Zitat
Original von SiCollier
Daß allerdings Jurijs Reisegenosse (!) taub ist, damit habe ich nicht gerechnet.
Und ich hatte in dem Moment damit gerechnet, als erwähnt wurde, dass er dem Sprechenden auf den Mund schaut.
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In diesem Großkapitel hatte ich zusehends mehr das Gefühl, als ob Pasternak mehr und mehr zugunsten des Systems (linientreu) schreibt; z. B. Kap. 7 (S. 225): „Allmählich stellte sich glücklicherweise heraus, daß die Arbeiter das Übergewicht hatten.“ (Hervorhebung von mir.)
Oder etwas weiter die Voraussage Schiwagos, das „es Rußland bestimmt ist, das erste sozialistische Reich seit dem Bestehen der Welt zu werden.“ (S. 215)
Es sind solche (kleinen) Formulierungen, manchmal - wie hier - nur ein Wort, die mir aufgefallen sind.
Ja, aber ... ich mache mir ziemlich viele Gedanken darüber, welche Gedanken Jurijs die Gedanken Pasternaks widerspiegeln. Man muss vielleicht wissen, dass Pasternaks politische Ansichten der Idee des Sozialismus/Kommunismus nicht gerade zuwider lief. Stalin hat er zum Beispiel anfangs begrüßt. Vielleicht kann man das von Dir Zitierte einfach als Pasternaks ursprüngliche Ansicht ansehen?
(Sh. auch weiter unten)
Abschied von der Vergangenheit
Seite 150 beweist mir, dass Tonja ihren Jurij ziemlich gut kennt, vielleicht besser, als er sich kennen will – zumindest in mancher Hinsicht (ich meine ihre Antwort auf seinen Brief). Im Grunde waren es ja auch zwei Begebenheiten, die man der Vergessenheit hätte anheimfallen lassen können.
Hat sich von euch auch jemand gefragt, ob die „romanischen Völker“ tatsächlich samt und sonders „einen Instinkt“ haben, „der tief in der Wesensart verwurzelt ist“ (Seite 153, 154), nämlich, man höre und staune, einen kupplerischen Instinkt? Wie kommt man nur auf solche Gedanken, außer natürlich, man nimmt die vermutlich auch in Russland erschienenen Romane, in denen solches Gebaren ja nun ab und an vorkommt, als Grundlage für die Charakteristika jener Menschen.
Was ich mir zu Seite 159 notiert habe: Der Kommissar wird als im Grunde unfähig, die Offiziere als „perfide gerissen“ dargestellt. Sie sollten doch auch auf Seiten des Volkes stehen, Schulter an Schulter sozusagen den alten Verhältnissen den Kampf ansagen. Taten sie ja auch, aber nicht alle. Und wenn ich daran denke, wie viele Offiziere Stalin eleminieren ließ, was sich in den Jahren des deutschen Überfalls auf die UdSSR bekanntermaßen ziemlich negativ auswirkte, frage ich mich, ob dass eine der Stellen sein kann, die einen Zensoren aufmerken ließen. Was mir außerdem auffiel: Der Doktor wünscht sich abzusondern, statt daran mitzuwirken, gegen die erwähnte „eitle und lügenhafte Geschwätzigkeit“ anzugehen. Er, der ja nun unbestritten zur Intelligenzija gehört, will Freiraum für sich, statt alle Kraft für den Aufbau einer neuen Ordnung einzusetzen. Interpretiere ich diese Stellen im Sinne von Fedins und Simonovs ablehnenden Urteils, könnte man wohl ins Grübeln kommen. Dazu passt für mich auch ein klein wenig Jurijs Bemerkung Seite 167: „Die Revolution hat sich gegen unseren Willen durchgerungen...“. Mehrdeutig. Besser gesagt: Nicht eindeutig genug. Dass er die Umwälzungen letztlich begrüßte, widerspricht dem nicht unbedingt. Aber wenigstens deutet sich dort an, dass Tonja so unrecht nicht hatte.
Seite 164 wird eines der großen russischen Probleme erwähnt, die Alkoholsucht. Aber was ist wohl mit „Landschaftsorganisationen“ gemeint? Landwirtschaft? Dörfliche Strukturen?
Jurij jedenfalls ist auf Seite 165 ziemlich hellsichtig, er erwartet einen „unvorstellbaren Schlamassel“. Auch wenn er es zunächst einmal auf die Situation um die Rebellen vor Ort meint und Laras Antwort „Nichts wird passieren“ lautet, kann man es durchaus in einen größeren Zusammenhang stellen. Was haben die Leute erwartet? Dass die Gewalt eskalieren würde, war vermutlich der Gedanke vieler, die über die Gegebenheiten nachdachten. Aber gab es wohl Unbeteiligte (also nicht solche Menschen, die zu Lenings, Trotzkis oder Stalins engstem Umfeld gehörten), die eine derartige Gewaltanwendung, derartigen Terror erwarteten?
Hattet ihr auch den Eindruck bei der „Kosakenszene“ ab Seite 173, das hätte auch im „Stillen Don“ stehen können?
Das Moskauer Heerlager
Zu Beginn: Russland befindet sich auf dem Weg in eine neue Ordnung, eine politische Lage, die noch nie dagewesen ist, der Sozialismus resp. der Kommunismus ist das erklärte Ziel, keiner wird mehr über dem anderen stehen, man begrüßt das durchaus … und erwartet von der mehr oder weniger treuen Dienerschaft, dass sie doch bitte weiter dient. Auch dazu gibt es im „Stillen Don“ eine Parallele, die Frauen sollten zwar mit kämpfen, durften aber weiterhin die Wäsche waschen etc. Nun ja, der Weg zum „neuen Menschen“ …
Die Szene Vater/Sohn Seite 197 f.: Ähnliches durfte man wohl erwarten, man hat es auch schon anderenorts gelesen. Trotzdem macht man sich so seine Gedanken, dieser (sinngemäße) Satz „das Kind bedeutete ihm nichts“ aus dem vorherigen Abschnitt kann ich nicht so recht vergessen; zudem sieht es nicht so wie auf den Jurij geschickten Fotografien (was auch nicht unbedingt ein Wunder ist, den Vater aber doch irritert hat). Das „Gefühl eines schlechten Vorzeichens“ teile ich mit ihm (Seite 198).
So wie schon zweimal Block erwähnt wurde, findet sich diesmal Seite 201 der Name Majakowskij. Was Jurij zum Besten gibt, wird wohl eine verbreitete Meinung über ihn gewesen sein.
„... ich habe dein Buch schon gelesen. Ich habe nichts verstanden, aber es ist genial.“ Schura Schlesinger ist einfach eine meiner Lieblingsnebenfiguren. Nimmt kein Blatt vor den Mund, packt an, eine ehrlich Haut. Bekommt nur – für meinen Geschmack – zu wenig Raum.
Jurijs Worte zu seinen Freunden (Seite 206 f.): Hellsichtig, beeindruckend. Und mit dem heutigen Wissen dessen, was geschah, ein Satz, der mich mit unendlicher Traurigkeit erfüllt: „Wenn das geschieht, werden wir lange Zeit wie betäubt sein, und wenn wir wieder zu uns kommen, werden wir unser Gedächtnis verloren haben. Wir werden einen Teil der Vergangenheit vergessen haben und nicht nach Erklärungen für das Unerklärbare suchen.“ Und hat dann wieder ein Ahnung von „maßlosem Unglück“ (Seite 208).
Mir stellte sich hin und wieder die Frage, wie viel von Pasternaks Wissen und Wünschen in Jurij steckt, in seinen Gedanken, in seinen Äußerungen. Der Autor, so habe ich gelesen, erwartete, dass die schlimmen Verhältnisse, unter denen die Menschen in der UdSSR leben mussten, sich bessern würden. Darauf vertraute er. Angesichts dessen, was ihm geschah, was auch ihm angetan wurde, war das vielleicht auch eine der wenigen Hoffnungen, die er schlicht nicht aufgeben konnte.
Die Beschreibungen der Entbehrungen im Winter, die Kälte das beengte Wohnen, die Straßenkämpfe, sie bilden den Hintergrund für die Krankheit des Kindes und des Vaters, für die Mühen und die kleinen Freuden. Ein Bruder Jurijs taucht auf und wird zum Helfer in der Not. Manchmal kann ich schon ein bisschen nachvollziehen, was Wenjamin Kawerin z. B. über die Personen in Pasternaks Roman sagt (in einem Artikel in der Zeitschrift Sinn und Form, Ausgabe 2/1988, Seite 269). Brutal gesagt, wenn jemand gebraucht wird, hat er seinen Auftritt. Aber das wäre unfreundlich. Es gibt ja durchaus so Situationen, in denen das Schicksal seine eigene Rechnung aufmacht. Manche nennen es auch Zufall.
„Diese drei Winter verschmolzen miteinander, und es fällt schwer, sie zu unterscheiden“ (Seite 223). Das geht mir mittlerweile mit den Jahren, in denen die einzelnen Szenen spielen, so, ich komme mehr und mehr ins schwimmen, wenn ich eine zeitliche Einordnung geben sollte.