Die Ankunft
Es häuft sich ja jetzt doch ein bisschen, Seite 298 zum Beispiel: „Der Marxismus zeigt zu wenig Selbstbeherrschung, um eine Wissenschaft zu sein.“ Das ist heftig. Ziemlich heftig. Nicht für mich, nebenbei bemerkt. Aber bei einigen anderen, da wäre ich mir denn doch nicht so sicher. Auch was er da noch sagt oder an anderen Stellen, meine Verneigung. Allerdings haben sich einige (oder viele) andere sich so ihre Gedanken gemacht. Wahrscheinlich weniger über Doktor Schiwago als vielmehr über Herrn Pasternak.
Die Schiwagos haben jedenfalls zwei rettende Enge mehr oder weniger an ihrer Seite: Jurijs Bruder und Samdewjatov. Da mag einem wohl nicht allzu bange werden, auch wenn die bedrohlichen Schatten da sind. Man sieht ihnen die „besitzende Klasse“ vielleicht zu sehr, vor allen Dingen aber Tonja ihre Herkunft an.
Seite 306: Ich hatte ja schon so meine Zweifel, aber ja, er ist da. Der kleine Sohn, meine ich. Ein braves Kind. Auf der beschwerlichen Reise hat man ihn überhaupt nicht ge- und bemerkt.
Ein zweiter Moment zum Schmunzeln fand sich für mich auf Seite 313: Verwalter und Verwalterfrau. Oder umgekehrt, je nachdem. Er ist ein Mensch, der früher „Pirat“ geworden wäre. Und heute?: „Student“, „Lehrer“, „idealistischer Träumer“. Na, wenn das keine Weiterentwicklung ist... 
Die Hinweise, wer Strelnikov wirklich ist, verdichten sich mehr und mehr.
Warykino
Einige Tagebuchaufzeichnungen Jurijs. Bauliche und gärtnerische sowie hausfrauliche Erfolge werden notiert. Die mich, gerade was Tonja anbelangt, nicht sonderlich überraschen. Eine meiner Großmütter, die „in Stellung“ bei einer Familie war, die zu dem gehörte, was man wohl als „Landadel“ bezeichnete, berichtete, dass die Frau des Hauses sehr genau zu wissen hatte, was wie zu funktionieren hatte. Schon, um die Dienerschaft besser beaufsichtigen zu können.
Interessant fand ich die Lektüre, die sie sich vornehmen. Puschkin, gut, das erwartet man ja fast, aber auch Kleist (Seite 323). Dass Pasternak neben Goethe auch Kleist ins Russische übertrug, war mir zwar bekannt, ich meine, Kopelew hat (mich) darauf aufmerksam gemacht. Der von mir schon erwähnte Reinhard Lauer weist in seiner „Geschichte der russischen Literatur, Seite 798) darauf hin, dass es durchaus intertextuelle Bezüge besonders zu Kleist gebe. Was mir allerdings nicht so sonderlich weiterhilf, denn ich kenne Kleist nicht gut und vor allen Dingen vollständig genug, um da fündig zu werden. Ich mühe mich schon redlich genug, die Faust-Bezüge zu finden. Obwohl ich mir einbilde, diesbezüglich nicht ganz erfolglos zu sein.
Seite 327 fällt mir der Name „Faust“ jedenfalls zum ersten Mal bewusst auf. „Werd ich zum Augenblicke sagen ...“, in gewisser Weise gilt das auch für Jurij, vielleicht nicht ganz so konsequent, nicht ganz so freiwillig wie bei Faust. Und auch, wenn er solche Sehnsucht nach dem einfachen, ländlichen Leben hat, aber diese Sehnsucht resultiert ja letztlich aus den „revolutionären Gegebenheiten", dem Krieg etc. Jurij ist aber doch auch ein Suchender. Sein Geist steht nicht still. Er hat Wünsche, er möchte eine gewisse Bedeutung haben, er wünscht, was er sich vielleicht nicht wünschen sollte. Und gibt Dinge von sich, die zwar richtig sind, die man aber in „unsicheren Zeiten“ besser nicht allzu laut sagt.
Jurijs Worte (Seite 323) über Schwangere/Gebärdende sind nicht nur die eines Ehemannes oder eines Arztes, es sind auch die eines Dichters. Man merkt an seinen Worten, welch tiefen Respekt er vor Tonja ja.
Es gibt einen Hinweis, dass Jurij Herzbeschwerden hat. Dazu die Aufregungen, der in Moskau erlittene Hunger, die harte, im Grunde ungewohnte körperliche Arbeit... Man möchte ihm raten, einen Arzt zu konsultieren und auf dessen Rat zu hören. Aber würde er das tun? Ich für meinen Teil habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass er mit aller Macht, mit jeder Faser seines Körpers am Leben klebt. Er nimmt das hin, was ihm gegeben wird, mag es gut, mag es schlecht sein. Er nimmt es auch hin mit Freude oder mit Trauer. Und wenn es zu Ende ist … seine Worte gegenüber der Schwiegermutter (damals in spe, Seite 80 f.) galten nicht nur ihr, glaube ich.
Seite 331 kam ich aber ins Grübeln: Tonja soll mehr Zeit für die Erziehung von „Jura“ haben. Hab ich etwas überlesen? Will sie ihren Mann erziehen? Heißt das Kind nicht mehr Sascha? Wurde der Vatername als „jetziger“ Vorname genommen? Druckfehler?
Jurjatino, der Name klingt verdächtig nach Antipova. Und natürlich, in der kleinen Stadt wird man sich nicht aus dem Weg gehen können. Die Gespräche zwischen Jurij und Lara sind zwar nicht sonderlich überraschend, aber doch aufschlussreich. Laras Worte (Seite 345, 346) gehen in dieselbe Richtung wie die von Gordon etliche Seiten vorher. Sie lassen mich einigermaßen frustriert und auch ein bisschen wütend zurück. Mehr mag ich dazu nicht sagen.
Jurij wird Tonja untreu. Und er wird „zwangsrekrutiert“. Nicht, dass ich damit sagen will, dass das in irgendeinem Zusammenhang steht. Oder doch?
Auf der Großen Straße
Das Urteil zur Ablehnung von „Doktor Schiwago“ lautete unter anderem auf „Verrat am Volk“. Das kann man sehr gut nachvollziehen bei vielen Worten, die nicht nur in diesem Kapitel zu lesen sind. Wie schon gesagt, es häuft sich jetzt doch. Vermutlich wiederspiegelt sich da auch die Gedankenlage Pasternaks, so dass die Zensoren gar so unrecht – aus ihrer Sicht natürlich – nicht hatten.
@Für die, die den Film gesehen haben:
Kommt dergleichen eigentlich auch im Film vor? Wird dort auch die Kritik deutlich, die Pasternak übt? Oder konzentriert es sich ausschließlich auf die Liebesgeschichte?
Was in diesem Kapitel berichtet wird, ist interessant, keine Frage. Aber ich merke doch, wie sehr mir der geschichtliche Hintergrund fehlt. Einiges einzusortieren fällt mir nicht leicht, ich muss sehr aufpassen, um nicht durcheinander zukommen. Wobei natürlich nicht sonderlich förderlich ist, dass Begriffe wie „Kommissare“ allzu oft hie wie da verwendet wurden. Aber egal, wie das Hin und Her sich nun darstellte, für die Bevölkerung war die Situation schlimm, sehr schlimm. Sie war immer dafür da zu büßen, egal für was, egal für wen.
Waldwehr
Partisanenführer Liberij ist kokainsüchtig. Wieso überrascht mich das eigentlich nicht?
Eigentlich schön, dass man manche Leute immer wieder trifft, diesmal (Seite 378) die im Vorigen als „schöne und üppige“ Frau bezeichnete Tjagunóva. Man ist doch immer gerne darüber informiert, wie es mit den Menschen weitergeht, die man kurz kennengelernt hat. Aber wäre es nicht der Fall, würde es ja im Grunde nur wiederspiegeln, was damals allzu oft die Regel war, Leute verschwanden und tauchten nie wieder auf.
Erstaunlich finde ich trotz der klaren Worte, die Jurij immer wieder findet, wie sehr er doch den „Weißen“ seine Sympathien schenkt: „Fast alle kamen aus Familien, die ihm geistig nahestanden. Sie waren erzogen wie er und ihm verwandt in ihrer moralischen Haltung und ihren Vorstellungen.“ (Seite 381). Das klang auch schon einmal ganz anders.