Zitat
Original von Salonlöwin
@ Nomadenseelchen:
Als ich gestern Abend Deinen Beitrag las - zu diesem Zeitpunkt hatte übrigens noch keine Eule geantwortet - kam mir ein Gedanke in den Sinn: es funktioniert zurzeit vieles nicht gut in Deutschland, aber wir sollten endlich das Gestöhne auf gehobenem Niveau lassen. In Deutschland hat die Mehrheit ein Dach über dem Kopf, kann sich Lebensmittel kaufen und ist sozialversichert. Diese drei Faktoren sind in den von Dir erwähnten United States schon nicht gewährleistet.
(...)
Deinem Ausgangsbeitrag war eine deutliche Unzufriedenheit mit den hiesigen politischen Verhältnissen zu entnehmen, nichtsdestotrotz solltest Du bei all Deiner berechtigten Kritik das Augenmaß walten lassen und zur Kenntnis nehmen, dass es der Mehrheit der Deutschen gut geht, sie ihre Meinung äußern können und der Obdachlose in den Staaten von seiner Meinung nicht existieren kann.
Hallo ihr Lieben,
ich bin gerade ueber diesen Thread gestolpert und wollte mich auch kurz dazu aeussern, da ich das Vergnuegen habe, seit ein paar Monaten in den Vereinigten Staaten zu leben, genauer in LA.
Deutschland und die USA miteinander zu vergleichen, insbesondere aber nicht nur in punkto Meinungsfreiheit und Demokratie, ist gar nicht so einfach.
Es ist nicht alles Gold was glaenzt, aber das gilt fuer beide Seiten. Vielleicht sollte die Frage nicht lauten "Wieviel Demokratie / Meinungsfreiheit haben wir in Deutschland", sondern "Gefaellt dem Einzelnen, was die Masse will"?
Bevor ich mich hier mehr ins Detail hineinsteigere, aber kurz ein Wort zu den Lebensumstaenden in den USA vs. Deutschland:
Der gravierenste Unterschied ist der, dass in den USA jeder, und damit meine ich jeder, seines eigenen Glueckes Schmied ist. Das bedeutet, dass ein ehrgeiziger und talentierter Mensch hier grundsaetzlich alles erreichen kann und mit etwas Glueck und Risikobewusstsein sogar noch ein bisschen mehr. Dir wird leichter eine Chance gegeben, Dich zu beweisen - es ist ja alles unverbindlich. Dafuer musst Du aber auch haerter arbeiten.
Und das ist die Schattenseite des Landes der unbegrenzten Moeglichkeiten. Seines eigenen Glueckes Schmied sein heisst, dass da kein anderer ist, der fuer Dich schmiedet, kein Staat, keine hoehere Instanz. Soziale Absicherung ist in den USA Privatsache. Und wer es - aus welchen Gruenden auch immer - nicht schafft, sich im Markt zu beweisen, kann tief stuerzen. Man findet praktisch immer einen Job, und wenn es der ist, im Supermarkt Tueten einzupacken. Aber wenn man partout nicht in der Lage ist zu arbeiten (z.B. aus gesundheitlichen Gruenden), landet man unter Umstaenden in der Obdachlosigkeit und dann gehts meistens nur noch bergab. Denn Krankheit kostet Geld, und hier hat schon so mancher Haus, Hof und Familie verkaufen muessen, weil er sich vorher das Geld fuer die Krankenversicherung sparen wollte. Oder es nicht aufbringen konnte.
Ich will damit sagen, die Vereinigten Staaten sind ein freiheitlicher Staat, der seinen Buergern absolute Muendigkeit unterstellt und es ihnen also auch freistellt, ihre Zukunft zu planen, sich um ihre soziale Absicherung zu kuemmern oder Waffen zu tragen.
Das kann man lieben oder hassen. Die unmittelbare Auswirkung davon ist die, dass alles ein bisschen extremer ist. Die Erfolgreichen sind erfolgreicher, die Armen aermer als in Deutschland. Und weil es sonst keinen Ausweg gibt und sie nichts zu verlieren haben, sind sie auch ein bisschen gewaltbereiter. Zumal eine Pistole fuer ca. 200$ zu haben ist - fuer manchen vielleicht eine etwas andere Investition in die Zukunft (ok, das war zynisch, ich bitte um Verzeihung).
Wie ist das nun hier mit Meinungsfreiheit und Demokratie?
Also, die Amerikaner nehmen ihre Freiheit sehr ernst, vor allem die, ihre Meinung zu sagen. Auf der anderen Seite sind sie aber auch ein sehr hoefliches Volk, es gilt als groesster Fauxpas, jemandem versehentlich zu nahe zu treten, weil man eine Bemerkung ueber zu einem potentiell problematischen Thema gemacht hat. Problematisch sind in den USA Politik, Religion, Sex und Rassenzugehoerigkeit. Deshalb wird die Meinungsfreiheit im taeglichen Umgang miteinander eher so interpretiert, dass sie Privatsache ist. Das heisst, man redet einfach nicht drueber - ausser, man kennt sich sehr sehr gut.
Was anderes ist natuerlich wieder, wenn man ein leidenschaftlicher Kaempfer fuer eine bestimmte Denkrichtung ist. Dann stellt man sich auf ein Podest und verkuendet laut, was man denkt - aber das ist dann wieder ok, weil man ja zu einer anonymen Masse spricht und somit die Gefahr, einem Individuum zu nahe zu treten, gebannt ist. Wem's nicht passt, der muss ja nicht zuhoeren.
Nun haben auch die Amerikaner ihre Tabu-Themen, wie eigentlich jede Nation. Die definieren sich ueber die Hoehe des Konfliktpotentials. Die schrecklichsten Fettnaepfchen finden sich im Umkreis der Diskriminierung. Es gibt alle Arten von Gesetzen gegen Diskriminierung. Deshalb ist auch jeder enorm vorsichtig in seiner Wortwahl, um ja nicht der Diskriminierung verdaechtigt zu werden. So nennt man Weisse hier "Kaukasian" und Schwarze "Afro-american people", Behinderte waren zeitweise mal "disabled people", was jetzt auch als unfein gilt und durch "people with special requirements" (Menschen mit speziellen Beduerfnissen) ersetzt wurde.
Auch alles, was mit Sex oder Nacktheit zu tun hat, ist extrem kritisch und nur sehr vorsichtig zu behandeln.
In gewisser Weise ist das aber doch sogar ein Ausdruck der Demokratie, wenn man sie als "Mehrheitswille" interpretiert. Die Mehrheit des Volks fuehlt sich durch nackte Brueste im Fernsehen belaestigt, also werden sie wegretuschiert. Die Mehrheit will auch zerfetzte Leichen in Nahaufnahme, also gibts das im Nachmittagsfernsehen. So funktioniert die pure Demokratie.
Und wenn die Mehrheit des Volkes fuer die Wiedereinfuehrung der Todesstrafe durch Steinigen als Volksvergnuegen ist, dann waere es nur konsequente Demokratie, dem Willen stattzugeben. An dieser Stelle kommt dann aber die Frage auf, ob das Volk nicht manchmal vor sich selbst beschuetzt werden soll. Oder ob man es nicht zuerst belehren muesste ueber die Grundlagen des Humanismus und es dann noch mal fragen, ob es sicher ist, dass es jedes Wochenende sehen will, wie Delinquenten den Tigern zum Frass vorgeworfen werden.
Rom war auch zeitweise eine Demokratie...
In Deutschland ist es eben das Abweichen von politischer Mitte ein Konfliktthema, oder auch der Holocaust und alles, was damit zusammenhaengt. Deshalb tut sich Deutschland ja auch so schwer im Umgang mit Israel und bleibt vornehm zurueckhaltend in seinen Aussagen, wenn mal wieder die Frage nach der Verhaeltnismaessigkeit im Krieg mit Palaestina gestellt wird.
So hat jedes Ding zwei Seiten.
Beste Gruesse aus Kalifornien -
Andrea