Sehr weit bin ich noch nicht in diesem Abschnitt, mir ging nur gerade etwas durch den Kopf, was ich nicht verlieren möchte:
Die Frau des Arztes hat sehr viel Mut, vielleicht, bestimmt auch mit Verzweiflung gepaart. Sie tötet, um zu helfen. Sie tötet, weil das Töten etwas verändern kann. Wann darf man töten, wann ist Tyrannenmord erlaubt? Wie Bonhoeffer sinngemäß meinte, man muss Schuld auf sich laden, um größere Schuld zu verhindern?
Die Frau ist an der Seite der Menschen, sie trägt die Schande der Frauen mit, sie teilt das Leid, weicht nicht von der Seite derer, die leiden müssen. Sie hilft, wo sie kann, mit Taten, mit Worten, mit Gesten. Kein Wunder, dass sie nicht blind ist. 
Ihr Mann ist zwar auch hilfsbereit, aber nicht in diesem Maße. Es kommt seine „Verpflichtung“ als Arzt hinzu, nämlich zu helfen. Außerdem hat er die Behören informiert, den Gang der Dinge in Bewegung gesetzt – ob er nun musste oder nicht. Kein Wunder, dass er blind wurde.
Was ich damit meine: Der Kirchen-, Bibel- und Glaubenskritiker Saramago wollte meiner Meinung nach nicht nur zeigen, wie das menschliche Verhalten sich in Extremsituationen entwickelt, er wollte auch zeigen, dass es keines Gottes, keines Gottessohnes und keines Gottesglauben bedarf, um zu herauszustellen, zu was menschliche Fähigkeit im Mitleiden, im Zurseitestehen in der Lage ist. Mit einem anderen in Schmerz und Leid zu gehen, das ist außergewöhnlich, dass er die entsprechenden Fähigkeiten der Frau so herausstellt wie er es tut, im Grunde auch. Es ist, ob man sich Saramagos Meinung nun anschließt oder nicht, glaubwürdig erzählt.
Seite 140: „Wo du hingehst, werde ich hingehen“ - ein weiterer, hier sehr deutlicher Verweis auf die Bibel (gemeint ist hier das Buch Rut). Frauensolidarität nennt man so etwas wohl heute. Auch wenn der Spruch für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr zum Trauspruch geworden ist. Man vergisst darüber zu leicht, wofür er stand.
Beiträge von Lipperin
- 
					
 - 
					Zitat
Original von made
Du meinst, weil sie sich sozusagen geopfert hat?Vielleicht wollte sie auch sterben? Weil die Situation für sie im Grunde schon unerträglich war, als sie noch nicht blind war, aber nun erst recht?
Meine Eindrücke zu diesem Abschnitt:
Die Frau ist eine ganz besondere, fast wäre ich geneigt zu sagen, von einiger Weisheit, mindestens aber von immensem Einfühlungsvermögen. Wäre sie, unterstützt von ihrem Mann, so unglaublich tätig, wären die humanen Strukturen wahrscheinlich schon eher zusammengebrochen. „Wenn wir nicht in der Lage sind, ganz wie Menschen zu leben, dann sollten wir wenigstens versuchen, nicht ganz wie Tiere zu leben“ (Seite 144), sagt sie und mir kommt es hin und wieder so vor, und nicht ganz ohne Bitterkeit, dieser Satz sollte nicht nur für die Blinden gelten.
Sie sorgt für die Ihren, wozu in diesem Fall fast der ganz Saal gehört, in dem sie ist. Mich verwundert, dass nicht häufiger die Frage aufkommt, warum sie sich so gut bewegen kann, noch mehr aber, warum nicht häufiger die Frage gestellt wird, woher sie ihre Unermüdlichkeit nimmt.Im Grund genommen bin ich jetzt an einem Punkt angekommen, an dem ich am liebsten nicht weiterlesen würde, zu sehr schmerzt mich die Unerbittlichkeit des Erzählten, auch der Sarkasmus, mit dem es teilweise vorgetragen wird. Was mich weiterlesen lässt, ist im Moment die Fähigkeit Saramagos, diese Unerbittlichkeit in Worte zu fassen (wozu hier für mich auch die unterschiedlichen Stimmen gehören).
Denn was ist eigentlich so neu an dem, was erzählt wird? Was muss man kennenlernen? Für mich: Nichts. Ist es genau das, was schon wiederholt erzählt wurde, mündlich oder schriftlich, es sind die Momente, die früher oder später in solchen Situationen auftreten, egal, ob es das Verhalten innerhalb der Gruppe oder der außerhalb stehenden Menschen betrifft. Das Herausbilden der kriminellen Strukturen, die „Unterwerfung“ in jedweder Hinsicht (als wenn nicht zumindest zu ahnen war, wohin es führen würde, wenn keine materiellen Güter zur Essensbeschaffung mehr vorhanden waren!) die immer und immer weitergehende Aufgabe moralisch/ethischen Verhaltens, die Angst, die das Verhalten des Einzelnen, der Gruppe usw. bestimmt.
Mir kam kurz der Gedanke, ob Saramago auch Warlam Schalamow gelesen hat. Auch einer, dessen Unerbittlichkeit schmerzt, wie Eiseskälte mir fast Haut und Herz zerschnitt.„Die Angst macht blind... Das sind die richtigen Worte, wir waren schon blind in dem Augenblick, in dem wir erblindet sind.“ Deutlicher kann man wohl nicht werden. Blindheit als Metapher. Diese Blindheit ist keine Krankheit, trotzdem ist sie ansteckend, so wie Angst sich verbreiten kann, zur Panik wird.
Seite 165 gibt es wieder einen Hinweis auf die Augen, in denen „vielleicht noch eine Seele existiert“ - blinde Augen, keine Seele? Herrschaft der (oder besser: einiger) Blinden, seelenlose Herrschaft? Rückverweis zu dem „Leben wie die Tiere“ und Hinweis auf die kriminelle Energie, die sich mehr und mehr aufbaut, das zumindest.
 - 
					Zitat
Original von Herr Palomar
ich finde es schön, dass dieser Roman mal wieder erwähnt wird.
Früher war er fast ein moderner Klassiker (auch bei den Eulen einer früheren Generation), heute scheint er mir nahezu vergessen.Eines der schönsten Bücher für mich. Bei mir im Regal steht es genau neben "Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen".
Aber das ist natürlich vollkommen OT.
 - 
					
Die Frau des Arztes sinniert über Namen. Welche Macht diese doch haben, welchen Schutz sie aber auch bieten, wie wahrnehmbar man durch sie wird. Aber die Frau hat in ihren Gedanken wohl recht, es wird dazu kommen, dass die Menschen sich anders verhalten werden, andere Verhaltensregeln sich durchsetzen, sie mit tierischem Verhalten gleichzusetzen, finde ich unfair den Tieren gegenüber. Allerdings: Das Recht des Stärkeren wird immer mehr die Oberhand gewinnen. Und vor allen Dingen: Es wird schnell gehen, um so schneller, je mehr Blinde dort konzentriert sind.
Und, so frage ich mich, spielen sie in gewisser Weise denen, die ihnen ach so wohl wollen, nicht in die Hände, angefangen dabei, dass sie auf Namen bzw. Namensnennung verzichten und sich selbst Nummern geben bzw. durch die Nummer ihres Bettes identifizieren? Die Parallele zu Beschreibungen aus KZs werden jedenfalls immer deutlicher, Nummern statt Namen, Essen, das nicht ausreicht, zivilisatorische Errungenschaften werden nicht einmal zum Schein aufrecht erhalten (Toiletten!), medizinische Versorgung scheint überflüssig, der Respekt geht schnell verloren (besonders zwischen Bewachern und Bewachten, es erstaunt nicht, wie schnell die Frau geduzt wird).Still kehrt ein, nicht Ruhe (Seite 88). Dass Saramago das betont – er scheint nicht allzu viel Zutrauen zur Vorstellungskraft seiner Leser zu haben. Oder will er denen, die solches kennengelernt haben, erklären, was sie hätten wahrnehmen, was sie nicht hätten vergessen sollen/nicht vergessen dürfen? Die „versprochene Hölle“ (Seite 87), sie beginnt mit neuen Menschen, die isoliert werden. Wie klar der Arzt und seine Frau das doch sehen – welche Erfahrungen (selbst angelesene) haben sie? Und die anderen?
Strukturen tun sich auf, die verstören. Es spielt für mich keine Rolle, wann die Handlung – oder wo – angesiedelt ist. In dieser Form wird es überall und zu allen Zeiten passieren, man muss nicht einmal allzu weit in die Vergangenheit zurückschauen oder in allzu weit entfernte Länder, um das wahrzunehmen. Werden wir blind? Nein, ich glaube, wir lassen zu, dass wir für blind erklärt werden. Pardon, ich meine natürlich: sie, die Menschen im Roman. Sie lassen sich für hilflos erklären, und werden beherrschbar in einem Sinne, die über die Beherrschbarkeit „Ungebildeter“ weit hinausgeht.Das einzig Beruhigende an diesem Abschnitt ist für mich, dass weder der Autodieb noch die anderen Blinden die Gewehre gesehen haben, die auf sie gerichtet waren. Wobei ich bei dem Autodieb unsicher bin. Er hat geahnt, dass er sterben wird, wie aussichtslos seine Situation ist. Ist es das Fieber, das ihm einredet, ihm könne noch geholfen werden? Sein Versuch, sein Gewissen zu beruhigen, schlägt jedenfalls fehlt.
Aber es ist beunruhigend, wie schnell es zum Töten kommt, hier zunächst beeinflusst durch Angst. Ein Vorgang, der an ein eher unbewusstes Handeln denken lässt. Wie schnell aber ist der winzig kleine Schritt zum bewussten Töten getan, „ohne falsche humanitäre Rücksichtnahme“ (Seite 127). Und am Ende wird es so sein, dass niemand die Verantwortung übernimmt, niemand hat Schuld und alles wird gut. Vielleicht wird man sich noch bemühen, ein Bauernopfer zu finden. Mehr nicht.Seite 133: „Vorurteile oder Ressentiments, die den Verstand vernebeln“ - auch eine Art, blind zu werden. Vielleicht ist es genau die Blindheit, die um die es hier geht.
 - 
					Zitat
Original von Herr Palomar
Du hast natürlich Recht!Das ist schon eine erstaunliche Erzählperspektive, die anscheinend auch noch bei Bedarf wechselt!
Mich erinnerte sie an die "Parallelgeschichten" von Nadas und ... an einige Psalmen.
 - 
					Zitat
Original von Herr Palomar
Das Verhalten der Armee hat mich geschockt. Was ist das für eine zeitgenössische Gesellschaft, die ihre Kranken so ausgrenzt und praktisch selbst überlässt?
Und man fragt sich, würde das bei uns genauso ablaufen?Was das für eine Gesellschaft ist? Eine zivile, eine, die stolz ist auf ihre Errungenschaften, auf ihre Kultur. Und die Angst hat, irgendetwas zu verlieren. Man kann wahrscheinlich noch nicht einmal davon ausgehen, dass die Beschreibung auf eine totalitäre Gesellschaft hindeutet, im Gegenteil, für mich zeigt sie, wie schnell sich totalitäre Strukturen bilden.
Im Prinzip würde es hier ganz genau so ablaufen. Man würde sich vielleicht noch die Mühe machen, ein klein wenig den Schein zu wahren, sprich, ein Blümchen in den Hof zu stellen.Mir gehen etwas während des Lesens nicht aus dem Kopf:
Ein Buch, es heißt „Zwei alte Frauen“ und ist von Velma Wallis. Eine andere Form von Ausgrenzung, weil die beiden Frauen von ihrem Stamm, ihrer Gesellschaft nicht mehr von Nutzen sind, weil sie zur Last fallen, weil nicht genug für alle da ist. Vergleichbar bedingt mit hier, mit einem wesentlichen Unterschied aber: Die Frauen bleiben gewissermaßen in ihrer vertrauten Umgebung, die Natur kennen sie und wissen sich in ihr zu bewegen und mit ihr zu leben. Anders bei Saramago, in der zivilen Gesellschaft, die Menschen werden aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen, in eine Umgebung „verpflanzt“, die jeglichen Komfort, jegliche Vertrautheit vermissen lassen, nichts ist so, wie sie es kennen und erwarten, sie müssen sich orientieren in einer Welt, die auf einmal hell und grell für sie ist und die in Kombination mit der „Massenhaltung“ (tut mir leid, ein anderer Begriff fällt mir da nicht mehr ein) ein Gefühl der Ohnmacht, aber auch des Ausgeliefertseins und der Überwachung vermittelt, wohl auch vermitteln soll. Alles unter Kontrolle, sozusagen, um zu kaschieren, dass nichts unter Kontrolle ist. - 
					Zitat
Original von Clare
Ich denke nach wie vor, dass man die dort eingepferchten Blinden zum guten Teil vergessen hat im Sinne von "erst einmal untergebracht, und dann sehen wir weiter!. Das "dann sehen wir weiter" hat sich wahrscheinlich als das größte Problem erwiesen. Zum Zeitpunkt der Unterbringung schienen die Behörden noch zu glauben, dass man die Epidemie so eindämmen könnte, den Schaden klein halten könnte. Man rechnete vielleicht nicht damit, dass eben auch diese Behörden erheblich dezimiert werden würden und sich schlicht und ergreifend niemand mehr um die Isolierten kümmern könnte. Das meine ich mit vergessen. Wenn ich an meinem Schreibtisch urplötzlich erblinde, dann denke ich eben an keine Putzkolonne.
 
 
 - 
					Zitat
Original von Regenfisch
Mir kam beim Lesen noch der Gedanke, ob das Erblinden als eine Art Gleichnis zu verstehen ist, ähnlich wie im Neuen Testament. Man kann z.B. die Blindheit des Bartimäus auch als eine geistige Blindheit deuten, die in dem Moment aufgelöst wird, als er sich zu Jesus bekennt. Hier ist es nur umgekehrt. Die Erblindeten könnten quasi vor etwas ihre Augen verschließen.
Meine Gedanken! Danke, dass Du sie ausgesprochen hast.

 - 
					Zitat
Original von SiCollier
@ Rumpelstilzchen
Na ja, das hatte Lipperin ja quasi vorausgesagt!Nun ja, es war aus meiner Sicht die einzig mögliche logische Entwicklung.
Andererseits hätte es ja auch Lydia "treffen" können, sie wäre dann nach meiner Meinung ebenso allein geblieben und hätte vielleicht eine Parallele zu Mrs. Oldershaw nehmen können, nur das die dann eben "echt" gewesen wäre.ZitatMich stört zum Beispiel, daß der Doktor völlig ungeschoren davon kommt, im Gegenteil noch profitiert. Und Mrs Oldershaw lebt auch munter weiter, während Lydia eigentlich als einzige büßen muß.
Ja, so etwas stört immer, ob im 19. Jahrhundert, im 21. oder wer weiß wann, ob im Roman oder ... wo auch immer.
 - 
					Zitat
Original von SiCollier
Bei mir S. 256 (1. Kapitel, Mrs. Milroy):
Doch wir leben in einem Zeitalter, das für alle menschlichen Schwächen sofort die dazugehörige Entschuldigung findet.
Da mußte ich erst mal überlegen, ob das Buch wirklich Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde.Nur an dieser Stelle?
 Ich hatte öfter den Eindruck. - 
					Zitat
Original von made
Und jetzt spinne ich mal den Gedanken noch etwas weiter:
Beabsichtigt der Autor eine Art Vernebelungstaktik, ganz dem Titel angemessen? Der Leser fühlt sich genauso in einem "milchigen Meer" wie die Blinden. Deshalb auch keine Namen?
Oder ist das viel zu weit hergeholt?Für mich nicht, ich hatte ähnliche Gedanken.
 - 
					Zitat
Original von made
Die Namenlosigkeit ist Anfang des zweiten Abschnitts nochmal Thema.Aber ich verstehe das nicht so recht. Man gibt doch nicht seine Identität ab, wenn man blind wird.
Man nicht, aber es kann durchaus gesehen, dass sie einem abgenommen wird.
Mein Eindruck zu diesem Abschnitt:
Ganz überrascht bin ich, wie gut mir das Buch nach diesem ersten Abschnitt immer noch gefällt. Nach meinen bisherigen, besonders den „Kain“-Erfahrungen hatte ich damit nicht unbedingt gerechnet, aber hier wird mir fast deutlich, warum unter anderem Herr Palomar so begeistert von Saramago ist.Der Text liest sich auch überraschend flott, obwohl ich hier den Stil eigenwillig, aber trotzdem sehr eindeutig finde. Zu erkennen, wer denn gerade rede, bereitete mir keine Schwierigkeiten, so sehr unterstützt meiner Meinung nach das Ineinander die Dringlichkeit des Gesprächs der unterschiedlichen Personen. Manchmal tauchte zwar bei mir das Gefühl einer gewissen Gehetztheit auf, andererseits hatte ich den Eindruck, die Personen seien nicht nur im Grunde austauschbar (daher das nicht direkt Abgegrenzte des Sprechens?), sondern wirken wie „durch Watte“ beschrieben. Ein seltsamer Eindruck. Wobei die größte Aufregung (positiv gemeint) eigentlich die „gesellschaftlichen Beobachtungen“ verursachen. Dass ist eigentlich das, was meinen Lesefluss etwas hemmen kann: Dass ich erst mal darüber nachdenken muss, wie recht Saramago doch oft, allzu oft hat (zum Beispiel Seite 25, der seltsame Vergleich mit einem Beichtstuhl, oder seine bzw. des Erzählers Bemerkungen über die „Komplexität gesellschaftlicher Beziehungen“ Seite 36 – wobei ich glaube, dass sich das als Thema des Buches herausstellen wird).
Die Blindheit ist erschreckend, nicht nur in ihrer Plötzlichkeit, sondern auch in ihrer Farbe: Weiß. Ist es eigentlich wirklich Blindheit? Wenn ja: Wäre die Schwärze dann nicht im Grunde besser zu ertragen, weil, so wie das Weiß besonders Seite 15 geschildert wird, es immer den Eindruck vermittelt, es könne die Realität nicht nur nicht sichtbar, sondern wirklich zum Verschwinden bringen – das Weiß als eine Art gefräßiges Wesen, je mehr es bekommt, desto mehr will es? Und warum Weiß, ausgerechnet die Farbe der Unschuld (zumindest sagt man in der westlichen Welt, in anderen Ländern steht sie auch für Trauer)? „Für mich ist es, als gäbe es keine Nacht“ (Seite 19) – das trägt für mich zum Gefühl der Beängstigung, gewissermaßen auch der Bedrohung bei. Letztlich wird es dann keine Ruhe mehr geben. Man erinnert sich nur zu deutlich an Berichte aus Gefängnissen und KZs, an die fortwährende Helligkeit als besondere Art der Folter. Jedenfalls trifft dieser Zustand, den wir der Einfachheit halber weiter Blindheit nennen, ohne Ausnahme. Sie macht keinen Unterschied. Hat das, was als „Ansteckung“ durchzugehen scheint, eventuell andere Gründe? Auslöser eher Angst vor der Ansteckung als jene selbst?
Die Formulierungen Seite 38, mit denen die Frau auf ihrem Weg zur Verabredung beschrieben wird, besonders „Sünde und das Laster sind so begünstigt vom Glück ...“ lassen mich darüber nachdenken, ob sie etwas spürte, was sie aber nicht wahrhaben wollte, schließlich hatte sie ja eine Augenkrankheit. Wenn es so sein sollte, würde ich die Unterschiede zwischen den hier beschriebenen Männern und Frauen sehr interessant finden: Die Männer sagen, schreien sofort „ich bin blind“, die Frauen (auch wenn eine von ihnen lügt, wenn sie es behauptet) erst, wenn sie in eine Situation geraten, in der es angezeigt ist, sich dazu zu bekennen.
Was mir noch in den Sinn kam: Die Krankheit ist ohne Zweifel eine Katastrophe, aber das, was die Benachrichtigung der Behörden auslöste, auch. Es setzt sich eine Maschinerie in Gang, die ebenso beängstigend klingt. Schutz der Allgemeinheit – und wer schützt die Kranken? Sie sind sich selbst überlassen, sind ausgesondert, abgeschottet, bewacht. Man darf gespannt sein, ob irgendwann auch die Kosten, die auflaufen, zur Sprache kommen. Die Beschreibung der Irrenanstalt (wieso ein solches Wort – oder ist es genau das treffende, weil die Abschottung dazu führen wird, dass die Kranken zu wahren Bewohnern einer solchen werden, die Anstalt also letztlich ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt wird?) und des Regelwerks bedrückt und erschreckt. Sie haben Parallelen, keine freundlichen, ich nannte sie schon in einem anderen Absatz. Die Kranken haben keinerlei Rückzugsmöglichkeiten, sie bleiben sich überlassen, müssen sich organisieren. Es werden sich neue Strukturen bilden (müssen), neue „gesellschaftlichen Beziehungen“, die in ihrer Komplexität denen in der Welt „da draußen“ in nichts nachstehen werden. Mit dem Unterschied wahrscheinlich, dass sie sich wesentlich schneller ändern können und werden.
Meine Seitenzahlen beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe mit dem überaus interessanten Cover. Ginkoblätter. Die hätte ich in diesem Kontext (na gut, wie viel habe ich bisher gelesen?) eher nicht erwartet.
 - 
					Zitat
Original von Herr Palomar
weiß nicht, ich fand Kain zwar OK, aber ganz sicher ist es keins von Saramagos besten Büchern!Ups, Entschuldigung, hätte ich vorher nachschauen können, nicht wahr?
Bei mir ist es gleich aussortiert worden, die Empfängerin (eine Diakonisse!!) hat sich darüber gefreut, was auch heißt, dass sie es gerne gelesen hat. - 
					Zitat
Original von Rumpelstilzchen
Zur Einstimmung habe ich mich verleiten lassen, Saramagos: Evangelium nach Jesus Christus zu lesen. Auch wenn es schwer zu lesen ist, morgen werde ich fertig.Wenn es Dir gefallen hat, kannst Du gleich mit seinem "Kain" weitermachen. Herr Palomar war, wenn ich mir recht erinnere, angetan von dem Buch. Ich hatte allerdings meine Schwierigkeiten. Drum starte ich ja auch einen neuen Saramago-Versuch.
 - 
					Zitat
Original von SiCollier
Ich werde es wohl auf jeden Fall zu Ende lesen, und dann vermutlich die Finger von weiteren Collins-Büchern lassen.Das kann ich sogar verstehen, wenn auch aus anderen Gründen. Aber für mich habe ich immerhin entdeckt, dass es eine andere Art von Gewinn bringen kann, sich mit seinen Strukturen etc. zu beschäftigen.
ZitatWenn ich hier im Buch deutlich weiter bin, melde ich mich nochmals. Vielleicht liest dann ja noch jemand mit.
Hier bleibst Du, glaube ich, nicht alleine.
ZitatUnd hoffentlich ist dann mein verletzter Finger wieder verheilt, so daß es mir leichter fällt, die Tastatur zu bedienen.
Gute Besserung *pustpust*!

 - 
					
Wohin gehören Briefwechsel? Da ich keine passendere Rubrik gefunden habe, sortiere ich es hier ein.
Das Buch:
Kartoniert, insgesamt 96 Seiten, augenfreundlicher Druck.
Nach einem Vorwort von Hinrich Stoevesandt der Briefwechsel, darin einige Abbildungen, ein Gedicht („Den Vätern ins Stammbuch“) Zuckmayers sowie von Barth die „Lebensregeln für ältere Menschen im Verhältnis zu jüngeren“. Abgeschlossen wird der Band von einem Brief Zuckmayers an Eberhard Busch (Schüler, Sekretär und Mitarbeiter, Freund und Biograf Barths) und seinem „Bericht von einer späten Freundschaft“, der im Januar 1970 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurde, sowie Anmerkungen von Hinrich Stoevesandt.Meine Meinung:
Muss man sie vorstellen, die beiden Briefpartner? Carl Zuckmayer, geboren 1896, gestorben 1977, etwa, den Schöpfer des „Schinderhannes“, „Des Teufels General“, des „Fröhlichen Weinbergs“ und Autors von „Als wär’s ein Stück von mir“? Karl Barth (geboren 1886, gestorben 1968) heute vielleicht schon eher: Ein großer und streitbarer Theologe, der daran erinnern musste, wer Gott sei und wer der Mensch, der nicht Ruhe gab in seinem Fragen an und nach Gott, der Kirche und dem Menschen, der sich engagierte im Widerstand, sei es in der Zeit des Nationalsozialismus, sei es später unter anderem in der Friedensbewegung.
Der Name Stoevesandt ist Interessierten der Thematik „Bekennende Kirche“, „Kirchenkampf“, dem Briefwechsel Karl Barths und vielleicht auch der protestantischen Theologie ein Begriff; Karl Stoevesandt war Barth freundschaftlich verbunden, es ist sein Sohn Hinrich, Theologe und langjähriger Leiter des Karl-Barth-Archivs, der für Vorwort und Anmerkungen sorgte.Er war ein Briefeschreiber vor dem Herrn, der Karl Barth, der, so scheint - und wohl nicht nur – mir, süchtig war nach Dialog, nach einem Gesprächspartner, der das Gegenüber brauchte wie die Luft zum Atmen. Am 16.05.1967 begann er ein neues Gespräch, schrieb er also einen Brief, seinen Dank für Buch und Lektüre dem Autor von „Als wär’s ein Stück von mir“ aussprechend. Er hält es für nötig – oder kokettiert er? -, Zuckmayer darüber aufzuklären, wer er denn sei, seinen Namen, so gesteht er ihm zu, habe er „vielleicht nur gelegentlich gehört“ (Seite 11), dann eben vergessen. So gibt er sich selbst die Möglichkeit, in schöner, aber nicht zu ausufernder Ausführlichkeit, die immerhin neugierig machen könnte, sich darzustellen. Und zum Beweis, er sei auch Autor, legt er zwei Bücher bei, unter anderem das über Mozart. Und damit beginnt ein munterer Austausch von Briefen, der nur ein Jahr dauern kann; der letzte Brief von Zuckmayer vom 06.10.1968 erreichte Barth kurz vor seinem Tod am 10.12.1968.
Zweimal haben sie sich getroffen, ansonsten lebte diese besondere Freundschaft in den Briefen. Was mir ganz erstaunlich ist: Wie schnell diese beiden Briefpartner vom puren Höflichen zu einem wirklichen Gespräch kamen, wie schnell sie Problematiken erörterten, die einerseits der Zeit verhaftet waren, andererseits um Glauben, Theologie und Liturgie und Werk sich drehten. Sie waren intellektuell wahrscheinlich ebenbürtig, zumindest nicht weit auseinander, sie waren aneinander und an dem, was der Andere zu sagen hatte, interessiert. Es berührt, Barth dabei zuzuhören, wie er Zuckmayers Glauben zu „berichtigen“, vielleicht auch zu lenken bzw. zu verdeutlichen sucht, wie beide über ihr Wohl- oder Krankheitsbefinden parlieren, über Alter bzw. Älterwerden und Jugend, über Schriftsteller wie Raabe und Sartre oder Reisen sich austauschen. Es ist ein Briefwechsel, der erkennbar von Männern verfasst wurde, die im Herbst ihres Lebens stehen, sich ihres Wertes bewusst sind und das Hören auf den Anderen nicht verlernt haben. Gleichwohl hatte es für mich fast durchgehend den Anschein, dass Barth „die Richtung“ vorgebe, „tiefer“ gehe und dadurch auch durchdachte und nicht einfach hingeschriebene Antworten einforderte.
Die Briefe leuchten, trotz des mir so nüchtern erscheinenden Tons, in dem sie verfasst sind, auf eigene Weise. Die Empathie ist deutlich spürbar, auch wenn Barth Zuckmayer das eine oder andere Mal zu berichtigen weiß. Sie sind, ich wiederhole mich, berührend, auch wenn dieses Berühren dem Leser vielleicht – wie das bei mir der Fall war – nicht immer angenehm ist.
Die Briefe sind Gespräch, privates Gespräch. Andererseits wurden sie aufbewahrt, dokumentiert, archiviert. Die Briefe Barths an Zuckmayer wurden schon früher veröffentlicht (Gesamtausgabe, Abteilung V, „Briefe 1961 – 1968“). Die Veröffentlichung des vollständigen Briefwechsels erfolgte 1977 nach Zuckmayers Tod. Dieses Einerseits und Andererseits hat mich in manchen Teilen von Barths Briefen – hier wie in anderen Briefbänden – oft darüber nachdenken lassen, wie viel ausschließlich für den Briefpartner und wie viel schon im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung formuliert wurde. Ganz besonders wurde mir die Frage präsent, als es um die Thematik des Widerstandes gegen Hitler, gegen den Nationalsozialismus ging. Zuckmayer berichtete in einem Brief von 10.04.1968 über den Plan einer entsprechenden Arbeit, er fragte nach Bonhoeffer, nach Delp (Seite 42). Die Antworten Barths (Briefe vom 07.05.1968, besonders Seite 53, und vom 29.06.1968, besonders Seite 66 f.) haben mich gelinde gesagt unangenehm berührt. Hätte er – Barth – sich nur und nicht unbedingt positiv über Bonhoeffer geäußert, dessen kritische Auseinandersetzung (an der Thematik Interessierten genügt wahrscheinlich das Stichwort „Offenbarungspositivismus“) Barth vielleicht nicht gleichgültig gewesen ist, obwohl sie sich doch auch in ihrem Denken befruchteten, hätte mich der Gleichmut nicht verlassen. Barth-Leser und -Hörer werden sich an das eine oder andere Wort erinnern, das Bonhoeffer galt und nicht nur von purer Freude über den Kollegen, sein Denken und sein Wirken, erst recht seine Wirkung zeugte.
Es war nicht der „erste Schmerz“, den Barth mir versetzte, „der aber traf“ (Adelbert von Chamisso) ganz besonders, nämlich seine Ansicht über das Erinnern an den Widerstand, der immerhin beinhaltete, Zuckmayer zum Überdenken seines Planes zu bringen. „Bis auf bessere Belehrung selbstverständlich“ – das wenigstens gesteht er zu. Seine Begründung dazu ist, so scheint mir, nur scheinbar der tagespolitischen Aktualität geschuldet (die Stichworte unter anderem „Vietnam, Biafra“ und „Bonn“ sollten seine Argumentation stützen), seine Ablehnung scheint mir doch tiefer zu gehen und das hat eben doch auch wieder mit dem Namen Bonhoeffer zu tun. Dessen Engagement, das ihn unter anderem wiederholt in die Schweiz und auch zu Barth führte, verstand dieser vielleicht nicht oder nicht als das, was es war, nämlich auch praktizierte Mitmenschlichkeit. Das Ringen des (ausdrücklich auch von Barth gegenüber Zuckmayer angesprochenen) Kreisauer Kreises um Wesen und Möglichkeit des Widerstands gegen zutiefst als falsch Erkanntes bis hin zur Frage des Tyrannenmords, die Frage und der Plan nach einem „Nachher“, nach tragfähigen (und muss man nicht hinzufügen: menschenfreundlichen?) Strukturen, sind das wirklich Themen, die einem Theologen gerade 1968 gleichgültig sein konnten?Das Buch habe ich - trotz des vorstehend Gesagten – wiederholt und mit Gewinn gelesen. Karl Barth widmete sich in seinen Briefen ganz dem Gegenüber. Und doch erscheint es mir oft, als wenn nicht nur hin und wieder ein Moment aus seinem Leben, Denken und Wirken in ihnen anklingt, was für Leser, die Barth nicht kennen, kaum erkennbar sein wird, das wird, so glaube ich, auch für Zuckmayer gelten. Dass er sich trotzdem beschenkt fühlte, wird deutlich.
Haben sich da also Zwei gesucht und gefunden? Diese späte Freundschaft im Leben Barths scheint verblüfft zu haben, nicht zuletzt Barth selbst. Mir kam es ganz besonders für Barth wie ein unverhofftes Geschenk vor, dass sich diese neue Gesprächsfreundschaft auftat. Denn: 1967, da machte sich Barth schon Sonntag für Sonntag auf und das seit einem Jahr, um Charlotte von Kirschbaum zu besuchen, die aufgrund einer Krankheit (ob man sie nun Gehirnzersetzung, Alzheimer oder Demenz zu nennen hat, scheint strittig zu sein, wird aber letztlich zu nichts führen, die Auswirkungen waren verheerend) in einem Heim untergebracht war, jene Frau, die sehr lange Jahre mehr als seine Assistentin, vielmehr seine Vertraute, Dialogpartnerin und Hausgenossin war. Barth scheint mir jemand gewesen zu sein, der nicht nur den Dialog brauchte, sondern in ganz erheblichem Maße zur Freundschaft befähigt war. Nun wäre zwar Zuckmayer, so glaube ich, niemals in der Lage gewesen, das Gespräch mit von Kirschbaum zu ersetzen, aber es tat sich eine neue Möglichkeit auf, die sich für Barth immens darstellende Lücke vielleicht nicht ganz so groß erscheinen zu lassen. Das mindert nicht im Mindesten den Wert der Briefe, ist mir nur ein weiteres kleines Detail zum Verstehen des Menschen Karl Barth.Und Zuckmayer? Er präsentiert sich in den Briefen genau so, wie ich es aus der Lektüre einiger seiner Bücher erwartet habe. Ein wenig besser meine ich ihn schon kennengelernt zu haben. Er bleibt für mich eine unverzichtbare Stimme der deutschsprachigen Literatur.
Karl Barth wird, auch wenn der Riss im Lack sich ein klein wenig vertieft hatte, doch einer meiner „unverlierbaren Toten“ (Hilde Domin) bleiben.---
 - 
					
Alfred Döblin; November 1918 – Verratenes Volk; 2
Wilkie Collins; Der rote Schal; 3; Leserunde
Charles Dudley Warner; Mein Sommer im Garten; 2,6
Friedrich Dieckmann (Hrsg.); Stimmen der Freunde – Gerhard Wolf zum 85. Geburtstag; 2
Max Frisch; Aus dem Berliner Journal; 2
Jo Jong-Rae; Land der Verbannung; 1,5
Michael Laub; Tagebuch eines Sturzes; 2
Volker Weiderman; Ostende 1936, Sommer der Freundschaft; 2
Soma Morgenstern; Joseph Roths Flucht und Ende; 1,5; Monatshighlight - 
					Zitat
Original von Clare
Aber nun, wir lesen keine Georgette Heyer hier sondern Collins
Georgette Heyer musste ich erstmal recherchieren.

Bildungslücke...Bei den Querbeet-LR kann man immer wieder etwas lernen!
Tsetsetse, das hätte ich nicht erwartet

Wenn ich mich recht erinnere, waren ihre Bücher aber immer ziemlich amüsant. Was mir unvergesslich ist, ist eine ihrer ... äh ... nicht mehr ganz so jungen, unverheirateten
FrauenDamen, die sich vor Küssen ekelte :wow, bis sich mal ein Herr erbarmte ... (keine Ahnung, wie das Buch hieß, ist zu viele Ewigkeiten her, als ich es gelesen habe).Edit bemängelt wieder einmal meine Zitier-Fähigkeiten.
 - 
					Zitat
Original von Clare
Auf seine Hautfarbe von Midwinter scheint niemand direkt zu reagieren. Oder war es nur, auch schon damals, unfein darüber zu schreiben?

Warum gibt Collins einer Hauptfigur dann diese Hautfarbe?Vielleicht musste Midwinter diese andere Hautfarbe haben, um seine Ausgegrenztheit noch zu betonen? Erinnert ihr euch an die klägliche Frage seiner Mutter an den Vater, ob die andere Frau "eine Weiße" sei? Manchmal habe ich den Eindruck, Collins reichten so kleine Bemerkungen, damit seine Leser ihn verstanden - und wir eben heute nicht mehr so genau. Ich glaube aber doch, dass die "Kleinbürger" und "Moralprediger" Midwinters Verhalten, sein Anderssein etc. auch an seiner Hautfarbe (Seite 74 TB-Ausgabe spricht von seinem "dunklen Teint" und den "großen, glühenden Augen"), egal wie ausgeprägt sie nun gewesen sein mag, festmachten.
 - 
					Zitat
Original von Clare
Ich denke auch, dass Lydia hätte eine ganz andere Entwicklung nehmen können, wenn sie zur rechten Zeit den richtigen Mann (ja genau, das war damals so) geheiratet hätte. Sie war intelligent, und ihr Geist lechzte geradezu danach hervorzutreten und sich Bahn zu machen. Ihre Energien in positive Richtungen gelenkt hätten viel bewegen können, auch für Andere. Schade um sie!
Sie hätte sie nur nie einen Fehler erlauben dürfen, dann hätte die Gesellschaft sie spüren lassen, dass sie nicht "aus dem richtigen Stall" kommt.