Hallo in die Runde -
Mulle, ich sehe Deinen Punkt - der ICH-Erzaehler hat m.E. fuer den Autor den Vorteil, dass sich Innenansichten und Wertungen sehr angenehm in den Erzaehlfluss einbinden lassen.
Also waehrend in der ER-Form mitunter grammatikalisch schwerfaellige Konstruktionen benutzt werden muessen, um eine Innenansicht darzustellen bzw. um deutlich zu machen, dass der Prota sich jetzt im inneren Monolog befindet (er dachte, ... ), stellt beim ICH-Erzaehler automatisch jeder Satz die Innenansicht des Protas dar. Da er es ist, der erzaehlt, kann er Erlebtes mit Gedachtem mischen, ohne dass das extra im Text ausformuliert werden muss.
Gleiches gilt fuer Ruekblenden. Das Erzaehler-ICH plaudert einfach ueber vergangenes Erlebtes, waehrend es durch die Gegenwart schreitet, ohne dass es sich konstruiert anhoert.
Ausserdem finde ich, dass die ICH-Form die groessten Moeglichkeiten gibt, eine individuelle Erzaehlstimme zu gestalten. Es macht es leichter, Humor einzubringen, ohne dass es aufgesetzt wirkt.
Der Nachteil liegt meiner Meinung nach darin, dass - wenn man den ICH-Erzaehler stringent durchhaelt - sich Limitierungen im Spannungsaufbau ergeben. Man kann nicht mal eben in die Sicht eines anderen Protas oder sogar des Boesewichts wechseln. Es kann sich nicht an anderer Stelle Duesteres zusammenbrauen, von dem der Prota noch gar nichts weiss, der Leser aber schon.
Ich persoenlich mag es zum Beispiel gern, die Geschichte wechselseitig aus zwei oder drei Perspektiven zu erzaehlen, weil mir das groessere Freiheit gibt, zwischen Handlungsorten und Handlungsstraengen zu springen. Und natuerlich kann ich damit billig Spannung erzeugen, indem ich an der spannensten Stelle abbreche und das naechste Kapitel mit einem anderen Erzaehler beginne.
Ach ja, und ein paar Situationen bilden beim stringenten ICH einfach besondere Herausforderungen: Was, wenn der Prota am Ende des Buches stirbt? Was, wenn es Passagen gibt, wo er bewusstlos ist, aber ein anderer "ER" dann haette beschreiben koennen, was mit ihm passiert?
Und last but not least - wenn es, sagen wir, bei einer Liebesgeschichte, wirklich nur einen ICH-Erzaehler gibt, kann der sich natuerlich nie zu 100% sicher sein, was die Geliebte wirklich denkt. Er interpretiert nur ihre Handlungen, ihre Mimik und Gestik und ihre Worte.
Ich habe es bei ein paar Buechern schon gesehen, dass ICH und ER-Erzaehler gemischt wurden, d.h. der Hauptprota erzaehlt aus der ICH-Perspektive und dann gibt es ein oder zwei weitere Erzaehlstimmen aus der dritten Person.
Ist sicher nicht einfach zu konstruieren und kann auch schiefgehen, weil es leser-ungewohnt ist, aber mir hat es beim Lesen gefallen.
Was nun die Leser-Wahrnehmung angeht:
Wenn ich von mir selbst als Leser ausgehe, muss ich sagen, dass ich als Teenager ICH-Erzaehler mit wenigen Ausnahmen nicht mochte. Und zwar vor allem, weil ich mir die Charaktere nie visuell vorstellen konnte, weil das ICH natuerlich zurueckhaltend sein muss in der Beschreibung seiner selbst. Ausserdem wirkt eine Beschreibung des Aussehens irgendwie intensiver, wenn sie durch die Augen eines anderen geschieht. Gerade bei Liebesschmonzetten ist das enorm wichtig, lol.
Ausserdem dachte ich bei historischen Romanen oder Fantasy immer - wie kann das jemand im ICH erzaehlen. Der war doch gar nicht dabei :grin.
Vielleicht gibt es viele andere Leser, denen es auch so geht und deshalb ist die Dritte Person beim Erzaehler etwas populaerer. Ich weiss es nicht.
Heute finde ich ICH und ER gleichermassen gut zu lesen, ich sehe da keinen Unterschied mehr. Tatsaechlich mag ich in Buechern, bei denen die Erzaehlstimme einen hintergruendigen Humor hat, ICH sogar besser als ER. Mag sein, dass sich mit dem Erwachsenwerden schlicht meine Wertungsparameter verschoben haben.
- andrea