Beiträge von Arno Abendschoen

    2009 jährte sich Jahnns Todestag (29. November) zum 50. Mal. Das war für mich ein Anlass, mir über sein Hauptwerk und dessen Struktur einige Gedanken zu machen. Dabei imaginierte ich einen Leser, der die Trilogie schon kennt und mitreden kann und dem ich gleichzeitig alles Grundlegende erst erklären darf. Einen solchen Leser gibt es natürlich nicht, doch dieser Ansatz scheint mir gut zu dem außerordentlich facettenreichen und in sich widersprüchlichen Werk zu passen.


    „Fluss ohne Ufer“ ist nach Botho Strauß „eines der mächtigsten Prosawerke deutscher Sprache.“ Und es ist eine gigantische Ruine. Jahnn hat die Kulturen des Alten Orients geliebt und studiert, Ägypten, Mesopotamien. Seine Trilogie hat Ähnlichkeit mit einer Stufenpyramide, die halb erhalten dem Wüstensand entrissen wurde. Um den Titel eines Romans von Rosendorfer zu zitieren: Als Epiker war Jahnn ein „Ruinenbaumeister“. Auch sein erstes großes Epos „Perrudja“ blieb, zu zwei Dritteln fertig, liegen. In diesem Fragmentarischen spiegeln sich vor allem die instabilen Zeitumstände wider. Jahnn hat unter folgenden Bedingungen geschrieben: Exil während des 1. Weltkriegs in Norwegen, Weimarer Republik, Exil auf Bornholm, Nachkriegsnot und Wirtschaftswunderzeit. Er hat permanent für seine Kräfte zu viel angestrebt und doch sehr viel mehr erreicht als die große Masse seiner Autorenkollegen.


    Im ersten Teil „Das Holzschiff“ bleibt einer als blinder Passagier an Bord eines Schiffes, das geheime, wahrscheinlich tödliche Fracht geladen hat. Die Tochter des Kapitäns ist seine Verlobte. Während der Fahrt verschwindet die junge Frau. Es kommt zur Meuterei an Bord, in deren Folge das Schiff untergeht. Das ist durchgehend in einem merkwürdig unwirschen Ton erzählt, der etwas Erhaben-Abweisendes hat. Es liest sich, wie Musik von Hindemith manchmal klingt. Es ist ohne ein Gran Humor oder Ironie, ohne Konzession an Eingängigkeit, nur hoher, schroffer Ton. So läse sich ein Abenteuerroman, verfasst von Stefan George.


    Zweiter und Hauptteil: „Die Niederschrift des Gustav Anias Horn“ – das ist der blinde Passagier, der wie die Mehrzahl der Besatzung gerettet wurde. Horn schreibt als Ich-Erzähler, und zwar in einem nun vollkommen anderen Stil. Es ist anspruchsvolle und zugleich elegant-flüssige Prosa, zeitlos modern (falls es das gibt), zum tage- und wochenlangen Lesevergnügen verführend. Der Matrose Tutein gesteht Horn, dessen Verlobte an Bord ermordet zu haben. Horn und Tutein schließen auf der Basis dieses Verbrechens einen Bund, den sie über Jahrzehnte aufrechterhalten, auf drei Kontinenten, immer fern der Heimat. Sie leben von der Schiffskasse, die ihnen zugefallen ist.


    Zunächst halten sie sich in Südamerika auf, bereisen dann ausgiebig mit vielen Zwischenstopps die afrikanische Küste und die Kanaren. Es ist die Phase, in der ihr Bund seine ersten Bewährungsproben bei verschiedenen fellinesken Abenteuern besteht. Jahnn hat diese Weltgegenden nie gesehen. Er schreibt aus der Perspektive eines nach Exotik dürstenden halbwüchsigen Viellesers des frühen 20. Jahrhunderts. Das Ambiente ist also farbig und künstlich und man hört oft Papier rascheln.


    Horn und Tutein lassen sich für lange Jahre an einem norwegischen Fjord nieder. Hier verwendet Jahnn viele Aufzeichnungen, die er selbst als Flüchtling dort niedergeschrieben hat. Wir lernen eine Bevölkerung kennen, die, seltsam gespalten zwischen Archaikum und Moderne, die absonderlichsten Gestalten hervorbringt. Die beiden Gefährten gehen im Kontakt mit dieser Welt jeweils eigenen Interessen nach und entfremden sich zeitweise einander. Beide bleiben jedoch gesellschaftliche Außenseiter. Horn beginnt zu komponieren. Tutein zeichnet. An einem kritischen Wendepunkt siedeln sie überstürzt in eine schwedische Kleinstadt über. Hier kommt es vorübergehend zur größtmöglichen Annäherung an eine normale bürgerliche Existenz. Tutein wird Pferdehändler, Horn verlobt sich und zeugt einen Knaben, ohne je mit Bestimmtheit davon zu erfahren; wir wissen es aus dem Epilog. Die neuen privaten Bindungen sind nicht von Dauer, sie gehen in einem Sturm von Affekten unter. Horn und Tutein nehmen eine wechselseitige Bluttransfusion vor und ziehen weiter.


    Eine fiktive Ostseeinsel, Bornholm nachgebildet, ist ihre letzte Station. Ihre Beziehung ist nun unauflöslich geworden. Horn und Tutein blicken zurück in die Zeit vor jener Schiffsreise ohne Wiederkehr. Jahnn verwendet hier seine eigenen Erinnerungen an Hamburg und Mecklenburg um 1900. Horn wird als Komponist berühmt. Tutein kränkelt und stirbt. Horn macht aus dem Leichnam eine ägyptische Mumie und verwahrt sie in einer hermetisch verschlossenen Truhe. Und dann erscheint Ajax von Uchri, ein junger Mann aus der Heimat, Vollender von Horns Schicksal. Ab hier erreicht Jahnn die Meisterschaft seines eigenen Stils. Er wird schreibend bei Lebzeiten klassisch. Die Handlung schreitet in genau abgezirkelten Schritten voran, mit erbarmungsloser Konsequenz Horns schließlichem Untergang entgegen. Das ist perfekt geschrieben, vollkommen gelungen, wie eine barocke Fuge. Und es weht einen kalt an, wie alles allzu Große. Horn beschreibt diesen Katarakt von Katastrophen parallel zum Geschehen und immer atemloser, dabei stilistisch absolut sicher, bis Ajax kommt, um ihn zu töten. Genau hier bricht die Niederschrift ab, endet der zweite Teil.


    Ich gestehe, dass mir die Fragmente des posthum veröffentlichten Epilogs lieber sind als der grandiose Schluss des Mittelteils, jene 450 wirklich makellosen Seiten. (Die gesamte Trilogie hat in meiner Ausgabe gut 2000 Seiten.) Jahnn konnte das Werk nach seiner Rückkehr nach Hamburg nicht mehr vollenden. Er war erschöpft, verbraucht, auch durch langen Drogenkonsum. Doch gelangen ihm noch viele Einzelabschnitte, in denen er das weitere Schicksal von Nebenpersonen darstellt. Es sind die Überlebenden und Nachgeborenen. Diese Szenen kommen mir menschlicher vor als der Zweikampf Horn – Ajax. Menschlich, das ist ein billiges, abgegriffenes Wort, gewiss. Wer jedoch als Leser all das vorher durchwandert hat, diese Höhen und Tiefen, die idyllischen Flecken, die Wüsteneien – der darf beim Lesen dieser letzten 400 Seiten aufatmen. Der Bürgerschreck Jahnn wird bürgerlich – und bleibt originell, ein großer Erzähler und Psychologe.


    Etwas konnte ich in diesem Abriss nicht unterbringen: Jahnn als den genauesten, fesselndsten Schilderer von Natur, den wir im Deutschen im 20. Jahrhundert gehabt haben.


    ASIN/ISBN: 3518396420

    Medea, wenn du glaubst, du kannst mich hier vorführen, dann irrst du dich. Meine sonstigen politischen Präferenzen sind gar nicht Thema, sondern, von der Buchrezension ausgehend, die Frage nach der Widerstandsfähigkeit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Dazu werde ich mich evtl. noch weiter äußern, sofern mir geeignetes Material vorliegt.


    Es ist hier auch nicht Thema, wie der Ukrainekrieg außer mit immer mehr Eskalation sonst beendet werden könnte. Ich kann und werde hier keine Lösungsvorschläge dazu machen. Der Karren steckt ja inzwischen sehr tief im Dreck. Nur so viel wenigstens: Ich hoffe persönlich, dass ein internationales Zusammenwirken, basierend auf Kompromissbereitschaft und Druck, möglichst bald zu einem Waffenstillstand führt. Er könnte Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen und Verträge sein. Ich schätze die Gesamtsituation - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - etwa so ein wie der US-amerikanische Politologe John J. Mearsheimer.

    Das noch als Gute-Nacht-Lektüre:


    https://www.focus.de/politik/a…80-ad92-18e49edbba51.html


    Hier im Osten von Berlin, wo ich lebe, hört man inzwischen in den öffentlichen Verkehrsmitteln fast so viel Ukrainisch und Russisch wie Deutsch. Ich habe viel Verständnis für die jungen Männer und wünsche ihnen viel Glück im weiteren Verlauf ihres Lebens. Es sind nicht die Dümmsten, die gekommen sind.

    Es bringt wohl nichts, Medea19, dich ein wenig nachdenklich machen zu wollen. Ich wende mich daher an andere, die interessiert mitlesen. Du hast nicht mal begriffen, dass sich das Stichwort "Vernetzung" nicht primär aufs Militärische, sondern aufs Funktionieren des gesamten zivilen Lebens bezieht. Genau davon handelt ja der von mir oben verlinkte Artikel von Rolf Bader (früher aktiver Bundeswehr-Offizier!). Entweder hast du seine Darlegungen gar nicht gelesen oder auch nicht verstanden. Stattdessen kommen dann die üblichen Ausweichmanöver à la Putin-Kritik. Dabei geht es hier um die Frage: Was machen Krieg und Kriegsgefahr mit uns?


    Diese Blindheit hat eine historische Parallele. 1914 konnten sich weder die Regierungen noch weite Teile der Bevölkerung vorstellen, dass der vom Zaun gebrochene Weltkrieg vier Jahre dauern und Millionen Tote kosten würde. Es herrschte die Meinung vor, mit den damals modernen Waffentechniken wäre nur ein kurzer Krieg erforderlich, um eine Entscheidung herbeizuführen. Man kann sich die historischen Fotoaufnahmen heute noch ansehen, den Jubel der ahnungslosen, verhetzten Massen, die Plakate, die baldige Heimkehr oder "Weihnachten auf den Champs Élysées" versprechen. Diese Ignoranten waren unsere Vorfahren und wir ähneln ihnen allzu oft.


    Noch mal zum kriegsbedingten Geburtenrückgang. Gerade heute kam die Meldung, dass es allein hier in Berlin jetzt 30.000 freie Kita-Plätze gibt. In Brandenburg ist es ähnlich. Es ist mit Kitaschließungen und Entlassungen zu rechnen. Noch vor fünf Jahren war das unvorstellbar.


    Beim nächsten Mal können wir uns dann vielleicht mal ansehen, wie heute schon unsere Krankenhäuser für den Kriegsfall eingeplant werden. Triage zugunsten schwerverwundeter Soldaten ist ein großes Thema.

    Medea, schon deine anfängliche Argumentation zeigt mir, dass du den Unterschied zwischen Kriegführung in der Vergangenheit und einer künftigen überhaupt nicht verstanden hast. Dass es Kriege bisher immer gegeben hat, beweist eben nicht, dass sie auch in der Zukunft noch führbar sein werden. Für Letzteres ist einerseits der Grad der technischen Vernetzung der Gesamtgesellschaft zu hoch und andererseits das Vernichtungspotenzial zu gewaltig geworden. Dein Grundirrtum ist, den Faktor Mensch noch für den letztlich entscheidenden zu halten. Dem ist nicht mehr so bei einem wirklich großen Krieg mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln (geführt etwa zwischen Russland und dem Westen). Die technologische Entwicklung der jüngeren Zeit bedeutet einen doppelten Quantensprung, sowohl beim Vernichtungspotenzial wie bei der nun totalen Verletzlichkeit des zivilen Lebens. Daraus sollten nur Schlüsse gezogen werden, die verantwortet werden können - ein Hasardspiel gehört nicht dazu.


    Dass meine Sicht weit verbreitet ist, dafür gibt es einen leicht nachprüfbaren Beleg: Seit Beginn des Ukrainekriegs sind in ganz Europa die Geburtenziffern im anhaltenden Sinkflug. Immer mehr potenzielle Eltern glauben nicht mehr an eine gedeihliche Zukunft ihrer möglichen Kinder. Es passt inzwischen gar nichts mehr zusammen: Fachkräftemangel, zusätzlicher Bedarf an militärischem Personal und extrem abgesackte Geburtenzahl.


    In diesem Zusammenhang ist noch ein Blick auf die Ukraine 2025 aufschlussreich. Kaum wurden die Ausreisemöglichkeiten für junge Männer gelockert, setzte eine Massenabwanderung aus dem Land ein. Die polnischen Behörden melden für die wenigen Wochen von Anfang September bis Mitte Oktober die Ankunft von fast 100.000 ukrainischen Männern im Alter von 18 - 22 Jahren, d.h. 100.000 Männer aus nur fünf Jahrgängen bei einer Bevölkerungszahl von noch knapp 29 Millionen. Dieser Massenexodus zeigt die wahre Stimmung im Land. Das Kanonenfutter in spe entzieht sich, so wie im übrigen Europa sich im Hinblick auf die verdüsterte Zukunft zunehmend Gebärstreik bemerkbar macht.


    Die Politik insgesamt, auch unsere deutsche, hat alle beteiligten Staaten in eine tiefe Sackgasse geführt. Wir werden sie nicht verlassen, wenn wir uns der törichten Illusion von Kriegsfähigkeit hingeben.

    Die Karriere der Autoren bei der Konrad-Adenauer-Stiftung bzw. dem "Tagesspiegel" ist in meinen Augen gerade kein Gütesiegel. Meine schon länger bestehende Auffassung zum Thema des Buchs finde ich hier sehr gut ausgedrückt:


    https://www.telepolis.de/featu…ebensfaehig-10961355.html


    Eine zentrale Aussage dort: Hochindustrialisiert und extrem verwundbar, so lauten die kennzeichnenden Attribute der heutigen Zivilisation in Europa. Dichte Ballungszentren mit großer Industriekonzentration prägen im Besonderen die Situation in Mitteleuropa. Es hat sich eine Lebens- und Arbeitswelt entwickelt, die durch Komplexität, Vernetzung, Arbeitsteilung, Mobilität, Automation und Information gekennzeichnet ist.

    Und: Die Leistungsfähigkeit und Stärke der hoch entwickelten Industriestaaten hängen ab vom Funktionieren einer zivilen Infrastruktur, die hochgradig verletzlich ist und bereits mit nichtatomarer Munition und intelligenten Waffenträgern – niedrig fliegende, gelenkte Drohnen, Raketensysteme – ausgeschaltet werden kann. Ohne diese Infrastruktur sind Industriestaaten handlungsunfähig.

    Fazit dort: Es ist davon auszugehen, dass im Kriegsfall ein flächendeckender Schutz der Zivilbevölkerung nicht möglich und die Funktionsfähigkeit unserer modernen Industriegesellschaft nur schwerlich aufrechtzuerhalten wären. Darüber müsste die Zivilbevölkerung in Deutschland aufgeklärt werden.

    Insoweit könnte es sein, dass der laufende Ukraine-Krieg bei uns zzt. noch Illusionen über die Führbarkeit von Krieg nährt. Wir sollten uns aber über zwei Fakten im Klaren sein: 1. Die Ukraine wird als Schlachtfeld mit massivster Unterstützung von außen künstlich am Leben erhalten. Im größeren Maßstab, etwa bezogen auf ganz Mittel- und Nordeuropa, wird das so nicht möglich sein. - 2. Im Ukraine-Krieg wird das volle Vernichtungspotential noch gar nicht eingesetzt. Es wird bis jetzt nur langsam hochgefahren.


    Zum Verfasser des Artikels noch das: Rolf Bader, geb. 1950, Diplom-Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr, ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte:innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte:innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)



    (Alle Hervorhebungen durch mich erfolgt.)

    Fichtes bei weitem erfolgreichstes Buch war sein Roman „Die Palette“, erstmals erschienen 1968. Was zunächst nur das Denkmal für eine schon 1966 geschlossene Szenekneipe in der Hamburger Neustadt zu sein scheint, erweist sich im Lauf der Lektüre als etwas vielfach darüber Hinausreichendes. Das Buch verkörpert unter anderem den Typ des modernen Großstadtromans. Hamburg hat es mit ihm, reichlich spät zwar, doch immerhin, in die Liga der Städte geschafft, von denen bereits literarische Röntgenbilder angefertigt waren: Joyce’ Dublin, Svevos Triest, Dos Passos’ New York, Döblins Berlin, Celas Madrid.


    Am Anfang steht Jäcki, Alter Ego von Fichte, Ende 1962 auf dem Hamburger Gänsemarkt und macht sich auf, erstmals in die „Palette“ hinabzusteigen, die er danach jahrelang regelmäßig besuchen und immer genauer kennenlernen wird. Dieser Beginn auf einem unbelebt scheinenden Platz in einer scheinbar wenig spektakulären Stadtgegend, das ist vergleichbar dem Anschauen einer alten Schwarzweißfotografie: Gänsemarkt und ABC-Straße als altertümliche Vedute oder wie ein Stadtmodell im Museum für Hamburgische Geschichte oder wie das Schauspielhaus unmittelbar vor dem Vorstellungsbeginn – das Bühnenbild komplett vorhanden, doch die Schauspieler haben es noch nicht betreten.


    Dann setzt eine fast 350 Seiten andauernde Prozession ein: Kellner und Schauspieler, Freaks vieler Spielarten, Gammler, Hippies und ihre Mädchen, Strichjungen und Freier. Sie alle werden wie in einem rasanten modernen Ballett vorgeführt, mit immer neuen Einsätzen, neuen Begegnungen, überraschenden, oft irrwitzigen Aktionen. Fichte schafft so ein immer dichteres Netz von Beziehungen zwischen ihnen sowie zwischen ihnen und Jäcki, der eine Art Forschungsreisender zu sein scheint. Jäcki beobachtet intensiv, redet mit allen, macht Interviews mit ihnen und zieht mit ihnen durch die Stadt oder deren Umgebung. Neben den zumeist fragmentarischen, gelegentlich auch bohrend intensiven Dialogen tritt die Wiedergabe von Gerüchen und Geräuschen, von Fakten, Dokumenten und Zitaten und vor allem immer wieder von Assoziationen. Die reale Stadt Hamburg und die reale Palette erhalten fortwährend Jäckis sehr zum Spielerischen neigendes Bewusstsein von ihnen an die Seite gestellt. Jäcki bezieht darüber hinaus Figuren ein, die entweder das Souterrainlokal nur einmal betreten, wie Liana Pozzi alias Witwe Jahnn, oder gar nicht dort verkehren, wie die Fotografin Irma, Jäckis Lebensgefährtin, oder seine Hamburger Verwandten.


    Die Handlungssplitter erstrecken sich allmählich auf eine Vielzahl weiterer Orte quer durch Europa, von Portugal über Paris bis zu den Schauplätzen des noch keine Generation zurückliegenden Weltkriegs. Ist es nicht zu viel an Material, das hier ausgebreitet wird? Dieser Eindruck kommt dank der von Fichte angewandten Technik des permanenten Überblendens, Überlagerns und Alles-mit-allem-in-Verbindung-Setzens nie auf. Man kann das mit Jackson Pollocks Dripping vergleichen. Nichts wirkt hier konstruiert, am Schreibtisch ausgedacht, sorgfältig auf Wirkung berechnet; dafür durchgehend der Eindruck von sehr spontan Geschaffenem, einer kreativen Spontaneität, die ihrer Mittel, vielleicht nur halb bewusst, sehr sicher war – und dabei kann es sich durchaus anders verhalten haben: Fichte hat mehrere Jahre an diesem Buch geschrieben. Das Ergebnis ist ein Stadt-, Zeit- und Gesellschaftsbild von großer Farbigkeit und Lebendigkeit – und es hat sich bis heute jugendfrisch erhalten.


    Ich blättere im Roman und will mir sozusagen malerische Höhepunkte in diesem Rausch aus Farben und Formen vergegenwärtigen. Vielleicht das: die Episoden um Reimar Renaissancefürstchen, die Legende von der guten Blume zu Saaron, oder, fast am Schluss, Heidis Wehen in der Wilfredo-Bar … Man muss das gelesen haben. Und dann wird einem neben dem Eindruck großartiger Vitalität zugleich vieles unklar geblieben sein. Das Buch ist so voll mit nicht leicht durchschaubaren Bezügen und Anspielungen, mit speziellem Wortschatz, mit übermütigen Sprachexperimenten … Bis heute ist es eine Blütenwiese für bienenfleißige Literaturwissenschaftler geblieben. Fichtes Nachwirkung ist charakterisiert von anhaltendem Interesse der Fachwelt bei noch deutlich steigerungsfähigem des großen Lesepublikums. Um es mit Tucholsky zu sagen: ein Jahrhundertkerl (nur zu wenig gelesen).


    ASIN/ISBN: 3596158532

    Der umfangreiche Roman „Jou Pu Tuan“ erschien erstmals 1634 und zeigt das hohe Niveau von Literatur und Zivilisation im alten China. Er ist ein frühes Werk von Li Yü (1610 – 1680), einem produktiven, erfolgreichen Erzähler und Dramatiker, der mit seiner Schauspieltruppe jahrelang große Teile des Landes bereiste. Der Titel lautet übersetzt „Andachtsmatten aus Fleisch“, womit die Thematik auf kürzeste Weise angedeutet wird. Tatsächlich ist es ein explizit erotisches Werk mit stark moralischer Tendenz. Held der Geschichte ist ein attraktiver junger Mann, gebildet, wohlhabend, noch ohne Familie, stark an Frauen interessiert. Er nennt sich „Vormitternachts-Scholar“ und stattet anfangs einem buddhistischen Einsiedlermönch einen Besuch ab, wobei es zu einem Streitgespräch kommt. Der Eremit will ihn als Novize aufnehmen und warnt vor dem „roten Staub“ mit seinen verhängnisvollen Irrwegen, auf denen er den jungen Mann wandeln sieht. Der Jüngling lehnt ab, er strebt nach Selbstverwirklichung aufgrund seiner von der Natur begünstigten Physis.


    Es beginnt für den Helden eine mehrjährige Odyssee. Er geht zunächst eine Ehe ein und verlässt die junge Frau bald auf unbestimmte Zeit, um an anderen Orten neue Frauen kennenzulernen. Dabei kommt es zu einer Serie von Ehebrüchen. Der Held erwirbt eine Zweitfrau, die er gleichfalls sitzenlässt, und bildet mit vier weiteren Frauen vorübergehend eine Art Kommune. Hier soll künftigen Lesern nicht die gesamte kunstvoll komponierte Handlung vorab erzählt werden, nur so viel: Am Ende des zunehmend katastrophalen Verlaufs wird der Vormitternachts-Scholar desillusioniert doch noch bei jenem Einsiedler Novize.


    All das wird detailliert dargestellt, mit viel Psychologie und noch mehr Sex. Die körperlichen Vereinigungen nehmen großen Raum ein, die Anbahnung, die Techniken, die Probleme bei der Paarung. Es herrscht größte Offenheit und zugleich wird das Pikante mit viel Delikatesse geschildert; schockierend vielleicht nur jene Passage, in der ein Arzt beim Helden auf barbarische Weise eine Penisvergrößerung bewerkstelligt. Immerhin fasst der Erzähler sich bei der späteren Selbstkastration des Novizen kurz.


    Li Yü hat sich selbst ein Vorwort geschrieben, das in der Übertragung von Franz Kuhn zum Schlusskapitel geworden ist. Der Autor verteidigt sich darin gegen zu erwartende Vorwürfe: dass er Unmoralisches, Sittenloses romanhaft ausgemalt habe. Er befürwortet ausdrücklich die strenge konfuzianische Morallehre und schließt so: „Mit besagtem Beiwerk eingehender Schilderung intimer Details der ‚Kammerkunst’ wollte der Verfasser der Leserschaft gewissermaßen bitteren Olivengeschmack in süßes Dattelfleisch eingebettet bieten und damit verhüten, daß der Roman abfällige Kritik erfährt und als ‚öder, langweiliger Aufguß’ abgelehnt wird.“


    Einiges bleibt noch herauszustellen. Der Autor hat das Buch als noch sehr junger Mann geschrieben und er hat dabei viel mehr Datteln als Oliven verarbeitet. Aussicht auf Erlösung verspricht hier allein der Buddhismus. Der Schweizer Verleger des „Jou Pu Tuan“ Felix M. Wiesner sah im Werk einen „streng orthodox aufgebauten Lehrroman nach der Schule des Ch’an-Buddhismus“. Er beruft sich in diesem Zusammenhang auf den Philosophen und Religionshistoriker Hans Heinz Holz, für den der Roman eine „Allegorie über den meditativen Wahrheitspfad des Buddhisten“ war. Angesiedelt ist die Handlung im frühen 14. Jahrhundert während der Mongolenfremdherrschaft. Die allgemeinen Lebensverhältnisse dürften allerdings denjenigen zu Lebzeiten des Autors entsprechen. Die Ming-Dynastie trieb damals ihrem Untergang entgegen, China hielt nur noch mühsam den Angriffen aus der Mandschurei stand. Ebenso schwerwiegend waren soziale Unruhen. Während die äußere Gefahr im Roman nicht thematisiert wird, spiegelt sich die problematische innere Lage indirekt in der Gestalt eines Schwurbruders des Helden, eines Meisterdiebs von hoher Sittlichkeit, der die Handlung entscheidend beeinflusst.


    1959 kam der Roman erstmals in deutscher Übersetzung heraus, Verlagsort Zürich. Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte wurden bald aktiv. Die zweite Auflage wurde samt Druckvorlagen eingezogen und verbrannt und die Publikation verboten. Aber das ist eine andere Geschichte und sie ist zum Glück nur noch Justizgeschichte.


    ASIN/ISBN: 3596224519

    Erschienen ist der Roman erstmals 1962. Muss man das heute noch lesen, wurde ich gefragt. Nein, man muss nicht, aber man kann und darf.


    Die Herrschaften im Titel sind nicht das echte fränkische Königsgeschlecht, sondern deutsche Adlige aus Franken. Doderer deutet das Unwahrscheinliche an: Sie könnten tatsächlich von Chlodwig abstammen. Diese Merowinger des 20. Jahrhunderts besitzen ein Stadtpalais in Würzburg und ein Landgut außerhalb sowie rentable überseeische Wertpapiere. Sie heiraten auch Bürgerliche und haben noch immer eine ausgeprägt kriegerische Ader. Chef des Familienclans ist Childerich III.. Er hat eine spezielle Marotte: Durch ein aberwitziges System von Heiraten und Adoptionen will er alle nur denkbaren Verwandtschaftsgrade in seiner eigenen Person vereinen. La famille, c’est moi! Dieses Streben nach familiärer Totalität ruft die verwandten „Karolinger“ auf den Plan. Es kommt zum Stammeskrieg, am Ende wird Childerich entmannt.


    All das enthält viel drastische Komik. Sie hat etwas Gewaltsames, zumindest leicht Gezwungenes. Man müsste dieser Teile wegen das Buch noch nicht lesen. Der Erzähler nimmt Partei für den abtretenden Adel und gegen die Plattheit des triumphierenden bürgerlichen Zeitalters. Auch hierin folgt er seinem Vorbild Proust.


    Unbedingt zu empfehlen sind jedoch die Kapitel, in denen der Psychiater Professor Horn sein Unwesen treibt. Horn ist Spezialist für die Behandlung von Wutanfällen und hat in seiner Praxis regen Zulauf von einkommensstarken Privatpatienten. Er behandelt anfangs mit Nasenzange und kleinen Schlagwerkzeugen, mit denen der Hinterkopf des Kranken „bepaukt“ wird. Dabei wird zu bombastischer Musik von Meyerbeer ein Tisch umschritten, auf dem scheußliche Nippesfiguren zum Zugreifen und Zerdeppern verleiten …


    Der Professor geht nach einiger Zeit aus Profitgier zur Reihenbehandlung über. Die „Hornsche Reihe“ ermöglicht die Simultanbehandlung mehrerer Kranker, nun Elemente genannt. Selbstverständlich hat ein Professor keinen Mangel an medizinischen Hilfskräften. Das Grammophon wird durch eine originale oberbayrische Musikkapelle ersetzt. An die Mieter darunter wird eine „Lärmmiete“ gezahlt. Diese verfallen ihrerseits der Habgier und gründen einen Verein, der das Hornsche Verfahren zum Discountpreis anbietet. Es kommt zur Katastrophe – dem „Untergang Professor Horns im Toben der Elemente“.


    Doch der Professor hat schon etwas anderes erdacht: das „Wuthäuslein“, eine Kabine, in der jeder für sich eingesperrt und mit apparativem Schnickschnack bearbeitet wird. Und Horn denkt noch weiter, an die Zusammenkopplung fahrbarer Wuthäuslein zu ganzen Zügen, die auf Schienen durch Hallen und Gänge rollen, wie in einer Geisterbahn.


    Ich habe den Roman erstmals 1977 am Strand von Saint Malo gelesen und dabei vor Vergnügen gekräht. Auch jetzt habe ich mich wieder sehr amüsiert. Diese Satire auf Pseudowissenschaft, technisierte Medizin und Geldgier hat sich jung und frisch erhalten.


    ASIN/ISBN: 3423113081

    Mr. Sammler kommt aus Krakau. Er war vor dem Krieg Korrespondent in London, er hat den Holocaust in Polen überlebt, seine Frau ist darin umgekommen. Wir schreiben 1969 und Mr. Sammler lebt in New York. Die Rente aus Deutschland stockt sein Neffe Dr. Gruner, ein Chirurg, laufend auf. Mr. Sammler ist Mitte siebzig und geht in Manhattan spazieren. Er beobachtet die Stadt und die Menschen.


    Er wohnt bei seiner verwitweten Nichte Margot. Sie ist das Musterbeispiel einer schusseligen liberalen Bildungsbürgerin. Sammlers Tochter Shula lebt in eigener Wohnung. Ihr Vater hält sie für verrückt. Sie hat die fixe Idee, Sammler schriebe an einer Biographie über H.G. Wells. Ungebeten stiehlt sie ein wertvolles Manuskript, das er nicht einmal benötigt. Dr. Gruner, den Sammler schätzt, hat alte Geschäftsverbindungen zur Mafia. Gruners Tochter Angela, gescheit und attraktiv, ist eine ausgeprägte Nymphomanin. Ihr Bruder Wallace ist ebenso unzurechnungsfähig wie Shula, dabei hoch intelligent und sehr rührig. Er sammelt in seiner Biographie Beinahe-Positionen: Er ist beinahe Physiker, beinahe Rechtsanwalt, beinahe Doktor der Verhaltenswissenschaften geworden. Jetzt ist er Pilot mit fabelhafter Geschäftsidee für ein weiteres Fiasko.


    Mr. Sammler erlebt sein eigenes Fiasko bei einem Vortrag in der Columbia University. Er wird in der damals üblichen Weise niedergeschrieen und am Weiterreden gehindert. Im Autobus kommt Mr. Sammler ungewollt einem Seriendieb auf die Spur und dadurch selbst in Gefahr. Die Aktivitäten seiner Verwandten verwirren sich zu einem Handlungsknoten, in dessen Zentrum Mr. Sammler alle Hände voll zu tun bekommt. Dann stirbt sein Neffe, seine einzige Stütze, an einer Gehirnblutung. Mr. Sammler spricht das Totengebet und schließt: „Denn das ist die inneliegende Wahrheit – dass wir alle wissen, Gott, dass wir wissen, dass wir wissen, wir wissen, wir wissen.“ Damit endet der Roman.


    Im Übrigen ist Mr. Sammler ein skeptischer Humanist und Philosoph. Er reflektiert permanent die Bedingungen der eigenen Existenz wie die seiner Umwelt. Welche seiner Gedanken im Buch habe ich mir angestrichen? Zum Beispiel über die Studenten: „In ihrer Verachtung der Autorität achteten sie auch keine Menschen.“ Oder über das Sexualleben: „Nichts schien verletzender, als von einem Laster befallen zu sein, das kein Spitzenlaster war.“ Oder über die menschlichen Typen auf dem Broadway: „Nicht nachgeahmt sind der Geschäftsmann, der Soldat, der Priester und der Spießer. Der Standard ist ästhetisch.“ Oder eine Prophezeiung: „Eine Oligarchie von Technikern, Ingenieuren … würde kommen, um riesige, mit zigeunerhaften, narkotisierten, blumengeschmückten ‚ganzen’ Halbwüchsigen gefüllte Slums zu regieren.“ Und: „Ein ‚interessantes’ Leben ist das höchste Ideal der Stumpfsinnigen.“ Sein eigenes Ideal: „Das Beste, was ich gefunden habe, ist Abgeschiedenheit. Nicht wie sich Misanthropen lossagen, durch Urteilen, sondern durch Nicht-Urteilen.“


    Bellows Roman ist ein Buch über die Achtundsechziger in New York und ihre Welt und zugleich viel mehr: ein Werk über den Einsamen in der Moderne.


    ASIN/ISBN: 3462008307



    „Nana“, erschienen 1880, war der neunte Roman in dem aus insgesamt zwanzig Werken bestehenden Zyklus „Les Rougon-Macquart“. Zola wollte darin „die Natur- und Sozialgeschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich“ (so der übersetzte Untertitel) liefern und zeigen, wie Milieu und Vererbung die Biografien entscheidend prägen. „Nana“ gehört zu den erfolgreichsten Teilen des Gesamtwerks. Es ist die Geschichte vom Aufstieg und Ende einer Kurtisane im Zeitraum von 1867 – 1870. Nana kommt aus der untersten Gesellschaftsschicht, ihre Vorgeschichte ist im siebten Teil des Zyklus erzählt („Der Totschläger“). Im neunten ist sie zu Beginn erst achtzehn Jahre alt und verkörpert schon voll ausgebildet den in Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts so beliebten Typ der Femme fatale. Dieses Klischee wird mit großer Konsequenz bedient. Nana ist eine hochattraktive Erotomanin, der die Männerwelt fast ausnahmslos verfällt und sich im Umgang mit ihr materiell und physisch ruiniert. Schließlich dreht sich ganz Paris nur noch um sie, so scheint es. Ihre Rolle ist, wie der Erzähler selbst ausführt, die einer goldenen Fliege, die aus dem Kot aufsteigt und die degenerierten Vertreter der oberen Schichten mit Todbringendem infiziert. Sie soll so die Rache der generationenlang Geknechteten exekutieren.


    Die Figur der Nana ist zwar mit vielen Details ausgestattet und Zola lässt sie mit ihrer Entwicklung und ihren Launen gut sichtbar werden, doch ist sie nicht vollkommen überzeugend. Sie wirkt oft reifer und erfahrener, als sie bei ihrem Alter und ihrer niedrigen Herkunft sein kann, und äußert sich gelegentlich zu differenziert für eine so junge Frau aus der Gosse. Auf der anderen Seite wird sie vom Erzähler im äußeren Ablauf wie ein mechanisches Spielzeug behandelt, dessen Funktionieren allein die Theorie vom goldenen, todbringenden Insekt zu untermauern hat. Dabei schreitet die Handlung unbarmherzig voran, konsequent von Steigerung zu Steigerung, bündelt die Zufälle, türmt Katastrophen übereinander. Inwiefern Nana dabei die Vollstreckerin einer historischen Entwicklung sein soll, wird aus dem Romantext dennoch nicht ersichtlich. Vielleicht liegt es am Hauptwiderspruch im Werk: Nana verkörpert dämonisiert einen zeitlosen Frauentyp (oder dessen Mythos) und soll zugleich aus ihrer individuellen sozialen Entwicklungsgeschichte heraus ein kollektives Verdammungsurteil begründen.


    Wer zählt die allzu vielen Figuren des Romans, all die Kokotten und Lebemänner, Schauspieler und Dienstleute? Zola hat selbst einmal die Zahl hundert genannt. Nana hat die einzige wirkliche Hauptrolle und ihr zugeordnet sind allein an Hauptnebenfiguren zwei bis drei Dutzend Gestalten, zu viele für ein Werk von ca. 500 Seiten. Aus dieser Masse werden in immer neuer Zusammenstellung an unterschiedlichen Orten Gruppen gebildet, sie wirbeln durcheinander, verschwinden bis zu einem späteren kurzen Auftritt. Jedem sind nur wenige charakteristische Züge verliehen, die leitmotivisch eingesetzt werden. So entstehen, einmal abgesehen vom Grafen Muffat, kaum individuelle und nachvollziehbare Biografien und es stellt sich auch kein eindrucksvolles Bild der Gesellschaft am Ende des Zweiten Kaiserreichs ein.


    Worauf mag dann die ohne Zweifel erwiesene suggestive Wirkung des Romans auf die Leserschaft beruhen? Es ist nicht das Sichtbarmachen von Vererbung, sie wird nur behauptet, als Grundtatsache und allseits anerkannte Vorbedingung gesehen. Zolas Kunst besteht darin, die andere große Kausalität – das Milieu und seine Auswirkungen – sehr effektvoll zu inszenieren. Die einzelnen Kapitel bieten zu diesem Zweck Handlung auf exponierten Schauplätzen, als da sind: ein Operettentheater, Luxuswohnungen, eine Pferderennbahn, eine Passage im Pariser Zentrum, eine ländliche Gegend in der Mitte Frankreichs, ein großes Pariser Hotel ...


    Wir wissen, dass Zola nicht in der Halbwelt verkehrte. Für die Romanniederschrift befragte er wie ein guter Journalist, der er auch war, Männer, die mit dem Milieu vertraut waren, ihm Details und Anekdoten liefern konnten. Dagegen kannte Zola seine Romanschauplätze entweder schon gut oder er besuchte sie nun, um sich ein genaues Bild von ihnen zu verschaffen. Sie werden im Roman bis in alle Winkel ausgeleuchtet, exakt und atmosphärisch dicht beschrieben. Dieses spezielle, stark ortsgebundene Erzählen hat Folgen. Die Schauplätze wollen signalisieren: Was sich an derart authentisch wirkenden Orten ereignet haben soll, muss selbst als wahrhaftig gelten. Zolas Figurengruppen haben etwas von Lebenden Bildern, die auf Knopfdruck des Autors kurz in Bewegung geraten und dann wieder verharren. Dieses Verfahren kann die Illusion von real stattgefundenem Leben erzeugen und es ist nicht frei von Ironie, dass es Naturalismus heißen will.


    Verglichen mit den anderen literarischen Größen seines Landes in seinem Jahrhundert – Stendhal, Balzac, Flaubert und Maupassant - war Zola zweitrangig, doch dabei sehr erfolgreich. Seine Werke entsprachen dem Massengeschmack mit grellem Überzeichnen und der Wahl „schlüpfriger“ Sujets. Nana entdeckt im Verlauf ihre lesbischen Tendenzen, die Lesbierinnenszene damals in Paris wird mit dargestellt. Auch Sadomasochismus ist ein Thema, sowohl unter Frauen wie zwischengeschlechtlich. Aber bei Labordette, dem diensteifrigen Freund der leichten Damen, der kein erotisches Interesse an ihnen hat, beachtet der literarische Revolutionär Zola die Grenzen des zu seiner Zeit Sagbaren: Eine andere kleine Nebenfigur darf Labordettes Anderssein gerade einmal andeuten.


    ASIN/ISBN: 3423143991

    Im Vergleich zu anderen Romanen von Maupassant (z.B. „Bel Ami“) ist im deutschen Sprachraum sein „Mont-Oriol“, erschienen 1887, relativ wenig bekannt. Dabei ist das Werk nicht weniger gelungen und kann noch immer mit Interesse gelesen werden. Liegt die geringere Resonanz vielleicht am Titel, der fremdländisch klingt, ohne eine Assoziation auszulösen? Mont-Oriol ist der Name eines fiktiven Kurbades im Süden Frankreichs, in der Auvergne, das im Verlauf der Handlung erst gegründet wird. Wie das geschieht und mit welchen Methoden der Aufschwung des Unternehmens herbeigeführt wird – mit viel Reklame und einigem an Täuschung -, das ist der eine Hauptstrang der Handlung.


    Der andere ist das private Schicksal von Pariser Kurgästen, die zum Teil identisch werden mit den Betreibern des kommenden Modebades. Zu Beginn reisen sie in das vor sich hinkümmernde bestehende Bad von Enval. Eine zentrale Person unter ihnen ist die junge Christiane Andermatt. Sie soll die Kur gebrauchen, da sie nach mehrjähriger Ehe mit einem jüdischen Bankier noch nicht schwanger geworden ist. Behandeln lässt sich auch ihr Vater, der Marquis Ravenel. Weitere Begleiter sind neben ihrem Ehemann ihr Bruder Gontran und dessen Freund Paul. Wie sich dieses Quintett untereinander verhält, das ist der andere Faden der Erzählung.


    Beide Stränge verbinden sich früh, als bei einer Felssprengung in einem Weinberg nahe Enval eine Mineralquelle freigelegt wird. Andermatt steigt sogleich groß in sein Projekt Konkurrenzbad ein, während Christiane ein Verhältnis mit Paul eingeht. Der Kurerfolg – Schwangerschaft! - ist ihr bald so sicher wie ihrem Mann das Aufblühen des neuen Heilbads. Mit von der Partie in beiderlei Hinsicht ist die Winzerfamilie Oriol. Der alte Oriol bringt seine Grundstücke ein und seine beiden Töchter an die Männer (Gontran und Paul). Die Raffinesse des Romans besteht unter anderem gerade in der Verknüpfung des Geschäftlichen mit dem Erotischen.


    Auf einer dritten Handlungsebene agieren die miteinander konkurrierenden Ärzte. Als Bühne für alle Handlungsteile dient die Landschaft, das Innere des Zentralmassivs mit seinen erloschenen Vulkanen, der Austritt der Täler in die umgebende Ebene.


    Wie die einzelnen Elemente miteinander verbunden sind, zeugt vom Geschick Maupassants und davon, dass er während der Niederschrift noch auf der Höhe seiner literarischen Potenz stand. Es gibt das exakte, sich unparteiisch gebende realistische Beschreiben der äußeren Abläufe ebenso wie die feinfühlige Analyse von Seelenregungen der Figuren. Dazu tritt, nicht durch Tonfall, sondern aus der jeweiligen Situation heraus, ein gelegentlicher satirischer Effekt. Das Unbeteiligtsein des Erzählers schützt ihn auch vor dem Vorwurf des Anitsemitismus. Andermatt ist, obwohl Prototyp des nur am Geldmachen interessierten Kapitalisten, keineswegs unsympathisch. Er darf sich sogar selbst mit guten Argumenten gegen die aristokratischen Nutznießer seines Gewinnstrebens – den indolenten Marquis und seinen verschuldeten Sohn – verteidigen.


    Der Schluss ist nicht einmal pessimistisch, nur fatalistisch. Christiane, verlassen von ihrem Liebhaber, wird desillusioniert weiterleben. Die mit der Handlung und ihrer Darstellung verbundene unausgesprochene Kritik am Sein erkennt zugleich dessen Beharrungsvermögen an.


    ASIN/ISBN: 1514852047

    Danke, Gucci, für die großzügige Unterstützung und Beratung. Allerdings beherrsche ich das Verfahren nach wie vor nicht. Vielleicht probiere ich es im Lauf der Zeit noch einmal aus, vielleicht verzichte ich auch ganz darauf, hier weitere Rezensionen einzustellen.


    Dabei bin ich alles andere als ein Neuling und seit bald 20 Jahren sehr viel in Internet-Literaturforen aktiv. Die Abläufe hier kommen mir im Vergleich wenig benutzerfreundlich vor. Es ist sonst z.B. Standard, dass notwendige oder erwünschte Angaben in einer durchdachten funktionalen Eingabemaske Schritt für Schritt auf einfache Weise erfolgen können. Zumindest bei der ISBN kann davon hier keine Rede sein. Schade.

    Bücher haben ihre Schicksale und manche schon eines, während sie erst entstehen. „Auf beiden Seiten der Front“ von Patrik Baab ist so ein Fall. Als der Autor für ein Buch-Projekt im Herbst 2021 in die Westukraine reiste und dort vor allem am Karpatenrand recherchierte, zeichnete sich der ein halbes Jahr später einsetzende heiße Krieg noch nicht ab. Baab flog im Herbst darauf erneut nach Osten und kam diesmal über Moskau in den umkämpften Donbass und auf die Krim. Während seines Aufenthalts brachte ein Nachrichtenportal die Falschmeldung, Baab sei als internationaler Wahlbeobachter bei den Referenden im Donbass aufgetreten. Baab hatte das zuvor bei einer telefonischen Rückfrage ausdrücklich dementiert – es half nichts, er wurde öffentlich als kremlnaher Unterstützer der Abstimmungen wie der Annexionspolitik gebrandmarkt. Tatsächlich hatte der Journalist Baab dort weiter für sein geplantes Buch recherchiert und in diesem Zusammenhang lediglich an zwei Pressekonferenzen teilgenommen. Bald darauf entzog ihm die Universität Kiel einen bestehenden Lehrauftrag für Journalistenausbildung und bezog sich dabei auf die Fehldarstellung jenes Nachrichtenportals. Baab klagte und bekam vor dem Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein Recht, die Universität legte kein Rechtsmittel ein, so dass das Urteil vom 25.4.23 rechtskräftig wurde. In ihm lautet die Schlüsselstelle:


    Der umfassende Schutz der Pressefreiheit beinhaltet ... alle Verhaltensweisen, die der Gewinnung, Aufbereitung und Verbreitung von Meinungen und Tatsachen für die Öffentlichkeit dienen. Trägern der Pressefreiheit steht zudem ein subjektives Abwehrrecht auch gegen mittelbare Beeinträchtigungen zu. Das Verhalten des Klägers fällt in diesen Schutzbereich, weil er während der Zeit der Referenden in die Ostukraine reiste, als Journalist für ein Buchprojekt recherchierte und - zumindest auch - als Journalist auftrat.


    Das Buch erschien 2023 und erreichte im Frühjahr 2024 bereits seine 4. Auflage. Es enthält neben den Impressionen von zwei Reisen vor allem viel Material über Geschichte und Ökonomie der Ukraine, über Staat und Gesellschaft. Dieser Anteil überwiegt sogar, nicht nur quantitativ. Zusammen mit den Quellenangaben – Zugriff auf insgesamt 618 Anmerkungen über eine Verlags-Internetadresse – stellt er geradezu ein Archiv dar, das man auch nach Abschluss der Lektüre immer wieder benutzen kann. Unter den Quellen befindet sich ein hoher Anteil aus englischsprachigen Publikationen. Die Perspektive des Autors als Berichterstatter wechselt häufig vom Beobachteten zum Hintergrundmaterial und umgekehrt. So versucht er, jeweils eine Gesamtschau zu vermitteln.


    Der Autor sieht sich in der Nachfolge von Journalisten, die vor ihm andere Schlachtfelder bereist und darüber berichtet hatten: Peter Scholl-Latour, Egon Erwin Kisch, Martha Gellhorn. Er beruft sich auch auf Gerd Ruge, der 1991 vor Ort zum Putsch in Moskau damals recherchierte. Baab hat es wie sie gehalten, er ist im Krisen- und Kriegsgebiet und im Hinterland gereist, hat Eindrücke notiert, Gespräche mit Soldaten und Zivilisten geführt – und sich sehr gründlich über Vorgeschichte und Hintergründe informiert. So kann er ein viel vollständigeres Bild liefern als das, das uns gewöhnlich zur Verfügung steht. Er übt gewiss auch scharfe Kritik an Politik und Strategie aller Beteiligter und seine Prognosen sind desillusionierend, zum Teil düster. Doch durchgehend vermischt er dabei nicht die Nachricht, die Information mit der Meinung, der Schlussfolgerung – guter Journalismus alter Schule.


    Dies ist eines der seltenen Bücher, bei dem der Verfasser dieser Zeilen sich außerstande sieht, eine regelrechte Rezension abzuliefern. Zu dicht ist das Gewebe des Textes wie Stoffes, zu aktuell und noch zu sehr in unabsehbarer Entwicklung begriffen sein Gegenstand, der Krieg. Dass er unser aller beherrschendes Thema jetzt ist, wir sollten es an keinem Tag verdrängen.


    (ISBN: 978-3-946778-41-7)

    Bei der Lektüre von Kafkas Erzählungen – oder wenn wir uns später an sie erinnern – konzentrieren wir uns leicht auf die surrealen Elemente. Da sind die Tiere – ein Riesenkäfer, ein Hund, Mäuse oder ein Affe -, die, obgleich keineswegs vermenschlicht, doch mit scharfem menschlichem Verstand ausgestattet sind. Sie analysieren sich selbst in ihrer Tierhaftigkeit und lassen zugleich die verwandten animalischen Züge des Menschen zutage treten. Oder die phantastischen, stets fruchtlosen Zeitabläufe, etwa „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ oder „Vor dem Gesetz“; die unglaubliche Kunst des „Hungerkünstlers“; die anscheinend mit Willen und Bewusstsein ausgestatteten Spielbälle in „Blumfeld, ein älterer Junggeselle“. Es ist zu Recht oft bemerkt worden, dass solche Sequenzen Traumcharakter haben. Sie sind wie Alpträume, die in ihrer konkreten Ausgestaltung hyperrealistisch wirken, so sehr, dass wir lesend erschrecken, als hielten wir träumend den Schrecken für real.


    Daneben gibt es den Kafka, der die, häufig banale, Realität des menschlichen Lebens auf ihrer alltäglichen ökonomischen, psychologischen oder sonst wie gelagerten Ebene so akkurat, ja übergewissenhaft und dabei mit größtmöglicher stilistischer Brillanz darstellt, bis wir glauben, das quälend Realistische wäre ein Alptraum und wir eben aus ihm aufgewacht. Für dieses Verfahren stellt die kurze, erst posthum veröffentlichte Erzählung „Das Ehepaar“ ein gutes Beispiel dar. Der Text verzichtet auf Surreales vollständig. Der Ablauf ist mehr oder weniger alltäglich, bis auf den Plot, der einer heutigen Kurzgeschichte noch gut anstünde, gäbe es die von Kafka nicht bereits.


    Der Ich-Erzähler ist ein Geschäftsmann und berichtet vom Aufsuchen eines Geschäftsfreundes in dessen Privatwohnung. Mit wenigen Worten wird die allgemeine Wirtschaftslage angedeutet: Depression und Labilität bestimmen sie. Der Geschäftsfreund ist ein leidender alter Mann. Der Erzähler trifft ihn an, wie er gerade mit seiner Gattin von einem Spaziergang heimgekehrt ist. Man begibt sich in das Zimmer des Sohnes, der gleichfalls krank ist. An dessen Bett sitzt bereits, zum Missvergnügen des Erzählers, ein geschäftlicher Konkurrent, der im Erzähler wie im Sohn sublime ambivalente Regungen hervorzurufen scheint. Es folgen die scheinbar sinnentleerten Reden oder Handlungen der männlichen Akteure, bis der alte Mann plötzlich alle Anzeichen einer Agonie aufweist und dann tatsächlich tot zu sein scheint. Die hilflose Verlegenheit der drei übrigen Männer endet, als die vermeintlich Witwe Gewordene aus einem Nebenraum zurückkehrt und den vermeintlich Toten als nur schlafend bezeichnet. In der Tat verhält es sich so, und aufgewacht entfaltet der Alte sogleich eine unangenehme Rührigkeit. Der Erzähler sieht ein, dass hier kein Geschäft mehr zu machen sei, und tritt den Rückzug an.


    Der Text wäre nicht von Kafka, wenn er nicht voller Anspielungen und Deutungsmöglichkeiten steckte. So fällt auf, dass der Sohn („ein Mann in meinem Alter“) Symptome von Tuberkulose haben könnte – Kafka war selbst zum Zeitpunkt der Niederschrift unheilbar an ihr erkrankt. Der alte Geschäftsfreund verweist mit seiner Mischung aus Hinfälligkeit und Dominanz auf Kafkas eigenen Vater. Wenn der Sohn dem Erzähler mit der Faust droht, um ihn gegenüber dem Vater zum Schweigen zu bringen, verrät sich damit möglicherweise ein innerer Konflikt des Schreibenden. In diesem Fall wären Sohn und Erzähler identische Figuren, verschieden nur wie Freudsche Instanzen. Der Erzähler vermerkt dazu passend zur alten Gemahlin, „dass sie mich ein wenig an meine Mutter erinnere“. Überdies ist die Aufspaltung einer Person dem Autor Kafka nicht fremd. Schon in „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ bleibt Raban im Bett liegen und sagt sich: „Ich schicke meinen angekleideten Körper.“


    Andere Details können als sexuelle Anspielungen verstanden werden: das Gefuchtel des Konkurrenten mit seinem Hut – „in seinem schönen, offenen, aufgebauschten Mantel saß er großmächtig da“ - als exhibitionistische Geste, fraglich nur wem gegenüber; die intensiven Bemühungen der alten Frau um den Pelz des Gatten – „unter dem sie fast verschwand“ – als Liebesspiel unter Senioren; und wenn der Alte sich nach seinem Erwachen aus dem todesähnlichen Schlaf zur weiteren Erholung einfach zum schwerkranken Sohn ins Bett legt, in die Zeitung schaut und gleichzeitig die zwei Besucher barsch abfertigt, so haben wir damit den restituierten Patriarchen vor uns, der den ödipalen Zweikampf wie den geschäftlichen für sich entschieden hat. Die Fülle der Interpretationsmöglichkeiten ist hiermit bloß angedeutet.


    Ums Geschäftsleben geht es in diesem Kafka-Text am wenigsten. Womöglich ist „Geschäft“ nur eine Chiffre für Produktion und Vertrieb eigener literarischer Werke, Kafkas Hauptberuf nach seinem Verständnis, das Kafka senior durchaus nicht teilte. Stärker schimmert die häusliche familiäre Konstellation durch, wenn auch bearbeitet und gegenüber dem Original variiert, auf jeden Fall ein Alt-Prager Neurosen-Gärtlein. Darauf und auf den fließenden Übergang zwischen Traum und Realität bezieht sich schon jene berühmte Briefstelle in der Korrespondenz mit Max Brod: „Ich jause im Garten.“ Das hörte der aus einem Nachmittagsschlaf eben erwachte junge Kafka eine Nachbarin seiner Mutter draußen zurufen, und er resümiert gegenüber Brod später: „Da staunte ich über die Festigkeit, mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen.“ Dieses Erstaunen über die Leidensfähigkeit beim Erdulden des für ihn kaum Erträglichen ist eine der Triebfedern der Kafkaschen Produktivität: Leben scheint ihm wie Alpträumen und Alpträume wie gelebtes Leben, beides nur schreibend zu ertragen.


    Bei der Kafka-Lektüre lohnt es sich, das Hauptaugenmerk von den phantastischen Elementen ab- und den realistischen zuzuwenden. Es kann die Entschlüsselung erleichtern, die gleichwohl zu bewältigen ist. „Das Ehepaar“ – der Titel ist nicht von Kafka, sondern von Max Brod – stellt sich dann als kurzes familiäres Drama heraus, in dem auf ein paar Seiten in verhüllter Form die großen Schrecken der modernen Kleinfamilie behandelt werden: erzwungene Nähe, Konkurrenz, Versagen und Versagung, Frustration …

    Der Roman mit dem vollständigen Titel „Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern – Herausgegeben von E.T.A. Hoffmann“ ist eines der Hauptwerke der deutschen Romantik, erschienen in zwei Teilen 1819 und 1821. Ein geplanter dritter Teil kam infolge von Hoffmanns Tod 1822 nicht mehr heraus. Das Fragment von mehreren Hundert Seiten wurde und wird viel gelesen, studiert und immer wieder besprochen sowohl in Aufsatz- wie in Buchform. Wozu noch einen weiteren Sekundärtext hinzufügen? Er soll sich nur an hier zufällig Reinlesende richten, die das Werk noch nicht kennen, oder an solche, die sich gern an ihre Lektüre erinnern lassen. Man erwarte unter diesen Umständen keine regelrechte Rezension.


    Das Buch ist vieles gleichermaßen, unter anderem Satire und Parodie, Schauerroman und Tierfabel. Es hat autobiographische Bezüge und eine zeitkritische Tendenz. Die Katerhandlung umfasst etwa ein Drittel des Gesamttextes, der größere Rest entfällt auf die Handlung um Kreisler und seine Bezugspersonen am Pseudo-Hof von Sieghartsweiler. Der Kater erzählt seine Lebensgeschichte fortlaufend chronologisch, unterbrochen von Fragmenten aus einer Kreisler-Biographie von unbekannter Hand. Es wird fingiert, der Kater hätte sich dieser Blätter nur als Manuskriptpapier bedient und der Text auf ihnen wäre versehentlich mit abgedruckt worden. Der Leser mag herausfinden, in welcher Beziehung beide Teile zueinander stehen.


    Hoffmanns Stil erweist sich jeweils als virtuos. Im Detail zeigt sich bereits die Freude an genauer Beobachtung der Wirklichkeit. (Modell für den schriftstellernden Kater war Hoffmanns eigene Katze.) Murr hat sich selbst das Lesen und Schreiben beigebracht und verfasst Lyrik wie Prosa, besonders gern gelehrte Abhandlungen, gerichtet an die Katerjugend. Er parodiert unfreiwillig den deutschen Bildungsroman und hält sich als Dichter für ein Genie. Dieser Wahn entspricht demjenigen des Fürsten Irenäus, der nach Verlust seines kleinen Territoriums an der Fiktion festhält, noch regierend-gekröntes Haupt zu sein, und wie ehedem einen Hof mit Hofstaat unterhält. Eine solche Satire erinnert an Vergleichbares von Jean Paul, ist gerichtet gegen Kleinstaaterei und opportunistischen Untertanengeist. Auf Murrs Seiten wiederum werden neben dem Geniekult und -wahn die Burschenschaften und inflationärer romantischer Überschwang aufs Korn genommen. Das muss man selbst gelesen haben: wie Murr und seine geliebte Miesmies voneinander scheiden, tränenselig in übereinstimmendem Kalkül, oder wie Murr sein erstes Duell „auf den Biss“ übersteht …


    Die Tiergesellschaft, zu der auch Hunde gehören, ist nicht nur Parodie des „Hofes“, der gar keiner ist, sie ist charakterisiert auch durch Spießbürgerlichkeit. Murr gilt in der Sekundärliteratur vor allem als der Philister im Gegensatz zum genial-zerrissenen wahren Künstler Kreisler. Das trifft es aber nicht ganz. Murrs Entwicklung kann man bei all dem Prätentiösen doch als einen echten Reifeprozess verstehen. Er hat so viel überstanden: Erotomanie und Exzesse der Burschenschaftler. Sein Lebenslauf weist wie derjenige Kreislers zuweilen große Gefahr für Leib und Leben auf. Am Ende kommt er in seiner Einstellung gegenüber der Gesellschaft zu resignativen Schlüssen, bei denen der Herausgeber kritisch anmerkt, das seien ja eben auch Kreislers Gedanken dazu. Der Kater war zeitweise in Kreislers Obhut, als sein Halter Meister Abraham auf Reisen. Von diesem Orgelbauer und Magier war hier noch nicht die Rede …


    … und auch nicht von der Rätin Benzon, vom Prinzen Hektor und dessen Bruder oder von den jungen Damen Julia und Hedwiga. Und es wird hier auch nicht ausgeplaudert, wie sie alle zueinander stehen und wie erst am Ende des Romans der verwickelt geschürzte Knoten aufgelöst wird, mehr oder weniger. Es gab schon Kritik der Art, dass die Kreisler-Geschichte allzu fragmentiert sei. Indessen sind die Makulaturblätter so „zufällig“ dann doch nicht. Zwar brechen die Kreisler-Abschnitte regelmäßig mitten im Satz ab und setzen nach einem Murr-Zwischenspiel mitten in einem ganz anderen und in anderem Zusammenhang wieder ein, dennoch folgen sie inhaltlich einigermaßen chronologisch aufeinander. Was Kreisler ab seinem ersten Eintreffen in Sieghartsweiler fortlaufend erlebt, wie die Intrigen am Hof ablaufen, das kann der aufmerksame Leser sich schon erschließen. Wahr ist allerdings, dass Kreislers Vorgeschichte nur in andeutenden Rückblenden erzählt wird.


    Abschließend ein Beispiel für die anhaltende Beschäftigung der Literaturwissenschaft mit dem Roman: Sarah Kofman aus dem Kreis um den Philosophen Derrida hat dazu 1984 das Buch „Schreiben wie eine Katze“ veröffentlicht.


    ASIN/ISBN: 3965425595

    Dies ist eine Sammlung von Texten aus Mark Twains Nachlass, die erst 1963, gut fünfzig Jahre nach dem Tod des Autors, erscheinen konnte. Sein literarischer Nachlassverwalter Bernard DeVoto hatte die Herausgabe schon Jahrzehnte davor geplant, doch von Clara Clemens, Tochter des Autors und Inhaberin der Rechte, keine Genehmigung erhalten. Dies gelang erst seinem Nachfolger. Clara Clemens mag gute und weniger gute Gründe für ihr Zögern gehabt haben. Insgesamt handelt es sich um eine sowohl inhaltlich wie qualitativ sehr heterogene Sammlung, die zwar die Neugier der Kenner anregen, doch das literarische Prestige ihres Vaters nicht unbedingt stärken konnte. Außerdem dürfte die Tochter des Dichters mit vielen religionskritischen Passagen keineswegs einverstanden gewesen sein. Ironie der Literaturgeschichte: Ausgerechnet ein Kind Mark Twains schloss sich der Christian Science an. Schließlich soll der Kalte Krieg um 1960 den Ausschlag für die Publikation gegeben haben. Durch sie wurde sowjetischer Propaganda, die im Zurückhalten systembedingte Zensur sah, der Boden entzogen.


    Die Gesammelten Werke bei Hanser in deutscher Übersetzung änderten die Reihung der Einzeltexte. Ihr folgen wir und lesen zuerst „Die Briefe Satans“, eine etwas unbefriedigende Ouvertüre. Mark Twain übt hier Religionskritik mit den Mitteln einer einfachen Kurzgeschichte, deren Konstruktion jedoch nicht trägt. So wird Satan nach vielversprechendem Anfang des Textes zur Strafe auf die Erde gesandt und soll dem Himmel in Briefen berichten, wie sich die Menschheit denn anlässt – nur dass diese Epistel allzu deutlich Tiraden des alten, verbitterten Menschen Mark Twain sind. Da ist weder satanischer Witz noch satanischer Standpunkt. Man will den Band schon fortlegen und beginnt dann doch mit dem nächsten Text: „Aus den Papieren der Sippe Adam“. Das erweist sich schnell als genialer Mix aus biblischer Geschichte und aktueller Zeitkritik, leider im Verlauf etwas überladen, bis einen der gelungene Schlussteil wieder versöhnt. Kostprobe von den toll-satirischen Einfällen: Eva schildert sich und Adam in ihrer Autobiographie als die ersten Naturforscher überhaupt. Während Adam die umwälzende Entdeckung macht, dass Wasser bergab fließt, findet Eva heraus, wie die Milch in die Kuh kommt – sie nimmt sie aus der Luft mit dem Fell auf. Flaubert, der Vater von „Bouvard und Pécuchet“, lacht darüber im literarischen Himmel.


    Als ein zupackender und –beißender Literaturkritiker erweist sich Mark Twain in zwei Abrechungen mit Cooper, lehrreich noch heute. Ich kann hier nicht alle fünfzehn Texte vorstellen, nur eine Auswahl. Die „Beiträge zu Fragen der Etikette“ sind boshaft amüsant und verspielt, wie von einem Urahn Tucholskys geschrieben. Unangenehm fiel mir wegen seiner extremen Einseitigkeit und primitiven Frankophobie „Die Franzosen und die Komantschen“ auf. „Die verdammte Menschenrasse“ hat mich beim Lesen viele sachliche Einwände notieren lassen, die ich, um ihn nicht zu ermüden, dem Leser hier erspare. Rundum gelungen scheint mir dagegen die lange Geschichte „Die große Finsternis“, eine surrealistische Reise, die mit einem Wassertropfen unter einem Mikroskop beginnt, dann auf ein unbekanntes und unendliches Meer hinausführt, auf dem keine Naturgesetze mehr gelten und es keine Orientierung gibt. Der Schluss erinnert an Dürrenmatts „Der Tunnel“, nur dass es hier gemüthafter ausgeht. Das Schiff rast zwar wie jener Zug nach unerklärlicher, grauenhafter Fahrt auch auf Gott oder die Ewigkeit zu, doch ein Seebär von altem Kapitän hebt in letzter Minute die Moral der meuternden Mannschaft – ernst gemeint oder Parodie oder sonst etwas?


    Als Rausschmeißer kommt dann noch ein „Brief an die Erde“, etwas Leichtfüßig-Satirisches. Ein in der Himmelsbürokratie angestellter Engel geht Punkt für Punkt auf die sehr irdischen Gebete eines Kohlenhändlers ein. Das klingt wiederum Zeile für Zeile nach Tucholsky, so dass man sich erinnern muss, wer vor wem gelebt hat und dass der Jüngere diesen Text des Älteren nicht gekannt haben kann. Freilich – wenn Autoren erst mal tot sind, gibt es kein Älter oder Jünger mehr. Nur an ihren Texten erweist sich, ob diese sich frisch erhalten haben. Für vieles von Mark Twain und für manches aus dieser Sammlung gilt das bis heute.