leser egal, solange seine Vorstellung von London sich damit vereinbaren lässt, dass es dort eine solche Straße geben könnte.
    Ob nun Holmes' Wohnhaus so aussieht wie im Roman beschrieben - who cares?


    Ein extremeres Beispiel: James Clavell gilt als jemand, der Millionen von Lesern das historische Japan erschlossen hat. Dabei ist er aber alles andere als exakt - er legt beispielsweise aus dramaturgischen Gründen Ereignisse zusammen, zwischen denen in der echten Historie mehrere Jahrzehnte und ein paar hundert Kilometer lagen. Das hat seinen Weltruhm eher befördert (weil es zur Spannung seiner Geschichten beiträgt) als geschadet - der Anteil der Japanologen unter seinen Lesern ist eben gering und selbst unter denen wird es viele geben, die bei einem fiktionalen Text den Unterhaltungsaspekt im Vordergrund sehen.

    Mir hat das Buch auch sehr gut gefallen. Besonders positiv ist mir die Wandlung der Hauptfiguren aufgefallen, die für ihre Ziele deutlich weiter gehen, als ich es aus anderen Geschichten kenne.