Im Vergleich zu anderen Romanen von Maupassant (z.B. „Bel Ami“) ist im deutschen Sprachraum sein „Mont-Oriol“, erschienen 1887, relativ wenig bekannt. Dabei ist das Werk nicht weniger gelungen und kann noch immer mit Interesse gelesen werden. Liegt die geringere Resonanz vielleicht am Titel, der fremdländisch klingt, ohne eine Assoziation auszulösen? Mont-Oriol ist der Name eines fiktiven Kurbades im Süden Frankreichs, in der Auvergne, das im Verlauf der Handlung erst gegründet wird. Wie das geschieht und mit welchen Methoden der Aufschwung des Unternehmens herbeigeführt wird – mit viel Reklame und einigem an Täuschung -, das ist der eine Hauptstrang der Handlung.
Der andere ist das private Schicksal von Pariser Kurgästen, die zum Teil identisch werden mit den Betreibern des kommenden Modebades. Zu Beginn reisen sie in das vor sich hinkümmernde bestehende Bad von Enval. Eine zentrale Person unter ihnen ist die junge Christiane Andermatt. Sie soll die Kur gebrauchen, da sie nach mehrjähriger Ehe mit einem jüdischen Bankier noch nicht schwanger geworden ist. Behandeln lässt sich auch ihr Vater, der Marquis Ravenel. Weitere Begleiter sind neben ihrem Ehemann ihr Bruder Gontran und dessen Freund Paul. Wie sich dieses Quintett untereinander verhält, das ist der andere Faden der Erzählung.
Beide Stränge verbinden sich früh, als bei einer Felssprengung in einem Weinberg nahe Enval eine Mineralquelle freigelegt wird. Andermatt steigt sogleich groß in sein Projekt Konkurrenzbad ein, während Christiane ein Verhältnis mit Paul eingeht. Der Kurerfolg – Schwangerschaft! - ist ihr bald so sicher wie ihrem Mann das Aufblühen des neuen Heilbads. Mit von der Partie in beiderlei Hinsicht ist die Winzerfamilie Oriol. Der alte Oriol bringt seine Grundstücke ein und seine beiden Töchter an die Männer (Gontran und Paul). Die Raffinesse des Romans besteht unter anderem gerade in der Verknüpfung des Geschäftlichen mit dem Erotischen.
Auf einer dritten Handlungsebene agieren die miteinander konkurrierenden Ärzte. Als Bühne für alle Handlungsteile dient die Landschaft, das Innere des Zentralmassivs mit seinen erloschenen Vulkanen, der Austritt der Täler in die umgebende Ebene.
Wie die einzelnen Elemente miteinander verbunden sind, zeugt vom Geschick Maupassants und davon, dass er während der Niederschrift noch auf der Höhe seiner literarischen Potenz stand. Es gibt das exakte, sich unparteiisch gebende realistische Beschreiben der äußeren Abläufe ebenso wie die feinfühlige Analyse von Seelenregungen der Figuren. Dazu tritt, nicht durch Tonfall, sondern aus der jeweiligen Situation heraus, ein gelegentlicher satirischer Effekt. Das Unbeteiligtsein des Erzählers schützt ihn auch vor dem Vorwurf des Anitsemitismus. Andermatt ist, obwohl Prototyp des nur am Geldmachen interessierten Kapitalisten, keineswegs unsympathisch. Er darf sich sogar selbst mit guten Argumenten gegen die aristokratischen Nutznießer seines Gewinnstrebens – den indolenten Marquis und seinen verschuldeten Sohn – verteidigen.
Der Schluss ist nicht einmal pessimistisch, nur fatalistisch. Christiane, verlassen von ihrem Liebhaber, wird desillusioniert weiterleben. Die mit der Handlung und ihrer Darstellung verbundene unausgesprochene Kritik am Sein erkennt zugleich dessen Beharrungsvermögen an.
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ASIN/ISBN: 1514852047 |